Nr. 6/2005
Identifizierende Berichterstattung

(X. c. Tele M1) Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 11. Februar 2005

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I. Sachverhalt

A. Der Lokal-TV-Sender Tele M1 berichtete am 16. Juni 2004 in einer bebilderten Kurzmeldung über ein gegen X. geführtes Strafverfahren wegen des ihm vorgeworfenen sexuellen Missbrauchs seiner Tochter. Die Moderatorin nannte einleitend die Staatsangehörigkeit, den Vornamen und den ersten Buchstaben des Nachnamens sowie das Alter des Angeschuldigten und wies auf die Hauptverhandlung im Strafprozess hin, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt werde. Weiter zeigte Tele M1 den unkenntlich gemachten Angeklagten auf dem Weg zum namentlich genannten Gericht und illustrierte die gegenüber ihm erhobenen Vorwürfe symbolisch mit einer nachgestellten Szene. Weiter informierte der Sender, der Staatsanwalt beantrage eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren Zuchthaus und 10 Jahren Landesverweisung, während der Angeschuldigte die Vorwürfe bestreite. Das Urteil werde in einigen Tagen erwartet.

B. Mit Beschwerde vom 7. Juli 2004 gelangte X. durch seinen Strafverteidiger mit einer Beschwerde gegen den von Tele M1 ausgestrahlten Kurzbericht an den Presserat. Zwar habe der Privatsender versucht, die Person von Herrn X. zu anonymisieren. Durch die Angabe von Vorname und erstem Buchstaben des Nachnamens in Verbindung mit den ausgestrahlten Bildern sei jedoch offensichtlich geworden, dass es sich um ihn handle. Er habe daraufhin auch mehrere Telefonate aus dem Bekanntenkreis erhalten. Dies gehe schon deshalb nicht an, weil bis anhin noch keine erstinstanzliche Verurteilung vorliege. Und selbst bei einer Verurteilung müsste die Persönlichkeit besser geschützt werden. Auch der Beitrag an und für sich mit nachgestellten Szenen zeige, «dass der Beitrag keineswegs ausgewogen und nur zur Information, sondern aus einer Sensationslust heraus erstellt wurde, wobei die Machart als besonders reisserisch zu bezeichnen ist».

C. Mit Stellungnahme vom 12. September 2004 machte die Redaktion von Tele M1 geltend, die Privatsphäre von Herrn X. mit ihren Bemühungen um die Anonymisierung respektiert zu haben. «Sollte es tatsächlich so sein, dass auch für einen weiteren Bekanntenkreis des Beschuldigten durch den Bericht offensichtlich wurde, dass gegen Herrn X. ein Strafverfahren läuft, würden wir dies bedauern und wären auch bereit, uns bei ihm in geeigneter Form zu entschuldigen. Darüber hinaus sei die Kurzmeldung weder reisserisch gewesen, noch habe die Redaktion aus «Sensationslust» gehandelt. Im Off-Text zum Bericht sei zudem erwähnt worden, dass Herr X. sämtliche Vorwürfe bestreitet. Nach einem Gespräch mit dessen Rechtsvertreter habe man zudem beschlossen, folgende Massnahmen einzuleiten: «1. Entschuldigungsschreiben an Herrn X. 2. Erlass einer Weisung, die bestimmt, dass künftig mit der Namensnennung von Angeschuldigten zu ihrem Schutz noch sorgfältiger umgegangen werden muss. Werden Vornamen oder Initialen gebraucht, sollen diese künftig noch mehr anonymisiert werden. 3. Diskussion des Themas Ðnachgestellte Szenenð: Diese sollen künftig sensibler gestaltet und noch sparsamer als bis anhin eingesetzt werden.»

D. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

E. Am 14. September 2004 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium, bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer sowie den Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever und Esther Diener-Morscher behandelt.

F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 11. Februar 2005 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Der Beschwerdeführer hat der Eingangsbestätigung des Presseratssekretariats nicht widersprochen, in der dieses darauf hinwies, dass sich die Beschwerde offensichtlich auf die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Persönlichkeitsschutz) und insbesondere auf die zugehörigen Richtlinien 7.5 (Unschuldsvermutung) und 7.6 (Namensnennung) beziehe. Dementsprechend beschränkt der Presserat seine Erwägung auf die Prüfung einer allfälligen Verletzung dieser berufsethischen Normen.

2. Laut der Richtlinie 7.5 zur «Erklärung» ist bei der Gerichtsberichterstattung der Unschuldsvermutung Rechnung zu tragen. Gemäss der Praxis des Presserates (vgl. dazu u.a. die Stellungnahmen 60 und 61/2003) wird der Unschuldsvermutung allerdings Genüge getan, wenn ein Medienbericht darauf hinweist, dass eine Verurteilung noch nicht oder noch nicht rechtskräftig erfolgt ist. Wie auch der Beschwerdeführer anerkennt, wies der beanstandete Medienbericht darauf hin, dass ein Urteil erst in einigen Tagen zu erwarten sei. Eine Verletzung der Richtlinie 7.5 zur «Erklärung» ist dementsprechend zu verneinen.

3. a) Die Richtlinie 7.6 (Namensnennung) zur «Erklärung» hält fest, dass «Journalistinnen und Journalisten grundsätzlich weder Namen nennen, noch andere Angaben machen, die eine Identifikation einer von einem Gerichtsverfahren betroffenen Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden.» Die Richtlinie 7.6 nennt zudem auch die Voraussetzungen, die eine identifizierende Berichterstattung ausnahmsweise rechtfertigen. Vorliegend beruft sich die Redaktion von Tele M1 nicht auf eine solche Ausnahme. Vielmehr ist zwischen den Parteien umstritten, ob die im Kurzbericht vom 17. Juni 2004 enthaltenen Angaben überhaupt eine Identifikation von X. über sein engstes Umfeld hinaus ermöglichte.

b) Der Presserat hat jüngst in der Stellungnahme 66/2004 festgehalten, dass ein Medienbericht, der mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit den Bewohnern eines Quartiers die Identifikation erlaubt, über den in der Richtlinie 7.6 genannten Kreis des näheren beruflichen und sozialen Umfelds hinausgeht. Vorliegend ist aufgrund des nicht häufigen Vornamens des Beschwerdeführers in Kombination mit dem ersten Buchstaben des Nachnamens, des Namens des Gerichts und des Alters des Beschwerdeführers ebenfalls davon auszugehen, dass aufgrund des Medienberichts auch Personen von den gegenüber ihm erhobenen strafrechtlichen Vorwürfen Kenntnis erhielten, die bis dahin noch nichts davon gewusst hatten. Der Presserat hat zudem bereits in seiner grundsätzlichen Stellungnahme zur Namensnennung 6/1994 darauf hingewiesen, dass die Verwendung des Vornamens zusammen mit dem ersten Buchstaben des Nachnamens häufig eine Identifikation erlaubt und deshalb keine genügende Anonymisierung gewährleistet. Hätte Tele M1 lediglich die Initialen oder noch besser geänderte Initialen oder ein als solches deklariertes Pseudonym verwendet, wäre die Gefahr einer Identifikation durch Dritte wesentlich geringer gewesen. Mit der gewählten, ungenügenden Anonymisierung hat der Sender jedoch die Richtlinie 7.6 zur «Erklärung» verletzt.

4. Soweit X. darüber hinaus sinngemäss die Ziffer 7 der «Erklärung» durch den aus einer «Sensationslust» heraus erstellten «reisserischen» Bericht verletzt sieht, weist der Presserat die Beschwerde unter dem Gesichtspunkt der Respektierung der Privatsphäre des Beschwerdeführers ab. Zwar ist die Verwendung von nachgestellten Szenen zu sensiblen Themen berufsethisch heikel (Stellungnahme 18/2000). Im konkreten Fall ist sie aber nicht als bildlich-ästhetische Verniedlichung verbrecherischen Handelns zu bewerten. Ebensowenig geht der Kurzbericht von Tele M1 – sieht man von der oben gerügten ungenügenden Anonymisierung ab – insgesamt über eine berufsethisch zulässige Darstellung der gegenüber dem Beschwerdeführer erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe und der Position der Parteien hinaus.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. Tele M1 hat den Kurzbericht vom 17. Juni 2004 über das gegen X. geführte Strafverfahren ungenügend anonymisiert und damit die Richtlinie 7.6 (Namensnennung) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.