I. Sachverhalt
A. In den «Oberthurgauer Nachrichten» schrieb am 27. Juni 2002 Redaktionsleiter Charly Pichler unter dem Titel «Mechmed Z. liebt unsere Gesetze» über einen im Thurgau lebenden Asylbewerber, der als Sozialfürsorge monatlich 6180 Franken beziehe. Geschildert wird der Fall eines «Asylsuchenden aus dem Balkan», den ein Schlepper 1993 illegal in die Schweiz bringt, der seine Papiere wegwirft und seine Herkunft verleugnet, sich als invalid ausgibt und letztlich der Ausweisung entgeht, weil seine Frau schwanger ist. Der Artikel rechnet schliesslich vor, wie Familie Z. mit inzwischen fünf Kindern auf die erwähnten 6180 Franken von der Sozialbehörde ihrer Thurgauer Wohngemeinde kommt.
B. Am 17. März 2003 erhob der Chef des Departements für Finanzen und Soziales des Kantons Thurgau, Regierungsrat Roland Eberle, beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen Charly Pichler wegen einem Zweitabdruck des Artikels über Mechmed Z. -in den «Wiler Nachrichten» vom 15. August 2002 – und dessen Leitartikel «Ein neues Asylgesetz muss her» in den «Thurgauer Nachrichten» vom 7. November 2002, in dem neben anderen wiederum kurz der Fall Z. referiert wird. Für Eberle stellt der Leitartikel «den angeblichen Fall in den Zusammenhang mit der damals bevorstehenden Abstimmung über die Asylinitiative. Beide Artikel dienen offenkundig der generellen Stimmungsmache gegen Asylbewerber einerseits und gegen Behörden andererseits, denen eine large Haltung gegenüber Fällen von Asylmissbrauch unterstellt wird». Der Beschwerdeführer sieht das der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» zugrunde liegende Prinzip der Fairness verletzt sowie die folgenden Punkte:
Ziffer 1 (Wahrheitspflicht): Trotz Abklärungen diverser Behörden bei Kanton und Bund kenne niemand den Fall. Deshalb bestehe der «dringende Verdacht einer konstruierten, rein fiktiven Geschichte».
Ziffer 3 (keine Tatsachen entstellen): Auch dagegen verstosse der Artikel über den Fall Z. Sorgfaltswidrig sei zudem die Konstruktion eines Falls zum Zweck der Untermauerung eines politischen Standpunktes (der Befürwortung der Asylinitiative und eines neuen Asylgesetzes).
Ziffer 5 (Berichtigungspflicht): Der Generalsekretär des Thurgauer Departements für Justiz und Sicherheit hatte Pichler darauf hingewiesen, dass es sich bei den 6180 Franken nicht um Sozialhilfe handeln könne, sondern, wenn schon, um Leistungen der Invalidenversicherung. Pichler habe zugesagt, zu versuchen, seinen Artikel in diesem Sinne in einer nächsten Ausgabe zu präzisieren. Was er aber unterliess.
Ziffer 8 (Menschenwürde, Diskriminierung): «Mit der Wahl eines ÐAsylsuchenden aus dem Balkanð und der bewussten Verwendung Ðtypischerð Missbrauchsmerkmale (…) missachtet Herr Pichler die Menschenwürde und diskriminiert Menschen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft.»
C. Mit Schreiben vom 23. April 2003 beantragt Charly Pichler, die Beschwerde gegen ihn sei abzuweisen, da Regierungsrat Eberle nur Mutmassungen äussere und keine schlüssigen Beweise für eine erfundene Berichterstattung vorlegen könne. Pichler macht unter anderem Folgendes geltend: Sein Hauptinformationsgeber seit Frühling 1993 für die Artikel über Asylmissbrauch sei Leiter einer Sozialbehörde in einer Thurgauer Gemeinde, indirekt also dem Departement Eberle unterstellt. Der habe ihm jeweils Dokumente aus dem PC ausgedruckt und zur Abschrift vorgelegt. Selbstredend anonymisiere er die Angaben, um sowohl Informant wie Asylbewerber zu schützen.
Zu den einzelnen Vorwürfen der Beschwerde bringt der Beschwerdegegner vor:
Zu Ziffer 1 der «Erklärung»: Seine bzw. die Angaben seines Informanten stimmten. Eberle behaupte nur, beweise nichts.
Zu Ziffer 3 der «Erklärung»: Eberle behaupte wiederum, der Artikel über Mechmed Z. sei nur geschrieben worden, um Stimmung gegen Asylbewerber zu machen und die Abstimmung zu beeinflussen. Er habe den Artikel aber sofort veröffentlicht, kaum hatte er die Information erhalten, und zwar am 27. Juni 2002, also Monate vor der Abstimmung vom 24. November. Zudem stünde es ihm frei, gegebenenfalls seine politische Haltung einfliessen zu lassen, wie dies andere Blätter auch täten.
Zu Ziffer 5 der «Erklärung»: Die Richtigstellung bezüglich IV-Leistung statt Sozialhilfe habe er unterlassen, weil er sie für wenig relevant gehalten habe und sie im Vorweihnachtsstress unterging. Er sei bereit, sich dafür gegenüber dem Generalsekretär des Departements, dem er die allfällige Berichtigung zusagte, schriftlich zu entschuldigen.
Zu Ziffer 8 der «Erklärung»: Es sei Regierungsrat Eberles rein persönliche Meinung, dass der Artikel die Menschenwürde verletze und diskriminiere. Er, Pichler, habe nur Tatbestände beschrieben, für deren Entstehung er nichts könne.
Der Beschwerdegegner führt ausserdem mehrere Beispiele und Artikel an, die sich kritisch mit dem Departement Eberle befassen. Eberle wolle nun mit seiner Beschwerde beim Presserat einen ihm unbequemen Journalisten mundtot machen, ihn öffentlich desavouieren und seine länger als ein Jahrzehnt aufrecht erhaltene Glaubwürdigkeit untergraben.
Pichler schliesst, nicht er habe den Unschuldsbeweis zu erbringen, sondern der Beschwerdeführer den Schuldbeweis. Zudem appelliere er an den Grundsatz in dubio pro reo. Die einzige Möglichkeit, seine Unschuld zu beweisen, sei, in Bezug auf den Artikel «Mechmed Z.» seinen behördlichen Informanten zu outen. Da nehme er aber das Zeugnisverweigerungsrecht nach Artikel 27 StGB in Anspruch.
D. Am 29. April 2003 forderte der Presserat Charly Pichler auf, bis am 28. Mai 2003 Urkunden einzureichen, welche den strittigen Sachverhalt i. S. «Mechmed Z.» belegen. Dabei sicherte der Presserat vollumfängliche Vertraulichkeit zu.
E. Vertreten durch einen Anwalt reichte der Beschwerdegegner am 26. Mai 2003 folgende Anträge ein: Auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, da sie kein Rechtsbegehren enthalte; sie sei zudem missbräuchlich im Sinn von Art. 15 Ziff. 4 des Geschäftsreglements des Presserats, weil es Regierungsrat Eberle nur darum gehe, zu erfahren, welcher Fürsorger der Presse Auskunft erteilt habe, um diesen dann sanktionieren zu können. Falls der Presserat doch eintrete, sei die Beschwerde abzuweisen, denn der Beschwerdegegner berufe sich auf den Quellenschutz.
Im einzelnen führt der Anwalt aus, sein Mandant habe ja mit Schreiben vom 29. April 2003 angeboten, «den Informanten und die Leistungen an Mechmed Z. einem Notaren zu offenbaren und mit Originalurkunden zu belegen». (Der Presserat hatte darauf am 6. Mai 2003 geantwortet, es komme nicht in Frage, dass er bei seiner Beurteilung auf die Beglaubigung eines Notars abstelle, ohne selber Einsicht in die Urkunden nehmen zu können.) Inzwischen aber ängstige sich der Informant derart vor Sanktionen durch das Departement Eberle und davor, seine Stelle zu verlieren, dass er den Vorschlag mit dem Notar zurückgezogen habe und nun kategorisch ablehne. Die Fürsorgebehörde, die Pichlers Quelle gewesen sei, wolle nun aus Furcht absolut nicht mehr kommunizieren. Damit gehe der Informantenschutz dem Interesse des Regierungsrats vor, auf missbräuchliche Weise Informationen über die Quelle zu erhalten. Zum Schluss macht der Anwalt geltend, ein verheirateter Invalider mit fünf Kindern könne sehr wohl 6180 Franken per Monat beziehen; das sei nicht einmal der höchstmögliche Betrag.
F. Am 27. Mai 2003 lud der Presserat den Beschwerdeführer ein, sich zu den neuen Eingaben des Beschwerdegegners zu äussern. Beschwerdegegner Pichler forderte er auf, bekanntzugeben, a) wie oft und wann genau er mit «Mechmed Z.» vor der Veröffentlichung seines Falls gesprochen habe bzw. woher die Zitate im Artikel stammten; b) welchen Behörden er wann die Angaben zum Fall «Mechmed Z.» vor der Publikation zur Stellungnahme unterbreitet habe.
G. In seiner Repli
k vom 11. Juni 2003 hält Regierungsrat Roland Eberle vollumfänglich an seiner Beschwerde fest. Ihm gehe es nicht um die Bestrafung eines Beamten oder einer Behörde. Vielmehr habe der Kanton die Pflicht, als Aufsichtsbehörde für eine korrekte Rechtsanwendung zu sorgen. Unerlässlich sei daher, herauszufinden, ob der Fall auf erhärteten Fakten beruhe oder nicht. Dass sich Pichler dahingehend «korrigiert» habe, es handle sich um einen IV-Fall, nicht um einen Sozialhilfefall, zeige die Widersprüchlichkeit seiner Geschichte. Pichler habe sich aber auch nicht bemüht, die Invalidenversicherung für eine Offenlegung seiner Geschichte zu bewegen. Mit Nachdruck verwahrt sich der Beschwerdeführer gegen die Unterstellung, er wolle den Journalisten Pichler mundtot machen.
H. Am 11. Juni 2003 beantwortet Charly Pichler die vom Presserat formulierten Anfragen vom 27. Mai wie folgt: Gemäss Eintragungen in seiner Agenda und Gesprächsnotizen habe er Mechmed Z. dreimal getroffen: Am 2. und 14. Mai 2002 sowie am 20. Juni, eine Woche vor der Erstpublikation am 27. Juni 2002 in den «Oberthurgauer Nachrichten». Das Zitat aus einem Brief des Bundesamts für Flüchtlinge habe er im Büro seines Infogebers von den Unterlagen abgeschrieben; des weiteren habe er Mechmed Z. selbst zitiert; das Zitat des sanktgallischen Untersuchungsrichters Hansjakob habe er aus einem früheren Bericht nochmals verwendet. Zur Frage, welchen Behörden er den Fall Z. zur Stellungnahme unterbreitete, meint Pichler: «Da ich ja alle behördlichen Daten und Angaben direkt aus den Unterlagen meines Infogebers ersehen konnte, bestand für mich kein Grund, irgendwelchen Behörden meine erhaltenen Angaben vorzulegen, musste ich doch riskieren, dass solcherart Rückschlüsse auf die Person meines Informanten möglich würden.»
I. In der Duplik vom 11. Juli 2003 wiederholt der Anwalt des Beschwerdegegners im wesentlichen frühere Argumente. Neu spricht er dem Departement Eberle die Legitimation zur Beschwerde ab, da es für IV-Fälle nicht zuständig sei. Zuständig sei, wenn schon, das Thurgauer Departement für Inneres und Volkswirtschaft. Im übrigen pocht der Anwalt darauf, der Schutz der Quelle bzw. des Informanten gehe allem vor, was die Beschwerde verlange.
J. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener Morscher als Präsidentin an sowie Judith Fasel, Gina Gysin, Peter Liatowitsch, Roland Neyerlin, Daniel Suter und Max Trossmann. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihren Sitzungen vom 15. Mai und 28. August 2003 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Der Einwand des Beschwerdegegners, das thurgauische Departement für Finanzen und Soziales sei nicht beschwerdeberechtigt, weil unzuständig, fällt schon deshalb dahin, weil zu Beschwerden an den Schweizer Presserat jedermann berechtigt ist (Art. 6 Abs. 1 des Geschäftsreglements). Die von ihm behaupteten missbräuchlichen Motive des Beschwerdeführers belegt der Beschwerdegegner zudem nicht. Ohnehin ist nicht einzusehen, welche Beweismittel und Informationen aus dem vorliegenden Verfahren dem Beschwerdeführer Handhabe für seine angeblichen Sanktionsabsichten bieten sollten.
2. a) In diesem Fall geht es um etwas Kostbares: die Wahrheit. Die Suche nach der Wahrheit, so schwierig sie sein mag, ist die vornehmste Pflicht des Journalisten. Sie steht nicht umsonst in der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» an erster Stelle. Hat der Journalist der «Oberthurgauer Nachrichten» die Informationen über Mechmed Z. überhaupt erhalten? Ja: Gibt es seinen Informanten überhaupt? Gibt es Mechmed Z. und seinen «Asylmissbrauch»? Oder ist er frei erfunden? Denn das ist der Hauptvorwurf der Beschwerde.
b) Den Wahrheitsgehalt der Mechmed-Geschichte zu klären, haben verschiedene Behörden in Bund und Kanton versucht. Es ist ihnen nicht gelungen. Beziehungsweise ist es nicht gelungen, einen solchen Fall ausfindig zu machen. Das heisst aber im Umkehrschluss noch nicht, dass es ihn nicht doch geben könnte.
Dafür spricht, dass der Autor des Artikels in einem anderen Fall, bei dem es um Bezüge eines Asylbewerbers ging, zumindest zum Teil Recht hatte, in einem zweiten Fall eines ausgewiesenen Nigerianers offensichtlich weitgehend. In beiden Fällen macht er den gleichen Informanten geltend wie im Fall Z.
Dagegen kann man anführen, dass es auch nachrecherchierenden Journalisten anderer Medien nicht gelang, den Fall zu verifizieren. Sowohl der «Beobachter» (Ausgabe 24/2002) wie die «Südostschweiz» (21. November 2002) stiessen auf Ungereimtheiten und äusserten erhebliche Zweifel. Beide Artikel stützen laut dem Beschwerdeführer seinen Verdacht, dass der Fall Z. erfunden sei. Letztlich landeten aber alle Nachforschenden beim Autor des Artikels und seinem ominösen Informanten. Er allein weiss, ob es Mechmed Z. tatsächlich gibt oder nicht.
c) Der Presserat hat Charly Pichler mehrfach aufgefordert, Urkunden vorzulegen, die den Fall Z. belegen. Er hat ihm dabei zugesichert, dass alle Dokumente strikt vertraulich bleiben, dass der Beschwerdeführer, falls überhaupt, Dokumente nur in völlig anonymisierter Abschrift zu sehen bekommt, die keinerlei Rückschluss auf die Quelle erlauben. Pichler hat nichts geliefert: weder Faksimiles noch Abschriften, keine Gesprächsnotizen oder sonstige Aufzeichnungen, keine Belege für die vorgeblichen drei Treffen mit Mechmed Z., weder Korrespondenzen noch Tonbänder.
d) Der Presserat zweifelt deshalb stark daran, ob die Geschichte um den invaliden Z. insgesamt wahr ist, kann es aber unter den gegebenen Umständen nicht abschliessend beurteilen. Da sich somit der Verdacht einer «konstruierten, rein fiktiven Geschichte» nicht zum Beweis erhärtet hat, ist die Rüge der Verletzung der Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») in diesem zentralen Punkt abzuweisen.
e) Ebenso abzuweisen ist bei dieser Beweislage der Vorwurf des Beschwerdeführers, «die Konstruktion eines Falles zum Zweck der Untermauerung eines politischen Standpunktes» sei «nicht nur wahrheits-, sondern auch sorgfaltswidrig» (Ziffer 3 der «Erklärung»). Zumal dieser Meinungsartikel darüber hinaus im Rahmen dessen bleibt, was von der Kommentarfreiheit abgedeckt wird. Nach konstanter Praxis des Presserats ist dieser Rahmen weit gesteckt; er erlaubt auch zugespitzte Kommentare, wenn die den Wertungen zu Grunde liegenden Fakten für das Publikum erkennbar sind (vgl. Stellungnahme 16/99 i. S. H. c. «Zuger Presse» vom 1. Oktober 1999, Sammlung 1999, S. 128ff.).
3. Nachgewiesenermassen falsch oder zumindest irreführend und damit als Verletzung der Ziffern 1 bzw. 3 der «Erklärung» zu rügen sind hingegen folgende wichtige Teilaspekte:
a) Der erste Satz des Artikels vom 27. Juni 2002 in den «Oberthurgauer Nachrichten» lautet: «Die behördlichen Unterlagen zu diesem Fall befinden sich in unserem Besitz». Die Leserschaft leitet daraus ab, dass der Autor des Artikels selber über das relevante Beweismaterial verfügt, die entsprechenden Urkunden in den eigenen Händen hat und die Informationen damit vorbehältlich des Quellenschutzes belegen könnte. Demgegenüber gibt der Beschwerdegegner ja selbst an, er habe die Dokumente nur im Büro seines Informanten eingesehen und dort abgeschrieben.
b) Weiter enthält der Artikel vom 27. Juni die unbewiesene und bestrittene Behauptung, Behörden von Bund, Kanton und Gemeinde seien über den Fall orientiert gewesen. Der Autor erweckt in dieser Passage zudem den wahrheitswidrigen Eindruck, er habe verschiedene Behörden vor der Publikation mit dem Fall konfrontiert («Sie behaupten strikt, man könne Ð… halt gar nichts machen, so seien nun mal die Asyl- und die sonstigen Gesetze ..!ð Auch dazu haben wir penibel recherchiert und Auskünfte eingeholt»); gerade das aber hat er unterlassen (siehe oben Sachverhalt unter H). In diesem ganzen ersten Textabschnitt sind weder das wörtliche Zitat noch die meisten Aussagen genau zugeordnet, der Leser weiss nicht, wer ode
r welche Behörde jetzt was gesagt haben soll.
c) Wie der Beschwerdegegner selbst einräumt, handelt es sich beim angeblichen monatlichen Bezug von 6180 Franken entgegen dem Artikel («Seinen Lebensunterhalt bestreitet der ÐInvalideð völlig unserem Gesetz entsprechend, aus der sozialen Fürsorge seiner Thurgauer ÐWahlgemeindeð») nicht um Fürsorgeleistungen, sondern um Renten der Invalidenversicherung.
4. Soweit der Artikel vom 27. Juni 2002 wie oben dargelegt, falsche oder zumindest irreführende Teilaspekte enthielt, wäre der Beschwerdegegner aufgrund von Ziffer 5 der «Erklärung» (Berichtigungspflicht) angehalten gewesen, dies in einer nachfolgenden Ausgabe zu berichtigen.
Insbesondere die eingestandenermassen falsche Behauptung, es sei um Fürsorgeleistungen und nicht um IV-Gelder gegangen, war ein gewichtiger Fehler in einem zentralen Punkt des Artikels. Unerklärlich ist, wieso der Autor oder sein Informant, als Leiter eines Sozialamts doch Fachmann, die beiden Bezugsarten verwechselt haben soll. Unscharf ist denn auch im Artikel einerseits von Sozialhilfe, dann wieder von Sozialfürsorge, aber auch von Invalidität die Rede. Unerklärt bleibt der Widerspruch, wie der Asylbewerber Z., der ja angeblich nie Sozialversicherungsbeiträge bezahlt hat, Anspruch auf IV-Renten in der genannten Höhe erworben haben soll: Er hätte dazu mindestens zehn Jahre in der Schweiz leben und ohne Unterbruch AHV- und IV-Beiträge für einen recht hohen Verdienst bezahlt haben müssen. Auf diesen Widerspruch weist der erwähnte «Beobachter»-Artikel hin.
5. a) Dem nicht abschliessend möglichen Urteil, ob im vorliegenden Fall die Wahrheit gesucht, gefunden und geschrieben wurde, stellt der Beschwerdegegner ein ebenfalls wichtiges Prinzip des Journalismus in den Weg: den Schutz seines Informanten. Dieser Schutz dient sinnigerweise oft gerade dazu, dass die Wahrheit ans Licht gebracht werden kann.
b) Der Informantenschutz (Ziffer 6 der «Erklärung») geht der Pflicht der Journalisten zur Nennung ihrer Quellen dann vor, wenn die Zusicherung der Vertraulichkeit schützenswerte Interessen wahrt. Dass das hier der Fall wäre, gäbe es den Informanten tatsächlich, ist offensichtlich: als Leiter des Sozialamts einer Thurgauer Gemeinde, indirekt dem Departement Eberle unterstellt, müsste er Sanktionen befürchten, käme aus, dass er den Artikelschreiber seit Jahren immer wieder mit Material beliefert, das zu der Thurgauer Regierung unbequemen Publikationen führt.
c) Die Veröffentlichung von Informationen ohne namentliche Nennung der Quelle ist ausnahmsweise zulässig, wenn dies im öffentlichen Interesse liegt und wenn die Informationen sonst nicht öffentlich gemacht werden könnten. Im Einzelfall ist eine Interessenabwägung zwischen dem Schutz der Quelle und dem Gebot der Transparenz vorzunehmen. Dabei sind die relevanten Merkmale der informierenden oder zitierten Personen offenzulegen – bis zur Grenze der Identifizierbarkeit. Auch vertrauliche Quellen sind aber zu überprüfen und falls gegenüber natürlichen oder juristischen Personen schwere Vorwürfe erhoben werden, ist vor der Veröffentlichung eine Anhörung unabdingbar. Einlässlich hat sich der Presserat dazu in seiner Stellungnahme 6/2001 i. S. Leutenegger c. «Tages-Anzeiger» geäussert, aber auch in Stellungnahme 11/2002 i. S. X. c. «Klartext» sowie jüngst in der Stellungnahme 39/2003 i.S. Schweizerische Flüchtlingshilfe c. «Weltwoche».
d) Der Quellen- und Informantenschutz ist zwar ein hohes Gut. Er darf aber nicht als Feigenblatt der Lüge missbraucht werden. Wer sich darauf beruft, muss daher erhöhte Sorgfalt walten lassen. Er muss beispielsweise genügend detaillierte Angaben machen, damit ein Beispiel nachprüfbar ist, in unserem Fall also das Beispiel des Mechmed Z. Der Presserat hat in der Stellungnahme 43/2000 i.S. Demokratische Juristinnen und Juristen Luzern c. «Anzeiger» Luzern zu einem ähnlichen Beispiel eines angeblichen Missbrauchsfall ausgeführt, dass die Zeitung der Leserschaft zumindest die Gemeinde hätte nennen müssen, in der dieser angebliche Missbrauch stattfand oder sonstwie ergänzende Angaben hätte machen müssen, damit das Publikum in die Lage versetzt worden wäre, die Vorwürfe zu gewichten und einzuordnen.
Selbst wenn vorliegend die Nennung der betroffenen Gemeinde wegen des Quellenschutzes nicht möglich war, hätte Charly Pichler den angeblichen Fall eines legalen Missbrauchs nicht in derart für Dritte kaum nachprüfbarer Weise veröffentlichen dürfen. Wenigstens aber hätte er die Stellungnahme der mit Asyl- und Fürsorgepolitik befassten Behörden der Leserschaft nicht vorenthalten dürfen (vgl. dazu auch nachfolgend unter Ziffer 6 der Erwägungen). Weil also wichtige Informationselemente fehlen, ist eine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» festzustellen.
6. Der Verfasser erhebt im Mechmed-Artikel schwerwiegende Vorwürfe an diverse Behörden. Er unterlässt es aber gänzlich, die Betroffenen dazu anzuhören und ihre Stellungnahme wiederzugeben, wie er freimütig bekennt (Sachverhalt H). Das Anhören bei derart schweren Vorwürfen ist jedoch zwingend. Nicht nur das Fairness-Prinzip in der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» schreibt dies vor, sondern auch die neue Richtlinie 3.8 dazu; sie bekräftigt das ethische Gebot der Anhörung beider Seiten («audiatur et altera pars»). Der Verfasser hat damit Ziffer 3 der «Erklärung» auch unter dem Gesichtspunkt der Pflicht zur Anhörung bei schweren Vorwürfen verletzt.
7. a) Laut bisherigen Stellungnahmen des Presserates sind Anspielungen im Sinn der Ziffer 8 der «Erklärung» und der zugehörigen Richtlinie 8.2 diskriminierend, wenn Aussagen über Ethnien oder Kritik an einzelnen in ungerechtfertigter Weise kollektiviert werden (siehe dazu die Stellungnahmen 21/2001 i. S. W. c. «Tages-Anzeiger» und 52/2001 i. S. V. c. NZZ).
b) Zwar beschreibt der Artikel über Mechmed Z. einen konkreten Einzelfall, bleibt eng dabei und vermeidet verallgemeinernde Aussagen, zum Beispiel über das Wesen von Menschen aus dem Balkan. Aber das zumindest in Teilen nachweislich konstruierte Einzelbeispiel der Familie Mechmed Z. wird auf eine Art präsentiert, dass der Artikel trotzdem diskriminierend wirkt. Denn er appelliert plakativ an gängige negative Vorurteile gegen und Klischees über Ausländerinnen und Ausländer aus dem ehemaligen Jugoslawien. Der Presserat sieht deshalb auch Ziffer 8 der «Erklärung» verletzt.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.
2. Ob die «Oberthurgauer Nachrichten» den am 27. Juni 2002 veröffentlichten Fall «Mechmed Z.» fingiert haben oder nicht, muss trotz Zweifeln an der Echtheit dieses Falls offen bleiben. Damit ist auch die entsprechende Rüge abzuweisen, Ziffer 1 der «Erklärung» sei verletzt. Ebensowenig haben die «Oberthurgauer Nachrichten» unter diesen Umständen mit der Veröffentlichung des Leitartikels «Ein neues Asylgesetz muss her» vom 7. November 2002 gegen Ziffer 3 der «Erklärung» verstossen.
3. Hingegen haben die «Oberthurgauer Nachrichten» mit der Publikation des Artikels vom 27. Juni 2002 die Ziffern 1 und 3 der «Erklärung» dadurch verletzt, dass sie der Leserschaft fälschlicherweise suggerierten, schlüssige Beweisurkunden selber in den Händen zu halten, dass «Mechmed Z.» Fürsorgebezüger sei und dass die zuständigen Behörden bei Bund und Kanton vor der Publikation mit dem angeblichen Missbrauchsfall konfrontiert worden seien.
4. Die «Oberthurgauer Nachrichten» haben Ziffer 5 verletzt, weil sie nachweislich falsche wichtige Teilaspekte des Berichts vom 27. Juni 2002 nie berichtigten. Gravierend ist dies insbesondere beim zentralen Punkt, wonach es sich beim Geld, das Mechmed Z. bezogen haben soll, um IV-Leistungen und nicht um Sozialhilfe handle. Die Richtigstellung hätte auch Widersprüche in Bezug auf Anspruch und Höhe der angeblichen IV-Renten klären müssen.
5. Die «Oberthurgauer Nachrichten» haben mit dem Artikel
«Mechmed Z. liebt unsere Gesetze» das Prinzip der Fairness sowie Ziffer 3 der «Erklärung» verletzt, weil sie keine der Behörden, gegen die er schwere Vorwürfe erhebt, anhörten und zu Wort kommen liessen.
6. Die «Oberthurgauer Nachrichten» haben den zum Teil konstruierten Einzelfall Mechmed Z. derart suggestiv präsentiert, dass der Artikel zahlreiche Vorurteile gegenüber Menschen aus dem Balkan wachruft und diskriminierend wirkt. Ziffer 8 der «Erklärung» ist daher verletzt.