Nr. 16/2017
Diskriminierungsverbot / Verantwortlichkeit der Redaktion für den Inhalt von Leserbriefen

(X. c. «NZZ am Sonntag»)

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Zusammenfassung

«NZZ am Sonntag» entgeht Rüge, weil der Verstoss nicht «offensichtlich» war

In einem Leserbrief, den die «NZZ am Sonntag» im Dezember 2016 abgedruckt hat, charakterisierte ein Leser einen kontroversen deutschen TV-Gesprächsleiter, einen prominenten Juden, als «überdreht» und «hormongetrieben». Er verglich ihn mit sechs anderen Prominenten, die – gleich wie der Kritisierte – mit Sexskandalen und anderen Vorwürfen in die Schlagzeilen geraten waren. Die sechs Männer, denen der Leserbriefschreiber einen gleich schlechten Charakter attestierte, sind allesamt auch Juden. Der Autor erwähnte dies aber nicht ausdrücklich, er nannte nur die Namen.

Gegen die Zuschrift beschwerte sich ein Leser beim Schweizer Presserat. Er machte geltend, eine Aufzählung von sechs Männern mit üblen Sexualaffären, die aus lauter Juden bestehe, bediene alte antisemitische Clichés und verstosse gegen das Diskriminierungsverbot im Journalistenkodex. Der Kritiker hätte genausogut sechs Männer verschiedener Religion aufzählen können.

Der Presserat gibt dem Beschwerdeführer insoweit Recht, als er entschied, diese Aufzählung entspreche in der Tat einer diskriminierenden Darstellung. In einem solchen Zusammenhang nur Juden aufzuzählen bestärke entsprechende Vorurteile. Er hat die Beschwerde dennoch abgewiesen, weil der Journalistenkodex bei Leserbriefen ausdrücklich vorgibt, dass Eingriffe in Zuschriften im Interesse der Meinungsfreiheit nur bei «offensichtlichen» Verstössen zulässig seien. Dieses Element des «Offensichtlichen» habe im konkreten Textumfeld aber gefehlt.

Résumé

La «NZZ am Sonntag» échappe au blâme, parce que la violation n’était pas «manifeste»

Dans une lettre que la «NZZ am Sonntag» a publié en décembre 2016, un lecteur qualifiait un animateur de débat télévisé allemand, juif notoire et assez controversé, d’excité mu par ses poussées hormonales. Il le comparait à six autres personnalités connues qui – comme l’homme qu’il critiquait – avaient fait les gros titres des médias pour des scandales sexuels et autres reproches. Les six hommes, auxquels l’auteur de la lettre reprochait un tout aussi mauvais caractère, sont tous juifs. L’auteur ne l’a toutefois pas dit explicitement, il n’a fait que citer leurs noms.

Un lecteur s’est plaint de cette lettre auprès du Conseil suisse de la presse. Il a fait valoir que l’énumération des six hommes, tous juifs, en lien avec de vilaines affaires sexuelles, servait les vieux clichés antisémites et portait atteinte à l’interdiction de la discrimination qui figure dans le code de déontologie des journalistes. L’homme aurait aussi bien pu énumérer six hommes de religion différente.

Le Conseil de la presse donne raison au plaignant dans la mesure où il décide que cette énumération correspond bel et bien à une représentation discriminatoire. Dans pareil contexte, énumérer exclusivement les noms de Juifs renforce les préjugés. Il a toutefois rejeté la plainte au motif que le code de déontologie des journalistes indique expressément que les atteintes figurant dans des lettres de lecteur peuvent être admises dans l’intérêt de la liberté d’expression sauf si elles contiennent des violations «manifestes» dudit code. Cet élément manque dans le cas concret.

Riassunto

La «NZZ am Sonntag» sfugge alla sanzione perché la discriminazione è solo sottintesa

In una lettera del pubblico pubblicata dalla «NZZ am Sonntag» nel dicembre 2016 un lettore descriveva un controverso moderatore tedesco di dibattiti televisivi, un eminente ebreo, come «esaltato» (überdreht), «strapieno di ormoni» (hormongetrieben) e lo paragonava ad altre sei celebrità come lui spesso al centro dell’attenzione dei media per scandali sessuali e noie varie: tutti ebrei. L’autore non lo diceva esplicitamente, ma ha unicamente citato i loro nomi.

Un lettore si è rivolto al Consiglio svizzero della stampa sostenendo che enumerare sei uomini coinvolti in scandali sessuali e sottolineare che sono tutti ebrei fa rievocare un vecchio cliché antisemita violando il divieto di discriminazione iscritto nel codice dei giornalisti. Il critico avrebbe potuto benissimo elencare sei persone di altre religioni.

Il Consiglio della stampa condivide questo appunto decidendo che l’elenco proposto è realmente discriminatorio e che mettere tutti in un sacco in quanto ebrei rafforza un vecchio pregiudizio. Tuttavia non ha accolto il reclamo, perché la «Dichiarazione dei doveri e dei diritti del giornalista» prevede espressamente che la redazione può intervenire solo in casi di evidenti violazioni alfine di garantire la libertà di espressione dei lettori che scrivono ai giornali. Evidente violazione, che nello scritto criticato non è stato ravvisato.

A. Am 18. September 2016 veröffentlichte die «NZZ am Sonntag» einen Leserbrief, in welchem der Verfasser Roger E. Schärer auf einen Artikel in der Ausgabe der gleichen Zeitung vom 11. September 2016 Bezug nahm. Dieser hatte sich mit dem deutschen TV-Moderator und Aktivisten Michel Friedman beschäftigt. Der Leserbriefschreiber konzedierte in seinem Schreiben zwar, der Artikel sei «journalistisch überzeugend» abgefasst gewesen, machte aber geltend, über eine Figur wie Friedman dürfe man seriöserweise gar nicht berichten. Die Begründung: «Seine Persönlichkeit, seine Machenschaften und sein unsägliches überdrehtes journalistisches Wirken verdient nur eines: konsequentes Ignorieren. Der hormongetriebene Friedmann teilt seine Neigungen mit echten Schwergewichten in Politik und Wirtschaft, beispielsweise mit Strauss-Kahn, mit Israels ehemaligem Staatspräsidenten Katzav, mit Arik Sharon, Paul Wolfowitz, Spitzer, Weiner und anderen, wenn er sich mit ukrainischen Prostituierten vergnügt.» Die Zuschrift spielte weiter auf Friedmans Verurteilung wegen Drogenkonsums an und auf dessen vom Leserbriefschreiber behauptete Geltungssucht, der man im Rahmen von «anständigem und verantwortungsbewusstem Journalismus» keine Plattform bieten solle.

B. Mit Zuschrift vom 5. Dezember 2016 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen die Veröffentlichung des Leserbriefes ein. Dieser habe gegen die Ziffer 8 (Diskriminierungsverbot) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») verstossen, weil er in «subtiler, aber klar antisemitischer Diffamierung» neben dem porträtierten Friedman mit Strauss-Kahn, Katzav, Scharon, Wolfowitz, Spitzer und Weiner lauter prominente Juden herangezogen habe als Beispiele für «das Bild des lüsternen Juden, der ständig hinter Frauen her» sei, wie es von antisemitischen Kreisen immer wieder geprägt werde.

Im Weiteren ruft der Beschwerdeführer Richtlinie 5.2 an, welche besagt, dass die berufsethischen Normen auch für die Veröffentlichung von Leserbriefen gelten. Er macht damit geltend, dass die «NZZ am Sonntag» für die Verbreitung der behaupteten antisemitischen Passage verantwortlich sei.

Sodann weist der Beschwerdeführer darauf hin, dass der Leserbriefschreiber schon «vor Jahren antisemitische Positionen bedient» habe. Er belegt dies mit einer Beilage.

Und schliesslich stellt der Beschwerdeführer fest, dass «kein Verfahren» eingeleitet worden sei. Aus dem Zusammenhang wird klar, dass damit zivil- oder strafrechtliche Verfahren gemeint sind.

C. Mit Brief vom 28. Februar 2017 antwortete Chefredaktor Felix E. Müller für die «NZZ am Sonntag». Er sieht Ziffer 8 der «Erklärung» und Richtlinie 5.2 nicht verletzt und beantragt implizit die Abweisung der Beschwerde.

Die «NZZ am Sonntag» anerkennt in ihrer Antwort zwar die Verantwortung der Redaktion für den Inhalt der Leserbriefe (Richtlinie 5.2), weist aber darauf hin, dass in dieser Richtlinie auch festgehalten sei, dass gerade im Bereich der Leserbriefe «der Meinungsfreiheit grösstmöglicher Raum zuzugestehen ist, weshalb die Redaktion nur bei offensichtlichen Verletzungen (…) einzugreifen hat».

Hinsichtlich der behaupteten Diskriminierung konzediert die «NZZ am Sonntag», dass die vom Leserbriefschreiber aufgeführten Männer allesamt Juden seien. Diese Tatsache sei aber für eine Verletzung von Ziffer 8 der «Erklärung» nicht relevant. Denn dieser Sachverhalt sei für die Leserschaft gar nicht erkennbar gewesen. Zwar sei klar gewesen, dass Katzav – als so bezeichneter ehemaliger israelischer Staatspräsident – Jude sein müsse. Dasselbe gelte wohl auch für den bekannten Ex-Premier Ariel Scharon. Die übrigen vier Männer seien aber, anders als der Beschwerdeführer behaupte, keineswegs prominente Juden. Wenn aber für die Leserinnen und Leser gar nicht erkennbar sei, dass es sich bei den aufgezählten Männern um Juden handle, könne der Leserbrief auch keine «antisemitische Diffamierung» enthalten.

Weiter macht Müller geltend, nicht einmal für die zuständige Redaktorin der «NZZ am Sonntag» sei auf Anhieb erkennbar gewesen, dass die aufgeführten Männer alle jüdischer Abstammung seien. Eine «offensichtliche Verletzung» der Ziffer 8 der Erklärung, wie die Richtlinie 5.2 sie fordere, liege demnach nicht vor.

D. Das Präsidium des Presserates wies den Fall der 1. Kammer zu, der Francesca Snider (Präsidentin), Dennis Bühler, Michael Herzka, Klaus Lange, Francesca Luvini, Casper Selg und David Spinnler angehören.

E. Die 1. Kammer des Presserates behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 6. Juni 2017 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Aufzählung im Leserbrief von Roger Schärer erfülle den Tatbestand der Diskriminierung im Sinne von Ziffer 8 der «Erklärung», welche besagt, dass «Journalisten und Journalistinnen in Text, Bild und Ton auf diskriminierende Anspielungen verzichten, welche (…) die Religion (…) zum Gegenstand haben». Diese Bestimmung sei verletzt, weil im Brief ausschliesslich Juden als Beispiele von hormongetriebenen Menschen, die sich mit Prostituierten vergnügten, herangezogen würden. Hier werde, wenn auch auf subtile Art, in antisemitischer Weise das angebliche Verhalten von Juden stereotypisiert.

Die Redaktion bestreitet dies mit der Begründung, dass vier der sechs als verachtenswerte Beispiele aufgeführten Männer für die Leserschaft gar nicht als Juden erkennbar gewesen seien.

Zwar ist es durchaus denkbar, dass ein Teil der Leserschaft der «NZZ am Sonntag» diesen oder jenen dieser angeblich hormongetrieben agierenden Herrschaften überhaupt nicht gekannt hat oder wenn, dann bisher nicht als Juden identifizierte (im Leserbrief selber wurde der Ausdruck «Jude» nirgends verwendet). Dies ändert aber nichts daran, dass der Leserbriefschreiber mit der Aufzählung ausschliesslich jüdischer Missetäter klar eine Religionsgemeinschaft stereotypisiert. Es gäbe zur Aufzählung von Schwerenötern im Stil der Beschriebenen unzählige andere Leute, im In- und Ausland, welchen gleiche oder ähnliche Vorwürfe gemacht wurden und werden. Dass der Autor diese allesamt weglässt und ausschliesslich Juden aufzählt, entspricht einer Diskriminierung im Sinne von Ziffer 8 der «Erklärung».

2. Der vom Beschwerdeführer ins Feld geführte und mit einem Beispiel aufgezeigte Hinweis, der Leserbriefschreiber sei schon früher mit antisemitischen Positionen aufgefallen, tut dabei allerdings nichts zur Sache. Zu beurteilen ist, ob der vorliegende Text als solcher eine diskriminierende Äusserung enthält. Das ist der Fall.

3. Die Beschwerde müsste in diesem Sinne gutgeheissen werden, wenn es sich hier um einen redaktionellen Text handeln würde. Die Rede ist aber von einem Leserbrief. Bezüglich Leserbriefen – darauf weist die «NZZ am Sonntag» zu Recht hin – verlangt Richtlinie 5.2 im Sinne eines möglichst grossen Freiraums für die Meinungsfreiheit ausdrücklich, dass die Redaktionen in die entsprechenden Texte «nur bei offensichtlichen Verletzungen» des Kodex einzugreifen haben.

Nach intensiver Diskussion ist der Presserat zur Ansicht gelangt, dass man es hier zwar mit einer Diskriminierung zu tun hat, aber mit einer, die sich vielen nicht erschlossen haben mag und damit auch nicht als «offensichtliche Verletzung» im Sinne von Richtlinie 5.2 bezeichnet werden kann. Der Beschwerdeführer spricht selber von einer «subtilen» Form der Diffamierung. Dies ergibt sich auch aus der Tatsache, dass das Stichwort «Jude» im Brief gar nie erwähnt wird. Die Diffamierung ist damit zwar nicht weniger problematisch, aber sie ist weniger offensichtlich.

4. Die Argumentation der «NZZ am Sonntag», wonach eine offensichtliche Diskriminierung schon deswegen nicht vorliegen könne, weil schon die verantwortliche Redaktorin nicht erkannt habe, dass es sich bei den aufgezählten Männern um Juden handle, kann dabei wiederum keine Rolle spielen. Die Berechtigung eines Vorwurfs kann nicht vom wie auch immer gearteten Kenntnisstand einer einzigen Mitarbeiterin abhängig sein.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Die «NZZ am Sonntag» hat mit der Veröffentlichung des Leserbriefes von Roger E. Schärer am 18. September 2016 zwar eine Diskriminierung im Sinne von Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» publiziert, sie liegt damit aber noch innerhalb des Spielraumes, welchen Richtlinie 5.2 gewährt, die im speziellen Fall von Leserbriefen eine redaktionelle Intervention nur bei «offensichtlichen» Verletzungen verlangt.