Nr. 65/2009
Diskriminierung / Anhörung bei schweren Vorwürfen / Indiskretionen / Trennung von Fakten und Kommentaren

(X. c. «Obersee Nachrichten») Stellungnahme des Presserates vom 31. Dezember 2009

Drucken

I. Sachverhalt

A. Am 26. November 2009 berichtete Verena Schoder in den «Obersee Nachrichten» über eine Gastwirtin aus der Region, die sich von einem Mieter «total abgezockt» fühle (Titel: «Mir schuldet er Geld – er holt seins beim Sozialamt»). Der im Artikel mit den Initialen benannte «deutsche Zuwanderer» habe zuerst wegen «allerlei Bschissereien» seine Arbeitsstelle verloren. Dann sei er der Gastwirtin seit August 2009 die Wohnungsmiete schuldig geblieben, habe auch sonst überall Schulden gemacht und «zu guter Letzt kassiert er beim Sozialamt ab». Die Vermieterin schüttle ungläubig den Kopf. «Sie müsse mit grossem Aufwand und viel Ärger um das geschuldete Geld kämpfen – und der Deutsche marschiere aufs Sozialamt und hole sich, was er zum Leben brauche.»

Der ehemalige Mieter habe von anderen Mitbewohnern immer wieder Geld ausgeliehen. «Irgendwie waren sie dem Grossmaul gegenüber hilflos, glaubten einem Landsmann helfen zu müssen.» Überhaupt sei das «Grossmaul» vor nichts zurückgeschreckt. Er habe sich ungefragt das Auto eines Kollegen genommen und weder Bussen noch Rechnungen bezahlt. «In seiner Wohnung hatte er eine Sauordnung sondergleichen, blieb ab August auch die Miete schuldig.» Als die Vermieterin zusammen mit anderen Bewohnern schliesslich ein Dokument gefunden habe, aus dem hervorging, dass in Deutschland gegen den Mieter «ein Haftbefehl lief», habe sie ihm die Wohnung per Ende September 2009 gekündigt. Nach Ablauf der Kündigungsfrist habe der Mann die Wohnung dann aber keineswegs geräumt. Erst später habe er sich das Nötigste genommen und den Rest in den Estrich geschafft. Seither sei sein Aufenthaltsort der Gastwirtin nicht mehr genau bekannt. Da der Betroffene kein Arbeitslosengeld beziehen könne, müsse das Sozialamt für ihn aufkommen.

B. Am 23. November 2009 gelangte X. mit einer Beschwerde gegen den obengenannten Artikel an den Schweizer Presserat. Sie finde den Bericht diskriminierend und «ungebührlich gegenüber der Volksgruppe der Deutschen in diesem Land». Der im Artikel beschriebene Mieter sei der Gastwirtin bloss 126 Franken schuldig geblieben. «Wunderlich» sei zudem, dass die Journalistin das Verhalten der Vermieterin, in Abwesenheit des Mieters die Wohnung zu betreten und dessen private Post zu sichten, mit keinem Wort kritisch hinterfrage. Vielmehr werde dieses Verhalten als selbstverständlich hingenommen und so der Eindruck erweckt, dass sich Schweizer gegenüber Deutschen so verhalten dürften. «Zudem wäre die Nachricht der Mietschuld eines Schweizers gegenüber einem Schweizer in dieser Höhe in der Presse keine Zeile wert gewesen.»

Der Bericht verstosse gegen die Ziffern 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Diskriminierung) sowie gegen die Richtlinien 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentaren) und 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) zur «Erklärung». Ausserdem sei die Richtlinie a.1 zur «Erklärung» (Indiskretionen) schwerstens verletzt. Die Journalistin distanziere sich mit keinem Wort von den kriminellen Handlungen.

C. Gemäss Art. 12 Abs. 1 des Geschäftsreglements des Presserats werden Beschwerden, auf die der Presserat nicht eintritt, vom Presseratspräsidium behandelt.

D. Das Presseratspräsidium, bestehend aus Presseratspräsident Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina, hat die vorliegende Stellungnahme per 31. Dezember 2009 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerdeführerin behauptet in ihrer Eingabe, ohne dies näher zu begründen, die Leser/innen des Artikels von Verena Schoder könnten Fakten und kommentierende, kritisierende Einschätzungen nicht unterscheiden (Richtlinie 2.3 der «Erklärung»). Diese Rüge ist für den Presserat weder überprüf- noch nachvollziehbar. Der Presserat verneint in konstanter Praxis eine berufsethische Pflicht zur formalen Trennung von Nachrichten und Kommentaren (vgl. z.B. die Stellungnahme 18/2007). Der beanstandete Bericht gibt in erkennbarer Weise einseitig die Sicht der Gastwirtin wieder. Sowohl die im Artikel behaupteten Fakten (Nichtbezahlung von Miete und anderen Schulden, Verlust der Arbeitsstelle, Haftbefehl in Deutschland, Bezug von Sozialhilfe usw.) als auch die Wertungen der Gastwirtin («fühlt sich total abgezockt»; «sie müsse mit viel Aufwand und Ärger um das geschuldete Geld kämpfen»; der ehemalige Mieter sei ein «Grossmaul», dem gegenüber die anderen Mieter «irgendwie hilflos» gewesen seien) sind als solche erkennbar.

2. Die Beschwerdeführerin verkennt zudem, was in der Richtlinie a.1 zur «Erklärung» mit «Indiskretionen» gemeint ist. Der beanstandete Bericht veröffentlicht keine Informationen, die von einer staatlichen Behörde als geheim oder vertraulich deklariert worden sind. Allenfalls wäre zu prüfen, ob die im Bericht enthaltenen Angaben die Privatsphäre des Mieters verletzen. Dies rügt die Beschwerdeführerin jedoch nicht.

3. a) Ziffer 8 der «Erklärung» lautet: «Sie (die Journalistinnen und Journalisten) respektieren die Menschenwürde und verzichten in ihrer Berichterstattung in Text, Bild und Ton auf diskriminierende Anspielungen, welche die ethnische oder nationale Zugehörigkeit, die Religion, das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, Krankheiten sowie körperliche oder geistige Behinderung zum Gegenstand haben.» Die Richtlinie 8.2 zur «Erklärung» verdeutlicht dazu, dass diskriminierende Anspielungen bestehende Vorurteile gegen Minderheiten verstärken können.

Nach der Praxis des Presserates zum Diskriminierungsverbot ist eine Anspielung diskriminierend, wenn in einem Medienbericht durch eine unzutreffende Darstellung das Ansehen einer geschützten Gruppe beeinträchtigt, die Gruppe kollektiv herabgewürdigt wird. In der Stellungnahme 21/2001 empfahl der Presserat, bei jeder Aussage «kritisch zu fragen, ob damit eine angeborene oder kulturell erworbene Eigenschaft herabgesetzt oder ob herabsetzende Eigenschaften kollektiv zugeordnet werden, ob lediglich Handlungen der tatsächlich dafür Verantwortlichen kritisiert werden oder ob die berechtigte Kritik an einzelnen in ungerechtfertigter Weise kollektiviert wird». Zur Nennung von Nationalitäten hat der Presserat zudem in der Stellungnahme 13/2006 ausgeführt: «Nicht jede Erwähnung der ethnischen, nationalen oder religiösen Zugehörigkeit (…) ist bereits als Verletzung von Ziffer 8 der ‹Erklärung› zu werten. Denn (…) das Verbot diskriminierender Anspielungen darf nicht im Sinne einer Political Correctness ausdehnend interpretiert werden. Eine Bezugnahme auf die ethnische, nationale oder religiöse Zugehörigkeit ist nur dann diskriminierend, wenn sie mit einem erheblich verletzenden Unwerturteil verbunden ist. Das Diskriminierungsverbot verbietet zudem nicht Kritik an Einzelpersonen, sondern soll (…) Verallgemeinerungen verhindern.»

Jüngst hat der Presserat eine Beschwerde gegen einen «Blick»-Artikel («RAV-gierige Deutsche») abgewiesen, worin die Zeitung polemisch und provokativ behauptete, stellenlose Deutsche würden aus wirtschaftlichen Gründen in der Schweiz bleiben. Dies, weil sie von den Leistungen der Schweizer Arbeitslosenversicherung gut leben könnten. Der Presserat verneinte eine Diskriminierung und fand, der kritische Unterton und die entsprechende Wortwahl richteten sich gegen eine wirtschaftlich motivierte und nicht gegen eine kulturell bedingte Verhaltensweise (37/2009).

b) Der Bericht der «Obersee Nachrichten» veröffentlicht die Kritik einer Gastwirtin gegen einen einzelnen Mieter, ohne diese Vorwürfe jedoch in Bezug auf dessen Staatsangehörigkeit zu verallgemeinern. Im Gegenteil geht aus dem Artikel hervor, dass sich unter den «Opfern» des Mieters auch Deutsche befinden. Entsprechend scheint die Sichtweise der Beschwerdeführerin, die «Obersee Nachrichten» hätten den Artikel
einzig deshalb veröffentlicht, weil es um einen Deutschen gehe, aus unbefangener Warte kaum haltbar. Auch wenn man sich zusammen mit der Beschwerdeführerin fragen kann, ob die Nennung der Nationalität für das Verständnis der Leserschaft notwendig war, wirkt sie jedenfalls nicht diskriminierend.

4. Hätte die Journalistin hingegen den im Bericht massiv kritisierten Mieter vor der Veröffentlichung anhören sollen? Gemäss der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» sind Journalistinnen und Journalisten verpflichtet, Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe zu befragen und deren Stellungnahme im gleichen Medienbericht kurz und fair wiederzugeben.

Vorliegend war diese Anhörung soweit ersichtlich nicht möglich, weil der Aufenthaltsort des Betroffenen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung «nur vage» bekannt war. Deshalb ist den «Oberseee Nachrichten» aus der Unterlassung der Anhörung kein Vorwurf zu machen. Nach Auffassung des Presserates wäre es zwar besser gewesen, im Artikel ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass es nicht möglich war, eine Stellungnahme des kritisierten Mieters einzuholen. Da dies aber wenigstens indirekt aus dem Artikel hervorgeht, ist eine Verletzung der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» zu verneinen.

III. Feststellungen

Der Presserat tritt nicht auf die Beschwerde ein.