Nr. 10/1994
Boykott der Medien durch die werbende Wirtschaft

(Denner c. 'Cash'), vom 7. November 1994

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Stellungnahme

Boykott der Medien durch die werbende Wirtschaft

Das Prinzip der Trennung zwischen redaktionellem Teil und Werbeteil muss unter allen Umständen hochgehalten werden. Ohne Trennung ist das Recht auf Information nicht mehr gewährleistet. Der Journalist hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, für diese Trennung einzustehen.

Wie jede Person, über die berichtet wird, hat auch die werbende Wirtschaft Anspruch auf faire Behandlung. Wo trotz fairer journalistischer Arbeit Differenzen entstehen, sind die Lösungen unter Einbezug der Redaktion offen zu diskutieren. Berechtigte Anliegen können mit Zusatzrecherechen oder einem Interview aufgefangen werden. Wo Behauptungen gegen Behauptungen stehen, besteht das Rechtsinstitut der Gegendarstellung.

Macht ein Unternehmen oder ein ganzes Kartell vom Mittel des Werbeboykotts Gebrauch, so ist sofort Öffentlichkeit herzustellen. Gelingt dies nicht, oder wird der Boykott nicht abgebrochen, so ist es Sache der Medienverbände, sich im Sinne der Solidarität einzuschalten. Medienschaffende sind ethisch verpflichtet, unzumutbare Forderungen, die mit einem Boykott durchgesetzt werden sollen, abzulehnen und auf seriös recherchierten, gut begründeten Positionen zu beharren.

Prise de position

Boycott des médias par des annonceurs

Le principe de la séparation entre la partie rédactionnelle et la partie publicitaire d’un média doit être strictement respecté en toutes circonstances. Si tel n’est pas le cas, le droit à l’information n’est plus assuré. Le journaliste n’a pas seulement le droit, il a le devoir d’insister pour que cette séparation soit respectée.

Comme toute personne au sujet de laquelle des informations sont diffusées, les milieux économiques qui font de la publicité ont le droit d’être correctement traités. Si, en dépit d’un travail journalistique correct, des dissensions se produisent, les solutions doivent être discutées de façon ouverte, en y associant la rédaction. Les réclamations fondées peuvent être prises en compte grâce à des investigations complémentaires ou dans le cadre d’une interview. Là où les thèses des uns s’opposent aux thèses des autres, il y a le droit de réponse institué par le Code civil.

Si une entreprise ou tout un cartel recourt à l’arme du boycott de la publicité, il y a lieu de porter immédiatement le fait à la connaissance de l’opinion publique. Si on n’y parvient pas ou s’il n’est pas mis fin au boycott, il incombe aux organisations de journalistes d’intervenir au nom de la solidarité.

Les journalistes sont tenus par leur éthique professionnelle de rejeter les exigences intolérables qu’on essaie de leur imposer par la voie d’un boycott et de camper sur leurs positions, dans la mesure où elles sont solidement justifiées et fondées sur une enquête sérieuse.

Presa di posizione

Boicottaggio di giornali da parte di inserzionisti

Il principio della separazione tra parte redazionale e parte pubblicitaria di un organo d’informazione dev’essere strettamente rispettato in ogni circonstanza. In mancanza di ciò, il diritto all’informazione non è più assicurato. Il giornalista ha non solo il diritto ma anche il dovere di insistere perché tale separazione sia rispettata.

Come ogni persona oggetto di una pubblicazione, le aziende che fanno inserzioni hanno diritto a un trattamento corretto. Se vi è dissenso, malgrado la correttezza del lavoro giornalistico, la soluzione dev’essere discussa apertamente, associando la redazione al confronto. Le rimostranze fondate possono essere considerate completando l’inchiesta oppure con un’intervista all’interessato. In caso di contrapposizione insanabile, il Codice civile prevede il ricorso al diritto di risposta.

Se un’azienda o un cartello ricorrono al boicottaggio della pubblicità, il fatto dev’essere immediatamente portato a conoscenza del pubblico. Se ciò non accade e se il boicottaggio persiste, la solidarietà impone alle organizzazioni professionali di intervenire.

Nella misura in cui le posizioni assunte dal giornalista sono solide e giustificate, in quanto fondate su una seria investigazione, i giornalisti sono tenuti dall’etica professionale a respingere ogni indebita pressione associata al boicottaggio.

I. Sachverhalt

A. Die Wirtschaftszeitung „Cash“ beleuchtete in ihrer Nummer vom 6. August 1993 die Situation beim Lebensmittel-Discount-Unternehmen Denner unter dem Titel „Denner: Nun laufen die Manager davon“. Neben der ausführlichen Recherche, die für Denner nicht gerade vorteilhaft war, konnte sich Denner-Generaldirektor Martin Isenschmid in der gleichen Nummer in einem ebenso ausführlichen Interview wehren. Der Denner AG aber genügte diese Artikulationsmöglichkeit nicht. Am 30. August 1993 verlangte sie durch ihren Rechtsvertreter Ludwig A. Minelli eine ausführliche Gegendarstellung. Gleichzeitig kündigte die Denner AG an, dass sie ihre Inserate in Ringier-Medien (und in der „Zürichsee-Zeitung“, die die Recherche aufgenommen hatte) sperren werde.

B. Das Gegendarstellungsbegehren wurde in erster und zweiter gerichtlicher Instanz abgewiesen (Bezirksgericht Zofingen, Aargauer Obergericht). Es ist nicht Aufgabe des Presserates, sich in den Rechtsstreit einzumischen und die Frage der Gegendarstellung seinerseits zu prüfen, wenn das Verfahren noch läuft oder wenn es zu Resultaten geführt hat, die sich mit der „Erklärung der Rechte und Pflichten der Journalistinnen und Journalisten“ decken. Der Presserat beschloss jedoch, von sich aus die Frage des Inserateboykotts unter medienethischen Gesichtspunkten aufzugreifen.

C. Der Inserateboykott (oder die Boykottdrohung) Denners ist im schweizerischen Mediensystem kein Einzelfall. Zwar ist unklar, wie gross die Dunkelziffer jener Fälle ist, in denen blosse Drohungen Medien gefügig machten oder in denen Boykottmassnahmen von niemandem an die grosse Glocke gehängt wurden. In den letzten 15 Jahren sind immerhin folgende Fälle vollzogener Boykottmassnahmen bekannt geworden:

– Boykott des „Tages-Anzeigers“ durch die Autobranche, hautpsächlich wegen eines Artikels über die Autolobby im „Tages-Anzeiger-Magazin“ (1979); – Boykott des „Tages-Anzeigers“ durch das Warenhaus Globus wegen dessen Berichterstattung über die Jugendunruhen (1980); – Boykott der „Tribune de Genève“ durch die Immobilienagentur Kramer und zwei andere Agenturen wegen kritischer Artikel vor einer Volksabstimmung über das Mietervorkaufsrecht (1985); – Boykott der „Ostschweiz“ durch die Migros St. Gallen wegen einer Glosse über das Einkaufszentrum Säntispark (1987); – Boykott der „La Regione“ durch die Banca della Svizzera italiana und den Bankverein wegen der Berichterstattung über die Verbindungen von Schweizer Banken zur italienischen Schmiergeldaffäre und der Argumentation zur Stempelsteuer (1992/93).

D. Boykottmassnahmen der werbenden Wirtschaft können an die Substanz gehen. Der „Tages-Anzeiger“ verlor beispielsweise im 2.-4. Quartal 1979 über 50 Prozent der Werbeeinnahmen für Neuwagen, im 1. Quartal 1980 nochmals 45 Prozent, im weiteren Verlauf des Jahres 1980 noch 20-25 Prozent. Eine starke Zeitung wie der „Tages-Anzeiger“ kann zwar einiges aushalten, aber für eine kleine Zeitung oder für ein Lokalradio kann ein Boykott den Untergang bedeuten.

E. Die Schweizerische Kartellkommission untersuchte 1979-81 den Fall „Tages-Anzeiger“ unter kartellrechtlichen Gesichtspunkten. Sie kam zum Schluss, dass die am Boykott beteiligten Autoimporteure ihr Verhalten stillschweigend aufeinander abgestimmt hatten und dass sie in der Lage waren, den Markt massgeblich zu beeinflussen. Ohne die Frage zu beantworten, ob ein Verstoss gegen das Kartellgesetz vorliegt, stellte sie Überlegungen an über die Schwelle, von der an es einem Unternehm
en aus betriebswirtschaftlichen Gründen nicht mehr zugemutet werden kann, in einem Medium zu werben. Und sie formulierte Regeln für das adäquate Verhalten der werbenden Wirtschaft den Medien gegenüber.

F. Der Presserat hat zur Vertiefung der Problematik Hearings und Einzelbefragungen durchgeführt. Dabei hat er angehört: – Dr. Daniel Cornu, Direktor des Centre Romand de la Formation des Journalistes, früherer Chefredaktor der „Tribune de Genève“, Genf; – Jean-Marie Vodoz, Chefredaktor der „24 heures“, Lausanne; – Marco Volken, Chefredaktor der „Ostschweiz“, St. Gallen; – Nationalrat Walter Frey, Generaldirektor der Emil Frey AG, Zürich; – Thomas Kähr, Geschäftsführer des Schweizerischen Verbandes der Zeitungs- und Zeitschriftenverleger, Zürich; – Walter Fessler, Regionaldirektor der Orell Füssli Annoncen, Zürich.

II. Erwägungen

1. Die Schweizerische Kartellkommission hat die Problematik des Inserateboykotts erst zweimal aufgegriffen („Tages-Anzeiger“, „Smash“). Sie kann an die Frage nur unter kartellrechtlichen Gesichtspunkten herangehen. Das heisst: Nur wenn marktmächtige Unternehmen, die ein Kartell oder eine kartellähnliche Organisation bilden, einem Medium Werbung entziehen, ist die Kartellkommission gefordert. Demgegenüber sind die Kriterien, nach denen der Presserat aktiv werden kann, weiter gefasst. Der Presserat muss überprüfen, ob Boykottmassnahmen die berufsethischen Grundlagen der Medienschaffenden berühren und die Pressefreiheit einengen. Er kann sich daher zu Boykottfällen unabhängig von der Wettbewerbssituation äussern. Dieser freiere Zugang zum Thema und die vielen Boykottfälle im Laufe der letzten 15 Jahre machen es geradezu notwendig, dass sich der Presserat der Problematik annimmt, zumal für die Kartellkommission die Voraussetzungen zum Eingreifen anscheinend nie mehr erfüllt waren (obwohl der Fall der Genfer Immobilienangenturen von 1985 ein Anlass hätte sein können).

2. Boykottmassnahmen können im Extremfall dazu führen, dass Zeitungen, Zeitschriften oder Lokalradios den Betrieb einstellen müssen. Dies könnte bedeuten, dass der Konzentrationsprozess im schweizerischen Mediensystem zusätzlich beschleunigt wird und die Vielfalt der Darstellungen und Meinungen abnimmt. Dies ist ein Vorgang von politischer Brisanz, der der Wirtschaft nicht ganz gleichgültig sein kann. Es ist nämlich keineswegs garantiert, dass die übriggebliebenen Medien jeweils mit einem binnenpluralistischen Konzept reagieren. Solange sie es nicht tun, fehlen Stimmen im demokratischen Diskurs, und die Gefahr der einseitigen Sicht, ja der Manipulation ist gross.

Die demokratische Gesellschaft braucht die Pluralität der Ideen und Einstellungen. Pluralität ist aber nicht nur ein Kennzeichen einer demokratischen Gesellschaft, sondern auch ein Kennzeichen einer liberalen Markwirtschaft. Denn Pluralismus heisst Wettbewerb, Konkurrenz. Die Demokratie lebt von der Konkurrenz der Meinungen, der politischen Positionen und Parteien. Die Marktwirtschaft wiederum lebt von der Konkurrenz der Angebote an Gütern und Dienstleistungen. Gesellschaft, Staat und Wirtschaft lassen sich also vom gleichen Grundsatz leiten: Vom Grundsatz des Pluralismus. Es wäre daher unlogisch, wenn die Repräsentanten der Wirtschaft den Pluralismus dank Handels- und Gewerbefreiheit befürworteten, den Pluralismus dank Pressefreiheit aber ablehnten oder geringschätzten.

3. Die Pressefreiheit richtet sich in erster Linie gegen den Staat. Sie will sagen, dass der Staat keine Vorzensur ausüben darf und dass jedermann Nachrichten und Meinungen „pressen“ (drucken) und verbreiten kann. Insofern beinhaltet die in Art. 55 der Bundesverfassung gewährleistete Pressefreiheit auch die Meinungsäusserungsfreiheit, abgedeckt auch durch Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention, wo es heisst: „Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungsäusserung“. Diese Meinungsäusserungsfreiheit darf nach modernem Grundrechtsverständnis aber auch Dritte nicht behindern. Und dies bedeutet: Wenn die Meinungsäusserungsfreiheit garantiert ist, dann müssen auch die Plattformen und Kanäle für die Meingsäusserungen gesichert sein. Die Gesellschaft braucht also Medien. Ohne Massenmedien wäre in der modernen direkten Demokratie der politische Diskurs nicht mehr möglich. Wenn allen Medien der Boden unter den Füssen weggezogen würde, wäre die Demokratie funktionsunfähig. Und die Meinungsäusserungsfreiheit wäre arg gefährdet.

4. Daraus ergibt sich, dass es für die Massenmedien fast eine Art Bestandesgarantie geben müsste. Gleichzeitig will aber die Pressefreiheit gerade, dass die Medien keine Staatsmedien sind. Wenn indessen der Staat sie nicht patroniert und finanziert, dann müssen sie privatwirtschaftlich – als Gewerbeunternehmen – funktionieren. Gewerbeunternehmen jedoch müssen ihre Produkte zum Marktpreis verkaufen. Nun hat aber die Entwicklung dazu geführt, dass der für die Medien marktübliche Preis die Kosten nicht deckt. Deshalb haben sich die Medien mit Ersatzfinanzierungen behelfen müssen. Das sind bei den Printmedien Werbeplätze, die sie anbieten und verkaufen, bei den elektronischen Medien Benutzergebühren und ebenfalls Werbeplätze. Die verkauften Werbeplätze binden die Massenmedien betriebswirtschaftlich in hohem Masse an die private, werbende Wirtschaft. Das heisst: Die Medien sind abhängig von Wirtschaftsinteressen.

5. Diese Beziehung leugnet niemand. Die Interessen sind ja gegenseitig: Die Massenmedien benötigen Einnahmen, und die Unternehmen benötigen Transportmittel für ihre Werbebotschaften. Dabei hat sich allerdings das Prinzip durchgesetzt, dass Werbeteil (Inserateteil) und redaktioneller Teil der Medien streng getrennt sind. Die Realität ist allerdings nicht so einfach. Die Versuche, mit denen Werbeauftraggeber oder Inserateagenturen Einfluss auf Redaktionen zu nehmen versuchen, sind Legion und gehören zum Medienalltag. Die Beziehungen funktionieren nach dem Prinzip des „do ut des“, und sie sind geprägt durch Schalmeien und Pressionen oder Zuckerbrot und Peitsche auf der einen, und von Widerstand und Einlenken auf der anderen Seite.

6. In den Hearings, die der Presserat durchführte, betonten alle Teilnehmer, dass die werbende Wirtschaft grundsätzlich die Freiheit habe, zu werben, wo sie wolle, und auf Werbung zu verzichten, wann sie wolle. Walter Fessler (ofa) sagte, die Wirtschaft habe kein Interesse, in einem wirtschaftsfeindlichen Umfeld zu inserieren. Grosskunden träten mit konkreten Vorstellungen über das Inserateumfeld auf. Da die Presse zunehmend werbeabhängig sei, schneide sie sich ins eigene Fleisch, wenn sie die Grosskunden dauernd verärgere. Dabei müsse sie nicht zu Kreuze kriechen. Aber sie müsse vermehrt das gesamte Leben ihrer Leserinnen und Leser abhandeln (also beispielsweise auch Geschäftseröffnungen) und allgemein einen besseren Service bieten.

Ähnlich argumentierte Nationalrat Walter Frey (Emil Frey AG). Er sagte, in einem Grossunternehmen werde ganz nüchtern und nach wirtschaftlichen Argumenten entschieden, wo wieviele Inserate plaziert werden. Entschieden werde nach folgenden drei Kriterien:

– nach quantitativen Kriterien (Auflage, Reichweite, Anzahl Leserkontakte); – nach qualitativen Kriterien (Zusammensetzung der Leserschaft: Ist sie empfänglich für das Produkt, das es zu verkaufen gilt?); – nach dem Umfeld (für das Produkt positive oder negative Beeinflussung der Leserschaft?).

Allerdings müsste das Kriterium Umfeld sehr negativ sein, damit es stärker gewichtet werde als die beiden anderen Kriterien. Zudem wirke sich ein Druckversuch, der sich gegen die freie Presse richte, negativ auf das Image der Firma aus. Weiter sei die Wirtschaft auf Monopolzeitungen als Werbeträger zwingend angewiesen. Darum sei es eher selten, dass ein Boykott zustandekomme wie seinerzeit gegen den „Tages-Anzeiger“, fand Frey. Damals habe man am Autosalon in Genf im Zorn beschlossen, im „Tages-Anzeiger“ nicht mehr zu inserieren, bis das redaktionelle Umfeld korrigiert werde, erklärte Frey. Da d
as Umfeld zu wenig korrigiert worden sei, inseriere er selber nach wie vor nicht im „Tages-Anzeiger“.

Dass die werbende Wirtschaft auf die Medien Einfluss zu nehmen versucht, bestritt niemand. Die indirekte Einflussnahme gehöre grundsätzlich zum Geschäft, meinte Marco Volken, Chefredaktor der „Ostschweiz“. Jean-Marie Vodoz, Chefredaktor von „24 heures“, ist grundsätzlich der Ansicht, dass der Verleger eines grossen Medienunternehmens gegenüber der werbenden Wirtschaft viel stärker und selbstbewusster auftreten kann als ein kleiner Verleger. Dies bestreitet auch Marco Volken nicht, der aber fand, in grossen Konzernen werde aus kommerziellen Gründen innerhalb des Unternehmens Druck auf die Redaktionen ausgeübt, während kleinere Medien mehr dem Druck von aussen ausgesetzt seien. Dr. Daniel Cornu, Direktor der Lausanner Journalistenschule, ehemaliger Chefredaktor der „Tribune de Genève“, nannte zwei Fälle, in denen Boykottdrohungen oder Boykottmassnahmen problematisch, ja unzulässig würden: Erstens dann, wenn ein Inserent die übrigen Inserenten der gleichen Branche zum Inserateboykott zu bewegen versuche (wie 1979 die Autobranche in Zürich, 1985 die Immobilienbranche in Genf). Zweitens dann, wenn ein Boykott auf eine ganze Mediengruppe ausgedehnt werde (wie 1993 gegenüber Ringier).

Welche Rolle können die Annoncenunternehmen spielen? Die Annoncenunternehmen bemühten sich laut Walter Fessler, den Marktanteil der Printmedien zu halten. Wenn Werbeauftraggeber in einer bestimmten Richtung Druck ausübten, dann gebe die Agentur bloss die Information weiter. Ihre komme lediglich eine Beraterfunktion zu, und da sie an der Werbung verdiene, habe sie natürlich ein direktes Interesse daran, zu vermitteln. Diese Sicht bestätigte grundsätzlich auch Daniel Cornu: Die Agentur besitze einen grossen strukturellen Einfluss, übe aber auch eine Pufferfunktion zwischen Wirtschaft und Medium aus.

Was aber kann konkret getan werden, wenn ein Werbeauftraggeber Druck ausübt oder einen Boykott ankündigt? Viel hänge vom Widerstandsvermögen von Verleger und Chefredaktor ab, sagte Daniel Cornu. Aber auch die Journalistinnen und Journalisten könnten sich wehren: Vielen gehe der Mut zu früh aus (Volken), denn sie hätten ein ethisches Recht der Verweigerung (Cornu). Ist der Boykott unabwendbar, so empfiehlt Marco Volken das Rezept, mit dem er 1987 beim Boykott durch die Migros hervorragende Erfahrungen gemacht hat: Er schlug öffentlich Alarm, die Medien der ganzen Schweiz behandelten den Fall, und die Migros, um ihr Image fürchtend, stellte den Boykott sofort ein. Ganz wirkungslos bleibt allerdings ein Boykott selten: Die „Tribune de Genève“ habe nach 1985 pragmatischer, weniger personifiziert über das Immobiliengeschäft geschrieben, berichtete Daniel Cornu. Und der „Tages-Anzeiger“ habe, so Walter Frey, das Umfeld „zu wenig“ korrigiert, aber anscheinend doch korrigiert. Immerhin unterstützen auch die Annoncenunternehmen das Prinzip, dass redaktioneller Teil und Werbeteil getrennt sind.

7. Der Presserat hat sich in seiner Arbeit nach der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ zu richten. Inwiefern sind Pressionen der werbenden Wirtschaft auf Massenmedien durch die berufsethischen Regeln erfasst? Folgende Bestimmungen können angerufen werden:

– In der Präambel wird das Recht auf Information, auf freie Meinungsäusserung und auf Kritik als grundlegendes Menschenrecht hervorgehoben. Daraus leiten die Medienschaffenden den Anspruch ab, sich auch über das Gebaren und die Produkte der Wirtschaft frei zu äussern und sie, wenn nötig, zu kritisieren. Das Publikum erwartet von den Medien, dass sie das wirtschaftliche Geschehen laufend bewerten und Orientierungshilfen liefern für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Konsumentinnen und Konsumenten. – Ebenfalls in der Präambel wird der Vorrang der Verantwortlichkeit der Journalisten gegenüber der Öffentlichkeit vor jeder andern Verantwortlichkeit, insbesondere vor ihrer Verantwortlichkeit gegenüber ihren Arbeitgebern und gegenüber staatlichen Organen betont. Daraus leiten die Medienschaffenden das Recht ab, dann Öffentlichkeit herzustellen, wenn ein Thema von öffentlicher Relevanz ist, und sich daran nicht einmal von ihrem Arbeitgeber, geschweige denn von aussenstehenden Werbeauftraggebern hindern zu lassen. Entscheidend ist allein das Recht des Publikum, alles zu erfahren, was von öffentlicher Tragweite ist. – Ziff. 2 der Pflichten der Erklärung lautet: „Sie – die Journalistinnen und Journalisten – verteidigen die Freiheit der Information, die sich daraus ergebenden Rechte, des Kommentars und der Kritik sowie die Unabhängigkeit und das Ansehen ihres Berufes“. Daraus leiten die Medienschaffenden das Recht ab, auch im Bereich der Wirtschaft zu recherchieren, und zwar in voller Unabhängigkeit, ohne Direktiven der Werbeauftraggeber. Ein Boykott oder eine Boykottdrohung hingegen ist ein Eingriff in die journalistische Unabhängigkeit, weil damit letztlich versucht wird, die Medienschaffenden gefügig zu machen. – In Ziff.9 der Pflichten heisst es: „Sie vermeiden in ihrer beruflichen Tätigkeit als Journalistinnen und Journalisten jede Form von kommerzieller Werbung und akzeptieren keinerlei Bedingungen von seiten der Inserenten“. Wiederum liegt der Widerspruch zur Absicht boykottierender Werber auf der Hand: Wer mit dem groben Geschütz des Boykotts auffährt, will seine Bedingungen diktieren. Für Journalistinnen und Journalisten ist es indessen Ehrensache, in keiner Weise käuflich zu sein.

– Lit. b) der Rechte schützt die Medienschaffenden mit dem Postulat: „Sie dürfen nicht veranlasst werden, beruflich etwas zu tun oder zu äussern, was den Berufsgrundsätzen oder ihrem Gewissen widerspricht (…)“. Jener, der so etwas veranlassen könnte, ist normalerweise der Verleger oder der Radio-/Fernsehdirektor. Der Verleger oder der Direktor ist der Arbeitgeber der Medienschaffenden. Wenn aber Werbeauftraggeber Druck ausüben, dann können Verleger oder Direktoren im Interesse des Werbegeldes schon in Versuchung geraten, von den Medienschaffenden etwas zu verlangen, was deren Berufsgrundsätzen widerspricht. Falls es gute Gründe gab, kritisch über ein Unternehmen zu berichten, und falls diese Berichterstattung seriös recherchiert war, so verstossen Medienschaffende in der Tat gegen ihre Berufsgrundsätze und gegen ihr Gewissen, wenn sie sich durch Druck bewegen lassen, sich von dieser Berichterstattung zu distanzieren oder künftig quasi das Gegenteil zu veröffentlichen.

– Und schliesslich hält lit. c) der Rechte in der Erklärung fest: „Sie dürfen jede Weisung und jede Einmischung zurückweisen, die gegen die allgemeine Linie ihres Publikationsorgans verstossen. (…)“ Falls Medienschaffende mit ihrer bisherigen Arbeit im Einklang mit der allgemeinen Linie ihres Mediums standen, so entspricht ein Boykott einer Einmischung, die die Journalistinnen und Journalisten zur Abkehr von dieser Linie bewegen will. Auch hier sind wieder die Verleger und die Radio-/Fernsehdirektoren im Spiel: Nur wenn sie mitmachen, kommt die Einmischung überhaupt zustande. Und solche Einmischungen müssen Medienschaffende aus ethischen Gründen zurückweisen.

8. Medienschaffende haben also nicht nur allen Grund, sondern auch die Pflicht, sich aus ethischen Gründen gegen Boykottmassnahmen der werbenden Wirtschaft oder gegen die Willfährigkeit der Verleger und Radio-/Fernsehdirektoren zu wehren. Dies gilt umso mehr, als die geltende Rechtsordnung die Wirtschaft zu Unrecht und – wie Urs Saxer zeigt – im Konflikt mit Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention – gegenüber den Medien privilegiert (Vgl. „Aktuelle Juristische Praxis“ AJP, 9/94, S. 1138, insbes. Anm. 10). Übrigens anerkennt selbst die Kartellkommission, dass marktmächtige Unternehmen ihre Macht nicht zum Zwecke missbrauchen dürfen, um die redaktionelle Linie zu beeinflussen, auch dann nicht, wenn redaktionell Kritik an den betreffenden Unternehmen oder ihren Produkten geübt wird.

„Redaktionelle
Kritik, die auf die (gerade auch in einer freien Wirtschaft) ‚öffentliche‘ Funktion von Unternehmungen zielt, darf somit durch Kartelle oder ähnliche Organisationen nicht mit Inseratensperre quittiert werden. Denn solche Kritik liegt im öffentlichen Interesse und ist Aufgabe der Meinungspresse auch dann, wenn sie den Inserenten nicht passt. Vorausgesetzt wird dabei freilich, dass kritische Tatsachenbehauptungen wahr sind, dass blosse Meinungsäusserungen fair bleiben und klar als solche deklariert werden“, schrieb die Kartellkommission (Kartellkommission: Anzeigensperre „Tages-Anzeiger“, Heft 1/1981, S 82). Im übrigen blieb die Kartellkommission in ihren Schlussfolgerungen und Empfehlungen sehr stark darauf bedacht, nur Medien als werbewürdig zu betrachten, die das freie Unternehmertum bejahen. Das kapitalistische Glaubensbekenntnis wird also vorausgesetzt. Dies hält vor dem Grundrecht der Meinungsäusserungsfreiheit allerdings nicht stand.

9. Für den Presserat sind die Bedingungen, die die Medienschaffenden erfüllen müssen, viel einfacher: Die Medienschaffenden müssen seriös recherchieren, zu unterscheiden wissen zwischen öffentlich relevanten Tatbeständen und privaten, ja intimen Interna und in ihrer Berichterstattung fair bleiben, d.h. Angeschuldigte, ins Zwielicht Gezogene, Opfer und Kontrahenten in einem Konflikt zu Wort kommen lassen. Das ist alles. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, gibt es keine Rechtfertigung für wirtschaftlichen Druck auf die Medien und damit auf die Medienschaffenden.

III. Feststellungen

Aus diesen Gründen stellt der Presserat fest:

1. Wo es um Güterabwägungen zwischen den Interessen der werbenden Wirtschaft und den Interessen der Medienschaffenden geht, besteht ein Konflikt zwischen der Handels- und Gewerbefreiheit und der Pressefreiheit. In höherem staatspolitischen Interesse sollte die Pressefreiheit indessen Vorrang geniessen. Denn die Bedeutung der Meinungsäusserungsfreiheit für den demokratischen Diskurs und die Rolle der Medien als Bestandesträger der Demokratie verschaffen der Pressefreiheit eine besondere Stellung im Katalog der Grundrechte.

2. Die Trennung zwischen redaktionellem Teil und Werbeteil in den Medien muss unter allen Umständen hochgehalten werden. Ohne die Trennung ist das Recht auf Information nicht mehr gewährleistet. Die Medienschaffenden haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, sich für diese Trennung einzusetzen.

3. Wie jede Person und jede Institution, über die berichtet wird, hat auch die werbende Wirtschaft Anspruch auf faire Behandlung in den Medien.

4. Wo trotz fairer journalistischer Arbeit Differenzen entstehen, sind die Lösungen unter Einbezug der Redaktion offen zu diskutieren. Berechtigte Anliegen können mit Zusatzrecherchen oder einem Interview aufgefangen werden. Wo Behauptungen gegen Behauptungen stehen, besteht das Rechtsinstitut der Gegendarstellung.

5. Macht ein Unternehmen oder ein ganzes Kartell hingegen vom Mittel des Werbeboykotts Gebrauch, so ist sofort Öffentlichkeit herzustellen. Die Berufsethik legitimiert die Medienschaffenden zur Herstellung von Öffentlichkeit. Wird der Boykott breit und nachhaltig thematisiert, so schadet sich der Boykotteur selber. Ein Abbruch lässt in einem solchen Fall in der Regel nicht lange auf sich warten.

6. Gelingt es indessen nicht, Öffentlichkeit herzustellen, oder wird der Boykott nicht abgebrochen, so ist es Sache der Medienverbände, sich im Sinne der Solidarität einzuschalten. Betroffene Medien sollen die Meldestelle des Schweizerischen Verbandes der Zeitungs- und Zeitschriftenverleger anrufen. Die Verbände der Medienschaffenden sollen zusammen mit den Verlegern versuchen, im Sinne eines Boykottabbruchs Einfluss zu nehmen. Diese Interessenwahrung ist gerade zum Schutze kleiner Zeitungen und Lokalradios von grosser Bedeutung. Sollten sich die Boykottfälle in Zukunft vermehren, müsste die Einrichtung einer Ombudsperson geprüft werden.

7. Die Medienschaffenden sind ethisch verpflichtet, unzumutbare Forderungen, die mit einem Boykott durchgesetzt werden sollen, abzulehnen und auf seriös recherchierten, gut begründeten Positionen zu beharren.