I. Sachverhalt
A. Anfangs Juni 2003 stellte X. den Redaktionen von «Tages-Anzeiger» und «Zürcher Unterländer» im Zusammenhang mit dem G-8-Gipfel von Evian einen gleichlautenden Leserbrief mit dem Titel «Am Ende des Rechtsstaates?» zur Veröffentlichung zu. Der Text des Leserbriefes lautete:
«Die Schweiz reibt sich die Augen und weiss noch nicht so richtig, was ihr passiert ist. Trotz Verstärkung aus dem Ausland kann der Rechtsstaat nicht geschützt werden, ermunterte Chaoten scheinen effizienter zu sein als eine verunsicherte Polizeiführung. Man bestimmt ein Vermummungsverbot, lässt die Vermummten dann aber trotzdem gewähren, gewisse Demonstrationen werden nicht bewilligt, man gibt ihnen den Weg aber trotzdem frei. Der mit Millionen von Steuergeldern aufgestellte Ordnungsapparat scheint gehemmt.
Natürlich muss man sich fragen, ob da nicht Ðauf höherer politischer Ebeneð entschieden wurde, der bisher so privilegierten Schweiz eins auszuwischen. Weshalb wurde denn der Gipfel nicht irgendwo im Zentrum Frankreichs organisiert, sondern an der Grenze zur Ðpetite Suisseð? Warum wird die Alpenrepublik gleichzeitig vom anderen grossen Nachbarn im Kern bedrängt mit der Anflugregelung auf den Wirtschaftsmotor Flughafen? Scheinen da gewisse Nachbarn an einer geschwächten Schweiz interessiert zu sein?
So beginnen dann, wie üblich nach solchen Ereignissen, die Schuldzuweisungen zwischen den Parteien. Viele realisieren aber, dass wir mit dieser Masche nicht zu einem Ziel kommen, der Wurmfrass liegt tiefer.
In unserer Gesellschaft hat sich über die letzten rund 40 Jahre ein Rechtsverständnis entwickelt, in welchem jeder seine eigenen Interessen an erste Stelle setzt. Ein junger Mann sagt mir zum Beispiel, er fühle sich absolut berechtigt, in gewissen Situationen einen Molotowcocktail gegen die etablierte Gesellschaft zu werfen. Das Drama rund um den G-8-Gipfel entspricht in etwa dieser Grundhaltung. Nicht mehr das etablierte Recht gilt, sondern was das Individuum als momentan richtig empfindet.
Wenn wir wieder eine stabilere Zukunft wollen, müssen wir den tieferen Grund dieser Entwicklung erforschen. Die verstaubte Präambel zu unserer Bundesverfassung lautet: ÐIm Namen Gottes des Allmächtigenð. Das heisst nichts anderes, als dass die Leitlinien unseres Schöpfergottes befolgt werden sollen, auch in der Politik. Doch davon entfernen wir uns in unserem paranoiden Drang nach Individualität immer mehr, wir wollen keine höhere Macht mehr über uns! Auf diese Weise zum Zufallsprodukt ÐMenschð degradiert, sind den Auswüchsen keine Grenzen mehr gesetzt.
Es hat einmal jemand treffend gesagt: Wenn Menschen gottlos werden … sind Regierungen ratlos … Lügen grenzenlos … Schulden zahllos … Besprechungen ergebnislos … Aufklärungen hirnlos … Christen gebetslos … Kirchen kraftlos … Völker friedlos … Sitten zügellos … Mode schamlos … Verbrechen masslos … Konferenzen endlos … Aussichten trostlos.
Ich wünschte mir, dass unsere Regierung zurückfindet zu den Werten unseres Schöpfers und dass diese auch in den Schulen wieder unterrichtet werden, damit es im Rückblick auf die Schweizergeschichte nicht einmal das gleiche heisst wie in der Rückschau auf die chaotische Zeit der Richter im Volk Israel: ÐJeder tat, was ihn recht dünkte.ð»
B. Der «Zürcher Unterländer» druckte den Leserbrief am 7. Juni 2003 ungekürzt ab; der «Tages-Anzeiger» liess in seiner Ausgabe vom 6. Juni 2003 die erste Hälfte des Textes weg und veröffentlichte lediglich die zweite, ihrerseits noch einmal leicht redigierte und gekürzte Hälfte ab dem Satz «Wenn wir wieder eine stabilere Zukunft wollen, müssen wir den tieferen Grund dieser Entwicklung erforschen.» bis am Schluss. Dies unter dem Titel «Am Gängelband der Wirtschaft» und dem Untertitel: «G-8 kündet Aufschwung für 2003 an, TA vom 3.6.»).
C. Am 15. Juli 2003 gelangte X. an den Presserat und rügte die «Entstellung» seines Leserbriefes durch den «Tages-Anzeiger». «Wie ersichtlich, ging es mir darum, die veränderte Rechtsethik als Folge der 68er-Bewegung (Elimination von fixen Werten) in unserer Gesellschaft zu beleuchten. Durch das Weglassen der ganzen diesbezüglichen Einleitung und der Publikation unter einem ganz anderen Titel entstand ein ganz verfälschter Eindruck meines Anliegens. Auch verlor der Leserbrief jegliche Logik und Leser, welche mich kennen, mussten annehmen, ich sei wohl neuerdings etwas verwirrt. Eine solche Entstellung eines Leserbriefes ist laut den Richtlinien des Presserates nicht statthaft.»
D. In einer Stellungnahme vom 15. August Juni 2003 wies die durch ihren Rechtsdienst vertretene Redaktion des «Tages-Anzeigers» die Beschwerde als unbegründet zurück. Es treffe zu, dass der «Tages-Anzeiger» den Leserbrief des Beschwerdeführers gekürzt habe. Die Zeitung weise ihre Leserschaft in unregelmässigen Abständen darauf hin, dass sie sich vorbehalte, Leserbriefe zu redigieren und zu kürzen. Die Redaktion habe sich wegen des zu langen Leserbriefes des Beschwerdeführers für eine Kürzung entschieden. Dabei sei der Inhalt aber nicht entstellt worden. «Es mag sein, dass es dem Beschwerdeführer persönlich darum ging, die veränderte Rechtsethik als Folge der 68er-Generation zu beleuchten. Das konnte die Forumsredaktion aber nicht wissen. Sie erhielt die Zuschrift unter dem Titel ÐAm Ende des Rechtsstaates?ð und ohne jede weitere Bemerkung. Publiziert wurde die konkrete Forderung des Beschwerdeführers. Dies ist ein übliches Vorgehen. Die Forumsredaktion geht davon aus, dass – ohne anderslautende Angaben des Autors – die Leserbriefschreiber vor allem ihre Forderungen, Verbesserungsvorschläge und dergl. veröffentlicht sehen wollen. Dass die Herleitung seiner Forderung gestrichen wurde, mag dem Beschwerdeführer nicht gefallen haben; eine Entstellung des Leserbriefes ist darin aber nicht zu erblicken. (…) Es trifft nicht zu, dass ohne die Herleitung die wesentliche Idee der Zuschrift überhaupt nicht zum Ausdruck gekommen und über das Anliegen des Beschwerdeführers ein Ðganz verfälschter Eindruckð entstanden ist, wie der Beschwerdeführer behauptet. Einzuräumen ist einzig, dass im ersten Satz der publizierten Zuschrift die Überleitung nicht optimal redigiert worden ist.»
E. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder sonstwie von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.
F. Am 27. August 2003 erklärte der Presserat den Schriftenwechsel als geschlossen und teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt.
G. Das Presseratspräsidium bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer und den Vizepräsidenten Daniel Cornu und Esther Diener-Morscher hat die vorliegende Stellungnahme per 31. Oktober 2003 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Der Beschwerdeführer rügt eine «Entstellung» seines Leserbriefes durch den «Tages-Anzeiger», mithin also eine Verletzung der Richtlinie 5.2 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Leserbriefe). Nach dieser Bestimmung dürfen Leserbriefe «redigiert und dem Sinn entsprechend gekürzt werden. Aus Transparenzgründen sollte die Leserinnen- und Leserbriefseite einen regelmässigen Hinweis enthalten, dass sich die Redaktion das Kürzungsrecht vorbehält. Von der Kürzung ausgenommen sind Fälle, in denen ein Leserinnen- und Leserbriefschreiber auf dem Abdruck des integralen Textes besteht. Dann ist entweder diesem Wunsch nachzugeben oder die Veröffentlichung abzulehnen.»
2. In der Stellungnahme 15/98 i.S. B. c. «Basler Zeitung» hat der Presserat festgehalten, dass auch die Kürzung von Leserbriefen nach journalistischen Kr
iterien und entsprechend den berufsethischen Regeln erfolgen sollte. Allerdings auferlegt sich der Presserat bei der Überprüfung des Umgangs der Redaktionen mit Leserbriefen und weiteren redaktionsexternen Texten von Nichtjournalisten (z.B. Kolumnen) eine gewisse Zurückhaltung. Dementsprechend hat er jüngst in zwei Stellungnahmen (31 und 33/2003) daran festgehalten, dass die Bearbeiter von Leserbriefen allfällige Kürzungen nicht willkürlich vornehmen und zudem keine offensichtlich ehrverletzenden oder diskriminierenden Texte von Nichtjournalisten veröffentlichen dürfen. In diesem Sinne ist vom Presserat vorliegend nicht zu prüfen, ob er den Leserbrief des Beschwerdeführers gleich oder ähnlich redigiert hätte, sondern einzig, ob der «Tages-Anzeiger» den Leserbrief in willkürlicher Weise gekürzt hat.
3. Allein schon aufgrund der Länge seines Leserbriefes konnte der Beschwerdeführer bei einem Medium wie dem «Tages-Anzeiger», das täglich eine grosse Zahl von Leserzuschriften erhält und deshalb eine Auswahl treffen muss, von vornherein kaum damit rechnen, dass sein Text ungekürzt abgedruckt würde.
Soweit aus seinem Leserbrief ersichtlich, fordert der Beschwerdeführer darin ausgehend von den Ausschreitungen rund um den G-8-Gipfel vom Juni 2003, dass an Stelle eines aus seiner Sicht allzu individualistischen Rechtsverständnisses wieder vermehrt die «Leitlinien unseres Schöpfergottes» als Massstab in Politik, Recht und Schulen herangezogen werden sollten.
Im Vergleich dazu fehlt in der im «Tages-Anzeiger» abgedruckten gekürzten Fassung des Textes die explizite Anknüpfung an den G-8-Gipfel als Ausgangspunkt der Analyse des Beschwerdeführers (vgl. immerhin aber den Untertitel «G-8 kündet Aufschwung für 2003 an, TA vom 3.6.»). Hingegen wird die Kritik an einem zu individualistischen Rechtsverständnis («Doch davon entfernen wir uns durch unseren paranoiden Drang nach Individualität immer mehr.») ebenso ersichtlich wie die Forderung nach vermehrtem Einbezug christlicher Werte («Ich wünschte mir, dass unsere Regierung zurückfindet zu den Werten unseres Schöpfers und dass diese Werte auch in unseren Schulen unterrichtet werden.»).
Im Ergebnis ist deshalb trotz eines gewissen Verständnisses für die Auffassung des Beschwerdeführers festzuhalten, dass eine andere Bearbeitung des Leserbriefs des Beschwerdeführers zwar denkbar und möglicherweise leserfreundlicher gewesen wäre, dessen wichtigste Aussagen aber auch in der abgedruckten Version nach wie vor enthalten sind. Die Leserbriefredaktion des «Tages-Anzeigers» hat dementsprechend die Grenze zur Willkür nicht überschritten, zumal sie plausible und über den konkreten Fall hinaus verallgemeinerbare Gründe für ihre Vorgehensweise geltend macht (Konzentration auf Forderungen, Verbesserungsvorschläge usw. von Leserbriefschreibern). Daran vermag auch der aufgrund der redaktionellen Bearbeitung offensichtlich verunglückte Satz der abgedruckten Version nichts zu ändern, die sich auf den vorhergehenden nicht publizierten Abschnitt bezieht.
III. Feststellung
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.