Stellungnahme
Werden in einem Artikel schwerwiegende Vorwürfe erhoben, die das Ansehen der Betroffenen beeinträchtigen können, sind diese mit den zentralen Anschuldigungen zu konfrontieren. Sie soll-ten Gelegenheit haben, klar festzuhalten, ob sie die Vorwürfe akzeptieren oder bestreiten. Dabei ist es grundsätzlich unerheb-lich, ob die Vorwürfe von Medienschaffenden erhoben werden oder von einer in einem Artikel porträtierten Person. Prise de position Lorsque des reproches graves, pouvant porter atteinte à la réputation des personnes mises en cause, sont émis dans un article, lesdites personnes doivent être confrontées aux accusa-tions principales. Elles devraient avoir l’occasion de déterminer clairement si elles acceptent les reproches ou les contestent. Cependant, la question n’est pas des savoir si les reproches sont émis par les médias ou par une personne dont l’article en question fait le portrait. Presa di posizione Quando in un articolo sono contenute gravi accuse contro qualcuno, tali da comprometterne la reputazione, la sostanza di esse dev’essere contestata all’accusato, dandogli la possibilità di dichiarare se le accetta o le respinge. E’ irrilevante se le accuse siano formulate dal giornalista o contenute in una cita-zione. |
I. Sachverhalt
A. Im „Anzeiger von Uster“ erschien am 1. März 1997 unter dem Titel „Kleiner Dübendorfer kämpft gegen Stadt“ ein Artikel über D., der sich konse-quent weigert, die ihm auferlegten Nachtparkierungsgebühren zu bezahlen. Die ausführliche Fallschilderung ist angereichert mit Briefzitaten und Aussagen von D. über die Dübendorfer Polizeiabteilung, die J. untersteht. Wegen der nächtlichen Kontrolle der parkierten Autos wirft D. J. unter anderem vor, er „baue vor seiner Haustür die in der früheren DDR abgeschaffte Stasi wieder auf“. Es werde mit „Fichen-Methoden“ gegen Dübendorfer Bürger gearbeitet. Bürger aus den Quartieren würden von der Polizei als Spitzel angeheuert. In einem Kasten zum Text werden einige Tätigkeitsbereiche des „selbsternannten Computergurus“ D. geschildert. Zudem werden zusätzliche Vorwürfe gegen J. erhoben; so wird unter anderem angedeutet, er lasse das Telefon von D. über-wachen („er habe genügend Anhaltspunkte dafür…“) und habe ihm zu Hause aufgelauert. Schliesslich wird J. unterstellt, er operiere gegen D. aus persönli-cher Verletztheit (D. soll J. im zivilen Führungsstab Dübendorfs einmal „massiv attackiert“ haben). J. wird im Artikel keine Gelegenheit geboten, zu den diversen Anwürfen Stellung zu nehmen. Er wird zwar am Ende des Textes zitiert, allerdings nur mit der Aussage, dass D. die geschuldeten Parkgebühren zahlen müsse.
B. J. wandte sich am 22. April mit einer Beschwerde an den Presserat – im Namen des Dübendorfer Amts für Polizei- und Wehrwesen und als Privatper-son. Die Vorwürfe, die im Artikel erhoben würden, seien unhaltbar, schreibt J. Er habe sich auch gar nicht dazu äussern können. Mit dem Journalisten Silvio Seiler hätten zwar zwei Telefongespräche stattgefunden. Das erste Mal sei aber nur ein Termin ausgehandelt worden, und beim zweiten Gespräch sei der Ter-min „wegen angeblicher Verhinderung“ abgesagt worden. Es sei in diesem zweiten Telefongespräch über die geltende Fassung der Verordnung über das nächtliche Dauerparkieren geredet worden, die in der Zeitung wiedergegebene Aussage habe er aber in dieser Form nie gemacht (obwohl sie seiner Meinung durchaus entspreche). Die angeblichen Vorkommnisse im zivilen Führungs-stab entsprechen laut J. nicht der Wahrheit: Er habe D. weder gekannt noch je mit ihm im zivilen Führungsstab zu tun gehabt. Wegen der Anschuldigungen im Artikel sei er in der Öffentlichkeit blossge-stellt worden und habe „dumme Kommentare“ zu hören bekommen. Der „Anzeiger von Uster“ sei eingeladen worden, sich zu entschuldigen, „was bis-her nicht geschah“. In seiner Beschwerde führt Fritz J. an, der Artikel im „Anzeiger von Uster“ habe die Ziffern 1, 3, 4 und 7 der „Erklärung der Pflich-ten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verletzt.
C. In separaten Schreiben nahmen Silvio Seiler und Chefredaktor Oscar Frit-schi Stellung. Seiler anerkennt, dass J. nie zu den Vorwürfen Stellung bezie-hen konnte. Das sei seines Erachtens aber auch gar nicht nötig gewesen, weil sich D. mit seinen Aussagen selber (dis-)qualifiziere. Mit seinem Artikel habe er alles andere gewollt, als J. zu verunglimpfen oder anzugreifen. Es sei ihm vielmehr darum gegangen, „über alltägliche Sorgen und Probleme zwischen nicht ganz pflegeleichten Personen und Amtsstellen“ zu berichten. Hauptartikel wie Kasten seien so verfasst, dass D. als „nicht ganz ernstzunehmende Person“ geschildert würde.
Ganz Ähnlich argumentiert Fritschi: Die Vorwürfe seien jeweils klar als Zitate von D. gekennzeichnet und zudem in einen Gesamtzusammenhang eingebettet, „der sie klar als unglaubwürdige Behauptungen erscheinen lässt“. Deshalb sei es auch nicht nötig gewesen, J. zu befragen, denn ein pauschales Bestreiten dieser Vorwürfe hätte kontraproduktiv gewirkt und eigentlich erst den Eindruck erweckt, man messe den Vorwürfen irgendwelches Gewicht bei. D. werde cha-rakterisiert als „nicht einer der pflegeleichtesten Zeitgenossen“ und „selbsternannter Computerguru“. Es entstehe bald das Bild eines „querulatorischen Michael Kohlhaas“, der im Umgang mit Behörden „jede Contenance“ verliere, Wahnvorstellungen von Bespitzelungen entwickle und die Behörden mit Stasi-Vorwürfen eindecke. Fritschi bestreitet „in aller Form“, dass das J.-Zitat im Artikel erfunden sei. Als Indiz dafür legt er Notizen Seilers zum Telefongespräch mit J. vor. Auch beim angeblichen Vorfall im zivilen Führungsstab steht laut Fritschi Aussage gegen Aussage. Die Schilderung dieses Zwistes diene jedoch erneut der Charakterisierung D. und belaste J. „in keiner Weise“.
D. Die Beschwerde wurde vom Präsidium des Presserats der dritten Kammer überwiesen, der Reinhard Eyer (Präsident), Christian Schwarz, Marie-Therese Larcher und Adi Kälin angehörten. Behandelt wurde der Fall an den Sitzungen der 3. Kammer vom 11. Juni und 21. August 1997.
II. Erwägungen
1. Nach ständiger Praxis des Presserats leitet sich aus der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ keine Pflicht zu objektiver Berichterstattung ab (vgl. dazu die Stellungnahmen i.S. Uptrend c. „Beobachter“ vom 26. Juni 1996 oder Rhyner/Marti c. „Weltwoche“ vom 9. April 1997). Kritische Beiträge sind durchaus konform mit den medien-ethischen Richtlinien, auf die sich die Arbeit des Presserats stützt. Erhöhte Anforderungen an die journalistische Sorgfalt werden jedoch immer dann ge-stellt, wenn schwere Vorwürfe gegen einzelne Personen erhoben werden, die das Ansehen der Betroffenen beeinträchtigen können (abgeleitet aus Ziffern 1 und 3 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journa-listen“). Um dieser erhöhten Sorgfaltspflicht genüge zu tun müssen die Beschuldigten mit den zentralen Vorwürfen konfrontiert werden. Im Artikel muss klar festgehalten sein, ob sie die Vorwürfe akzeptieren oder sie bestreiten.
2. Die Vorwürfe, die D. im Artikel von Silvio Seiler erhebt, wiegen schwer. Es bleibt nicht bei der pauschalen Anschuldigung, J. bediene sich Stasimetho-den; immer wieder wird auch angedeutet, wie diese ausgestaltet sein könnten. Es ist von Fichen-Methoden die Rede, von Anheuerung privater Spitzel, von Telefonüberwachung. Der Chef der Polizeiabteilung, der immer wieder nament-lich genannt wird, gerät in den Verdacht, sein Amt zu missbrauchen und un-botmässige Mittel gegen Bürger einzusetzen – und das in einem Fall, bei dem es „nur“ um die Bezahlung einer Parkgebühr geht. S
chwerwiegend ist auch der Vorwurf, J. handle aus persönlicher Betroffenheit und könne sich nur deshalb nicht mit D. verständigen, weil er von ihm einmal verbal attackiert worden sei.
3. Seiler und Fritschi sind der Ansicht, diese Vorwürfe würden in sich zu-sammenfallen, weil deren Urheber als unglaubwürdige Person geschildert werde. Dieser Haltung kann sich der Presserat nur zum Teil anschliessen. Es gibt im Text zwar tatsächlich die negativ konnotierten Eigenschaften, die D. zugeschrieben werden („selbsternannter Computerguru“, „verliert jede Conten-ance“). Es gibt aber auch diverse Stellen im Text, die das Bild eines Mannes vermitteln, der zwar nicht gerade feinfühlig agiert und auch beim Einsatz seiner Mittel nicht wählerisch ist, der aber für eine gute Sache kämpft (Das Bild eben des Kleist’schen Kohlhaas, der ja auch von Oscar Fritschi als Vergleichs-beispiel angeführt wird). Diesen Eindruck erweckt bereits der Titel, der den Kampf des „Kleinen“ gegen die Stadt ankündigt. Wenn D. als jemand geschil-dert wird, der „nicht pflegeleicht“ ist und „nicht klein beigeben“ will, entsteht eher das Bild einer charakterfesten, nicht leicht beeinflussbaren Person. Wes-halb seine Aussagen daher unglaubwürdig sein sollen, ist nicht einsehbar. Kommt hinzu, dass D. in Sachen Nachtparkieren kein Einzelkämpfer ist: Wie im Artikel geschildert wird, hatte ein früherer Rekurs gegen die entsprechende Verordnung Erfolg, und dieses musste auf Anweisung des Bezirksrats geändert werden. Die Vorwürfe, die im Artikel erhoben werden, sind also nicht klar als Hirngespinste eines „nicht ernstzunehmenden“ Einzelkämpfers erkenntlich, wie Fritschi und Seiler meinen. J. hätte deshalb unbedingt Gelegenheit erhalten müssen, dazu Stellung zu nehmen. Der Artikel verstösst, weil dies unterlassen wurde, gegen die Ziffern 3 und 7 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ (Sie (die Journalisten) unterschlagen keine wichtigen Elemente von Informationen… /Sie unterlassen … sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen).
4. Auf den ersten Blick erscheint der Artikel im „Anzeiger von Uster“ als Porträt von Walter D. Der überwiegende Teil des Textes ist dann allerdings der Parkierverordnung gewidmet; von D. erfährt man – abgesehen vom konkreten Fall – wenig. Diesen Eindruck bestätigt auch Chefredaktor Oscar Fritschi: Der Artikel habe ein aktuelles kommunalpolitisches Thema aufgreifen wollen, dieses aber „nicht in abstrakter Form“, sondern „im Rahmen eines featurearti-gen Berichts“ abhandeln wollen. Laut Fritschi geht es konkret um den „Einzug der Nachtparkiergebühren nach einer vorgenommenen Anpassung der entspre-chenden Verordnung“. Anhand einer Alltagsstreitigkeit habe man gleichzeitig illustrieren wollen, „mit welchen Sorgen sich die Behörden beim Durchsetzen der Verordnung … konfrontiert sehen“. Für den Presserat ist nicht einsichtig, warum man die Sorgen der Behörden thematisieren will, ohne die hauptsäch-lich verantwortlichen Behördenstellen dazu ausführlich zu befragen. Auch aus dieser Betrachtungsweise ist Ziff. 3 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ tangiert.
5. In zwei Detailfragen steht Aussage gegen Aussage: Es geht zum einen um den Vorwurf von J., die im Artikel wiedergegebene Aussage habe er nie in dieser Form gemacht, zum andern um den angeblichen Vorfall im zivilen Füh-rungsstab. In beiden Fragen kann sich der Presserat nicht dazu äussern, welche Version der Wahrheit entspricht. Eine entsprechende Recherche und Befragung würde seine Möglichkeiten übersteigen. Zum angeblichen Zwist im Führungs-stab lässt sich auch so festhalten, dass die Anschuldigungen genauer hätten abgeklärt werden müssen, zumal der Vorwurf, J. handle als Amtsträger aus persönlichen Motiven, massiv ist und der Recherchieraufwand relativ gering gewesen wäre.
III. Feststellungen
1. Erhebt ein Artikel schwerwiegende Vorwürfe, die das Ansehen der Beschul-digten beeinträchtigen können, sind diese mit den zentralen Anschuldigungen zu konfrontieren. Sie sollen Gelegenheit haben, klar festzuhalten, ob sie die Vorwürfe akzeptieren oder bestreiten. Dabei ist es grundsätzlich unerheblich, ob die Vorwürfe vom Journalisten erhoben werden oder von einer im Artikel porträtierten Person.
2. Mit dem Artikel „Kleiner Dübendorfer kämpft gegen die Stadt“ hat der „Anzeiger von Uster“ gegen die Ziff. 3 und 7 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verstossen. Um der Sorgfalts-pflicht genüge zu tun, hätte angesichts der schweren Vorwürfe dem hauptsäch-lich beschuldigten Chef der Dübendorfer Polizeiabteilung Gelegenheit zu einer Stellungnahme gegeben werden müssen. Allein aus der Charakterisierung des Urhebers der Vorwürfe lässt sich deren Haltlosigkeit nicht schlüssig herleiten.