Nr. 88/2020
Privatsphäre

(X. und Y. c. «bazonline.ch»)

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Zusammenfassung

Im Rahmen einer kritischen Berichterstattung über die Arbeit einer KESB-Behörde veröffentlichte die «Basler Zeitung» einen Artikel, welcher den Zwischenstand im Verfahren um ein Mädchen mit dem fiktiven Namen «Nathalie» schildert.

Das Kind macht, so der Artikel, seit langem geltend, es werde bei seinen Wochenend- Besuchen von seinem Vater sexuell missbraucht und die Kesb unternehme zu wenig dagegen. Der Online-Version des Artikels sind zwei Audiodateien beigefügt, in welcher man das Mädchen mit unverfälschter Stimme gegenüber einer Therapeutin schildern hört, wie sein Vater es bedrohe und missbrauche. Zusätzlich waren weitere Angaben über das Mädchen vermerkt.

Sowohl die Beiständin des Mädchens als auch eine weitere Person erhoben Beschwerde, weil die Veröffentlichung der Aufnahmen die Privatsphäre des Mädchens verletzten.

Dem hat der Presserat zugestimmt. Er sieht sowohl den Schutz von Kindern bei Gewaltverbrechen als auch den Opferschutz bei Sexualverbrechen durch die Publikation der Aufnahmen des Gespräches eines Kindes mit einer Therapeutin grob verletzt. Durch die unverfälschte Stimme sowie durch verschiedene weitere Angaben wurde das Kind nicht in genügendem Masse anonymisiert, sein intimster Privatbereich ist exponiert worden. Der Presserat empfiehlt der BaZ dringend, die beiden Audios aus dem Netz zu nehmen.

Résumé

Dans le cadre d’un compte rendu critique du travail d’une APEA, la «Basler Zeitung» a publié un article exposant le stade intermédiaire d’une procédure concernant une fillette répondant au prénom fictif de «Nathalie».

Selon l’article, l’enfant se plaint depuis longtemps d’être victime d’abus sexuels de la part de son père quand elle lui rend visite le week-end et que l’APEA en fait trop peu pour y remédier. L’article en ligne est complété par deux fichiers audio, dans lesquels on entend la fillette raconter à une thérapeute, d’une voix qui n’est pas modifiée, comment son père la menace et abuse d’elle. D’autres indications étaient également fournies au sujet de la fillette.

La curatrice de la fillette et une autre personne ont porté plainte, parce que la publication des enregistrements viole la sphère privée de la fillette.

Le Conseil de la presse a accepté la plainte. Il considère que la publication des enregistrements des échanges entre un enfant et son thérapeute viole gravement la protection des enfants de crimes violents aussi bien que la protection des victimes d’infraction contre l’intégrité sexuelle. Le fait que la voix de l’enfant ne soit pas modifiée et que d’autres indications soient publiées à son sujet ne respecte pas suffisamment son anonymat, sa sphère privée la plus intime est exposée. Le Conseil de la presse recommande d’urgence à la BaZ de supprimer les enregistrements de son site.

Riassunto

All’interno di un servizio di critica dell’attività dell’Autorità di protezione del bambino e dell’adulto (Kesb) del Canton Soletta, il quotidiano «Basler Zeitung» pubblicava un articolo sugli ultimi sviluppi del caso di una bambina descritta con il nome di copertura «Nathalie». Nel servizio si legge che la bambina ha più volte segnalato all’Autorità che durante le visite del fine settimana fatte a suo padre le accade di essere maltrattata e abusata sessualmente: l’Autorità avrebbe fatto poco per proteggerla. Nella versione online del servizio si può accedere a due documenti sonori in cui la voce (non modificata) della ragazza descrive a una terapeuta in che modo suo padre la minacci e la abusi. A parte vengono dati altri dettagli su di lei.

Al Consiglio svizzero della stampa si sono rivolti sia la sua curatrice sia una terza persona, asserendo che la divulgazione dei documenti sonori rappresenta una violazione della sfera intima della ragazza. Il Consiglio della stampa ha accolto il reclamo. La divulgazione delle registrazioni del colloquio della ragazza con la terapeuta è una violazione grave del principio della protezione dei minori vittime di abusi sessuali. La diffusione della voce della ragazza, come pure i particolari che la descrivono senza precauzioni, rappresentano una grave violazione della sua sfera intima.

I. Sachverhalt

A. Am 6. Juni 2020 veröffentlichte «bazonline.ch» einen Artikel von Daniel Wahl mit dem Titel «Kein Strafverfahren gegen Chefärztin der Kinderpsychiatrie Baselland». Darin wird zunächst der mutmassliche Missbrauchsfall eines achtjährigen Mädchens und dessen unzulängliche Behandlung durch die zuständige Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) resümiert, eine Problematik, welche die «Basler Zeitung» (BaZ) schon zuvor verschiedentlich behandelt hatte. Das Mädchen, von der BaZ mit dem Pseudonym «Nathalie» versehen, versuche seit einem Jahr seine Erlebnisse mit seinem Vater loszuwerden, doch niemand von der Kesb höre ihr zu. In diesem Zusammenhang wird im erwähnten Artikel eine Art Zwischenstand des Verfahrens beschrieben.

Ergänzt wird der Artikel mit zwei Audiodateien. Die eine ist überschrieben mit: «Die dramatischen Aussagen des Kindes vor einem Jahr liess die Kesb nicht aktiv werden.»
Darin (Länge 3 Minuten 38 Sekunden) hört man das Kind, offenbar in einem Gespräch mit einer Therapeutin. Es erklärt darin unter anderem, es habe mit seinem Vater auf die Toilette gehen und seinen Penis anschauen müssen. Sie habe immer Bauchweh, wenn sie zum Vater gehen müsse und sie habe Angst vor dem Vater. Sie habe ihn nicht gern und möchte nicht mehr zu ihm gehen.

Das zweite Audio (2 Minuten 48 Sekunden lang) ist überschreiben mit: «Im April vertraut Nathalie der Kinder- und Jugendpsychiatrie an, wie sie vom Vater missbraucht worden sei.» Darin hört man das Mädchen erzählen, wie ihr Vater sexuelle Handlungen an ihr vornehmen wollte, dass er ihm gedroht habe, es umzubringen, dass er unter anderem auf ein Foto von ihm ejakuliert habe etc.

Auf beiden Dateien ist je ein Foto eines Mädchens zu sehen, dessen Gesichtszüge unkenntlich gemacht worden sind. Der Rest der beiden Bilder, insbesondere die Kleidung, die Umgebung, Umrisse der Frisur sind deutlich sichtbar.

B. Am 14. Juni 2020 reichte X. Beschwerde gegen den Artikel beim Schweizer Presserat ein. Sie macht einen «krassen Verstoss» gegen die Ziffer 7 (Schutz der Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend. Sie kritisiert, die alleinige Tatsache, dass hier die Aussagen eines Mädchens über die sexuellen Übergriffe seines Vaters veröffentlicht werden, beinhalte eine krasse Persönlichkeitsverletzung und zwar unabhängig davon, ob die Aussagen des Mädchens stimmten oder nicht. Diese Veröffentlichung der Aussagen einer Achtjährigen, insbesondere in Kombination mit den Fotos, auf denen die Kleidung und die Umgebung des Mädchens problemlos zu erkennen seien, sei «geradezu skandalös». Die Beschwerdeführerin (BF 1) stellt auch in Frage, ob hier eine Zustimmung der Erziehungsberechtigten zur Veröffentlichung dieser Aufnahmen vorgelegen habe, und ob hier nicht das Arztgeheimnis der auf der Aufnahme zu hörenden Therapeutin verletzt worden sei.

C. Am 27. August 2020 wurde eine zweite Beschwerde zum gleichen Sachverhalt erhoben. Die Anwältin erhob Beschwerde im Namen des betroffenen Mädchens «Nathalie». Sie belegt, dass sie von der zuständigen Kesb beauftragt worden ist, im Namen von «Nathalie» Beschwerde beim Presserat einzureichen und dass sie schon früher, seit dem 18. Dezember 2019, als Prozessbeiständin des Kindes fungiere bezogen auf das Strafverfahren gegen den Vater, dies angesichts der «offensichtlichen Interessenkonflikte zwischen den Eltern».

Rechtlich gesehen ist damit das Kind «Nathalie» Beschwerdeführerin, vertreten durch seine Beiständin. Der leichteren Verständlichkeit halber bezeichnet der Presserat im Folgenden aber die Beiständin als «Beschwerdeführerin 2» (BF 2). Denn es ist sie, nicht das Kind, die Beschwerde eingereicht hat, es ist die Beiständin, die sich äussert. Das Kind wird weiterhin mit seinem Pseudonym als «Nathalie» benannt und nicht mit dem von der Beiständin gegenüber dem Presserat offengelegten wirklichen Namen.

Diese zweite Beschwerdeführerin bezieht sich mit ihrer Beschwerde im Namen des Kindes ebenfalls auf die beiden publizierten Aufnahmen der Achtjährigen. Mit der Veröffentlichung der beiden Gespräche und mit deren Bebilderung sieht die BF 2 die folgenden zur «Erklärung» gehörenden Richtlinien verletzt: 3.1 (Quellenbearbeitung), 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen), 7.1 (Schutz der Privatsphäre), 7.2 (Identifizierung), 7.3 (erhöhter Schutz Kinder), 7.7 (Sexualdelikte), 8.3 (Opferschutz).

a) Die Anforderung an die Quellenarbeit (Richtlinie 3.1) sei dadurch verletzt, dass «bazonline» keine Angaben über die Quelle mache und dass suggeriert werde, die erste Aussage sei ein Jahr alt. Das treffe nicht zu, sie stamme vom 16. April 2020.

b) Das Gebot der Anhörung bei schweren Vorwürfen (Richtlinie 3.8) sei verletzt, weil weder die Kesb noch die Kinderpsychiatrie Baselland, sie, die Beiständin, noch der Vater Gelegenheit erhalten hätten, zu den erhobenen schweren Vorwürfen Stellung zu nehmen.

c) Der Schutz der Privatsphäre (Richtlinie 7.1) sei «massiv verletzt» worden. Ein Gespräch in einer kinderpsychiatrischen Therapie gehöre ohne Frage zum innersten Privatbereich Das Tonmaterial sei ohne Einwilligung der Betroffenen veröffentlicht worden. Das Kind könne mit acht Jahren nicht rechtsverbindlich zustimmen, es könne ja auch die Folgen seiner Aussagen gar nicht absehen. Die Mutter habe ebenfalls nicht zustimmen können und dürfen, da dem Kind eine Prozessbeiständin in der strittigen Angelegenheit beigestellt worden sei.

d) Identifizierung (Richtlinie 7.2): Aufgrund der kombinierten Angaben über das Alter des Mädchens, der regionalen Zuständigkeiten von Kesb und Kinderpsychiatrie (Rückschluss auf Wohnort), der Bilder des Mädchens und vor allem dank seiner unverfälscht hörbaren Stimme sei das Mädchen identifizierbar geworden. Dazu habe kein öffentliches Interesse bestanden, wie es die Richtlinie 7.2 voraussetze.

e) Schutz von Kindern, insbesondere bei Gewaltverbrechen (Richtlinie 7.3): Es sei offensichtlich, dass ein Kind, das angibt, Opfer von sexuellem Missbrauch und Todesdrohungen geworden zu sein, ganz besonderen Schutz benötige. Mit der Veröffentlichung seiner Aussagen sei dieses Gebot «mit Füssen getreten worden».

f) Opferschutz bei Sexualdelikten (Richtlinie 7.7): Solche Opfer verdienten besonderen Schutz, insbesondere sei zu verhindern, dass sie identifiziert würden. Genau dies sei hier geschehen. «Nathalie» werde für den Rest ihres Lebens als Missbrauchsopfer gebrandmarkt sein. Ob sie aber effektiv Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sei, stehe noch nicht fest, es sei noch keine Anklage gegen den Vater erhoben worden.

g) Opferschutz allgemein: Die erfolgte Identifikation verletzte das Gebot des Schutzes von Opfern, das Internet vergesse nie, «Nathalies Geschichte», ihre Aussagen dazu und deren Folgen würden sie möglicherweise ein Leben lang verfolgen.

h) Hinzu komme, dass die Aussagen des Kindes möglicherweise den Strafprozess gegen seinen Vater ungünstig und in einer vom Mädchen nicht beabsichtigten Weise beeinflussen könnten.

D. Am 16. Juni 2020 bat der Presserat die Redaktion von «bazonline.ch» zur Beschwerde X., am 18. September 2020 zur Beschwerde von Y. Stellung zu nehmen. Gleichzeitig teilte er den Parteien mit, die beiden Beschwerden, die den gleichen Gegenstand zum Thema haben, würden zusammengelegt und gemeinsam behandelt.

E. Am 31. August und am 19. Oktober 2020 nahm die Rechtsabteilung der TX Group im Namen der Redaktion von «bazonline.ch» zu den beiden Beschwerden Stellung. Sie, die Beschwerdegegnerin (BG), beantragt Ablehnung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.

In einer Vorbemerkung zur zweiten Beschwerde bestreitet die BG, dass die BF 2 das Wohl des Kindes vertrete. Sie habe nie mit der Kindsmutter oder dem Kind gesprochen, sie habe Befragungen versäumt, entsprechend vertrete sie wohl die Kesb, aber nicht das Kind. Die Berichterstattung habe dem Kind – anders als behauptet – geholfen, das zeige auch ein Dankesschreiben des Kindes. Weiter argumentiert die BG in ihrer zweiten, ausführlicheren Antwort (zur ersten, kürzeren wird an entsprechenden Stellen zurückgekommen):

a) Die Bestimmung zur Quellenbearbeitung (Richtlinie 3.1) sei sehr wohl eingehalten worden: Es sei klar, wer spreche, woher die Aufnahme stamme (Jugendpsychiatrie Baselland). Die Quelle sei klar. Woher der Autor die Aufnahmen habe, stehe unter Quellenschutz. Die Behauptung, die BaZ habe falsche Angaben zur Quelle gemacht, die erste Aufnahme sei nicht ein Jahr alt, sondern stamme vom April 2020, sei falsch. Sie stamme aus dem Frühjahr 2019 und sei per Mail am 29. August 2019 versandt worden. Das entsprechende Mail wurde als Beleg eingereicht.

b) Die BG verneint eine fehlende Anhörung bei schweren Vorwürfen (Richtlinie 3.8): Es sei niemandem ein illegales oder vergleichbares Verhalten vorgeworfen worden, wie es der Presserat als Voraussetzung für eine Anhörung verlange. Selbst wenn man das anders beurteile, ändere sich nichts: Die BaZ habe die Kesb am 11. Februar 2020 mit den Vorwürfen gegen sie konfrontiert (das Mail darüber wurde der Beschwerdeantwort beigelegt, es nennt verschiedene grundsätzliche Missstände in verschiedenen Kesb-Fällen, darunter im Fall «Nathalie»), es habe auch ein Gespräch zu diesen Sachverhalten gegeben. Bezüglich der Ärztinnen der Kinderpsychiatrie sei die Anhörung nicht erforderlich gewesen, der Artikel sage ausdrücklich, dass die Staatsanwaltschaft kein strafbares Verhalten festgestellt habe. Die BF 2 sei selber nicht betroffen und habe deshalb auch nicht angehört werden müssen, genauso wenig wie der Vater, dieser sei nirgends identifiziert, nicht erkennbar.

c) Der Schutz der Privatsphäre (Richtlinie 7.1): Die Aufnahmen habe nicht die BaZ gemacht. Damit habe sie auch keine Privatsphäre verletzt. Und das Verbreiten dieser Aufnahmen sei nur dann problematisch, wenn die aufgenommene Person identifizierbar sei. Das sei hier aber entschieden nicht der Fall, darauf habe man auch sorgfältig geachtet (siehe unten e). Und selbst wenn man auch dies anders beurteile: Der Autor habe das Einverständnis der Mutter gehabt und gutgläubig davon ausgehen dürfen, dass dies die Veröffentlichung der Aufnahmen decke. Dies umso mehr, als die Beistandschaft der BF 2 für das Kind sich zunächst nur auf ganz begrenzte Bereiche bezogen habe. Erst am 31. August 2020 sei diese ausgeweitet worden auf die Interessenwahrung gegenüber der BaZ. Wenn die Beiständin aber nicht habe zustimmen können, dann bleibe auch wieder nur die Mutter und die sei einverstanden gewesen.

d) Zur Frage der Identifizierung (Richtlinie 7.2) macht die BaZ geltend, diese sei vollumfänglich gewährleistet gewesen. Der Name sei abgeändert, das Gesicht unkenntlich gemacht worden, der Wohnort nicht erwähnt. Dass die örtlichen Zuständigkeiten von Kesb und Jugendpsychiatrie in Kombination mit den Tonaufnahmen möglicherweise für einen ganz begrenzten Kreis Rückschlüsse auf die Herkunft des Kindes zulassen könnten, ändere nichts daran, dass die Privatsphäre gewahrt bleibe. Die Stellungnahme 42/2017 des Presserats bestätige, dass nicht massgebend sein könne, ob eine Identifizierung durch aufwendige Recherchen allenfalls möglich werde. Die Tonaufnahmen seien im Übrigen bewusst publiziert worden, um der Leserschaft die Eindringlichkeit und Glaubwürdigkeit des Anliegens von «Nathalie» nachvollziehbar zu gestalten. Eine schriftliche Zusammenfassung hätte nicht den gleichen Effekt bezüglich Glaubwürdigkeit gehabt. Selbst wenn man von einer Identifizierbarkeit des Kindes ausginge, sei immer noch die Zustimmung der Mutter gegeben.

e) Schutz von Kindern (Richtlinie 7.3): Dieses an sich berechtigte Anliegen falle im konkreten Fall nicht ins Gewicht, weil das betreffende Kind nicht identifiziert worden sei. Gerade weil die BG sich der Wichtigkeit des Schutzes von Kindern bewusst sei, habe man vor der Veröffentlichung nicht nur mit der Mutter, sondern auch mit dem Psychiater der betroffenen Familie über Art und Form der Berichterstattung gesprochen.

f) Sexualdelikte (Richtlinie 7.7): Auch hier gelte: Dem Opferschutz insbesondere bei Sexualdelikten sei vollumfänglich Rechnung getragen worden, indem man das Opfer nicht identifiziert habe. Dasselbe gelte entsprechend beim Thema …

g) … Opferschutz (Richtlinie 8.3): Weder Kind noch Mutter oder Vater seien aufgrund des Artikels identifizierbar.

In einer abschliessenden Bemerkung betont die BaZ, dass die kritische Beobachtung von Institutionen wie der Kesb – anders als von der BF 2 suggeriert – von erheblichem öffentlichem Interesse sei.

F. Am 27. Oktober 2020 teilte der Presserat den Parteien mit, die beiden vereinigten Beschwerden würden von der ersten Kammer des Presserats behandelt, bestehend aus Casper Selg, Präsident, Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka und Francesca Luvini.

G. Am 4. November 2020 avisierte die Rechtsabteilung der TX Group im Namen der BaZ den Presserat, im Rahmen des Gesuches um eine vorsorgliche Verfügung sei bekannt geworden, dass zwei Vertreterinnen der betreffenden Kesb-Sozialregion am 27. August 2020 eine Strafanzeige gegen die BaZ und den Autor Daniel Wahl eingereicht hätten. Darin machten die Antragstellerinnen geltend, Wahl habe sich mit seinen verschiedenen Artikeln ihnen gegenüber der üblen Nachrede und der falschen Anschuldigung strafbar gemacht. Es gehe in diesem Strafverfahren um die gleichen Angelegenheiten wie in den (insgesamt) drei Beschwerden an den Presserat. Aus den beigelegten Akten ergibt sich, dass es unter anderem auch um den Wahrheitsgehalt der Artikel Wahls zum Fall «Nathalie» geht. Entsprechend beantragt die TX Group, nicht auf die Verfahren gegen die BaZ und Autor Wahl und damit auch nicht auf die vorliegenden Beschwerden einzutreten, da es sich um Parallelverfahren im Sinne von Art. 11 des Geschäftsreglements des Presserates handle.

H. Die erste Kammer hat die vorliegende Stellungnahme an ihrer Sitzung vom 9. November 2020 sowie auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Zunächst ist zu prüfen, ob der Presserat auf die Beschwerden eintritt. Wenn ein gerichtliches Parallelverfahren in gleicher Angelegenheit im Gange ist, tritt der Presserat gemäss Geschäftsreglement Art. 11 nicht auf die Materie ein, es sei denn, er gehe davon aus, dass es um eine medienethische Grundsatzfrage gehe.

In den vorliegenden Beschwerden geht es primär um die Frage der Zulässigkeit der Online-Veröffentlichung von Audiomaterial, in welchem «Nathalie» gegenüber einer Therapeutin über das mutmasslich deliktische Verhalten ihres Vaters ihr gegenüber spricht und die damit verbundenen Fragen (Identifizierung, Schutz Privatsphäre). Nur das ist Gegenstand der Beschwerde der BF 1 und es ist auch Hauptthema der Beschwerde von BF 2. Im Titel nennt die BF 2 sogar nur diese Audios als Beschwerdegegenstand. In ihrem Beschwerdetext wird dann aber auch auf Aspekte hingewiesen, die sich auf den Online-Artikel beziehen, und dort wiederum geht es um Fragen, die sich möglicherweise mit denen des Strafverfahrens überschneiden.

Angesichts dieser Voraussetzungen beschliesst der Presserat zwar Eintreten auf die Beschwerden, er beschränkt sich jedoch auf den Aspekt «Veröffentlichung von Audios» (Art. 17 Abs. 2 Geschäftsreglement). Dieser überschneidet nicht mit dem Thema des Strafverfahrens, er ist in den beiden Strafanzeigen nicht erwähnt. Auf alle weiteren Aspekte im Zusammenhang mit dem Fall «Nathalie» und Kesb wird nicht eingetreten.

Hinzu kommt aus Sicht des Presserates, dass hier ein exemplarischer Fall zur Diskussion steht, was den Inhalt und das krasse Ausmass des geltend gemachten Verstosses angeht. Er tritt auf den Teilaspekt «Audio-Veröffentlichung» deswegen auch unter dem Titel «medienethische Grundsatzfrage» ein.

Wenn die BaZ in ihrer Beschwerdeantwort darauf hinweist, dass die BF 2 nur eine begrenzte Beistandschaft ausübe, in diesem Sinne gar nicht in der Lage gewesen sei, zur Veröffentlichung der Audios Stellung zu nehmen, ändert dies nichts an der Tatsache, dass sie rechtsgültig mandatiert war zur Vertretung der Interessen von «Nathalie» in Angelegenheiten, welche die Auseinandersetzung der Eltern betreffen. Um eine solche geht es hier letztlich.

Es gab im Weiteren keine Einwände dagegen, dass die beiden Beschwerden X. (BF 1) und Y. (BF 2) zusammengelegt werden.

Zur leichteren Verständlichkeit wird im Folgenden – rechtlich nicht präzise, aber inhaltlich leichter verständlich – weiterhin die Beiständin des Kindes als BF 2 bezeichnet. Sie hat die Beschwerde eingereicht, sie argumentiert, nicht das Kind.

2. Was die von der BF 2 kritisierte Quellenbearbeitung (Richtlinie 3.1) seitens der BaZ angeht, so ist festzustellen: Die Quelle ist klar, es geht um Tonaufnahmen, Gespräche der Therapeutin der Jugendpsychiatrie Baselland mit dem Kind, das eine hat vor mehr als einem Jahr, das andere drei Monate vor der Veröffentlichung stattgefunden. Der Einwand der BF 2, wonach die Quellen falsch bezeichnet worden seien, beide Aufnahmen seien neu und kurz nacheinander entstanden, ist angesichts der von der BF 2 eingereichten Belege nicht plausibel. Die erste Aufnahme wurde zeitlich von der BaZ offenbar richtig situiert. Insofern sind die Anforderungen an die Überprüfung der Quelle erfüllt, Richtlinie 3.1 ist nicht verletzt.

Inwieweit die Verwendung des Inhalts dieser Quelle auch legitim war, hängt ab von Fragen, die im Folgenden zu beantworten sind: Einverständnis der dafür Berechtigten, Erkennbarkeit des Kindes (s. unten 4., 5.).

3. Die BF 2 macht geltend, die BaZ erhebe schwere Vorwürfe im Sinne der Richtlinie 3.8, aber weder die Kesb noch die Psychiatrie, sie selber als Beiständin oder der Vater seien mit diesen konfrontiert worden. Hier werden Aspekte des Artikels, des Textes der BaZ zum «Fall Nathalie» angesprochen. Aus den oben unter Erwägung 1 angesprochenen Gründen tritt der Presserat auf diese Vorhaltungen nicht ein, sie betreffen nicht direkt die Veröffentlichung der Audios.

4. Richtlinie 7.1 (Identifizierung) bestimmt, dass das Privatleben von Personen zu schützen sei, insbesondere seien Tonaufnahmen im Privatbereich ohne Einwilligung der Betroffenen untersagt. Beide Beschwerdeführerinnen stellen diese Bestimmung ins Zentrum ihrer Beschwerden.

Es steht fest, dass ein Gespräch mit einer Therapeutin im Innersten des Privatbereichs anzusiedeln ist. Die BF 2 macht geltend, es habe keine gültige Einwilligung zur Veröffentlichung dieses Gesprächs gegeben. Und beide Beschwerdeführerinnen weisen darauf hin, dass selbst wenn die Mutter ihr Einverständnis gegeben haben sollte, dieses nicht von Belang sein könne im Rahmen einer derartigen Auseinandersetzung zwischen den Eltern. BF 2 macht zusätzlich geltend, sie sei schon damals Prozessbeiständin des Kindes in der Strafsache gegen ihren Vater gewesen, die Mutter habe deswegen der Veröffentlichung gar nicht rechtsgültig zustimmen können. Die BaZ entgegnet, die Mutter habe zugestimmt, sei dazu auch berechtigt gewesen, denn die BF 2 habe das Kind und die Umstände ihres Falles überhaupt nicht gekannt. Vor allem aber sei das Kind in der Veröffentlichung gar nie erkennbar geworden, deshalb sei ihr Privatleben in keiner Weise exponiert worden. Im Übrigen habe auch das Kind selber mehrfach seine Dankbarkeit für die Arbeit des Autors bekundet. Und weiter: Die Aufnahme sei nicht von der BaZ erstellt worden.

Es ist davon auszugehen, dass die Ernennung der BF 2 zur Prozessbeiständin des Kindes in der Strafsache gegen den Vater zur Folge hatte, dass die Zustimmung der Mutter zu einem derart wichtigen Schritt in der Auseinandersetzung zwischen ihr und ihrem Mann um das Schicksal des Kindes nicht rechtswirksam erfolgen konnte. Das von der BaZ angesprochene Einverständnis des Kindes, seine Dankbarkeit dem Autor gegenüber für seine Artikel ist nicht nur rechtlich, sondern auch medienethisch nicht von Belang. Ein achtjähriges Kind kann die längerfristige Tragweite derartiger Vorgänge nicht beurteilen.

Die Frage allerdings, ob das Kind gar nicht identifiziert worden und die Einwilligung entsprechend gar nicht nötig gewesen sei, ist in den nächsten Abschnitten unter den Richtlinien 7.2, 7.3 und 7.7 zu klären.

5. Die zentrale Frage im vorliegenden Fall lautet: Wurde Richtlinie 7.2 (Identifizierung) verletzt, wurde «Nathalie» mit dem Text, den Bildern und den Audios identifiziert, wurde sie erkennbar?

Die Beschwerdeführerinnen sagen: Ja. Die Kombination von Zuständigkeitsbereichen, Alter, Kleidern, Umgebung und vor allem der Stimme des Mädchens lasse zunächst den Wohnort und dann insbesondere auch die Person selber erkennbar werden.

Die BaZ erwidert, «Nathalie» sei unkenntlich gemacht worden. Der Name sei abgeändert, das Gesicht unkenntlich, der Wohnort nicht erwähnt. Dass mit detektivischer Arbeit möglicherweise Hinweise, etwa auf den Wohnort eruierbar sein könnten, sei nicht von Belang: Die Stellungnahme 42/2017 des Presserats bestätige, dass nicht massgebend sein könne, ob eine Identifizierung durch aufwendige Recherchen allenfalls möglich werde. Die Tonaufnahmen seien im Übrigen bewusst gewählt worden, um der Leserschaft die Eindringlichkeit und Glaubwürdigkeit des Anliegens von «Nathalie» nachvollziehbar zu gestalten. Eine schriftliche Zusammenfassung hätte nicht den gleichen Effekt bezüglich Glaubwürdigkeit gehabt.

Richtlinie 7.2 bestimmt, dass – wenn kein öffentliches Interesse an der Identifizierung vorliegt – «weder Namen noch andere Angaben (gemacht werden dürfen), welche die Identifikation durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld des Betroffenen gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden».

Wer «Nathalie» kennt, wird sie fraglos an ihrer Stimme und ihrer Sprechweise sofort wiedererkennen. Die Stimme wurde nicht verfremdet. Diejenigen, die sie sicher an ihrer Stimme wiedererkennen, sind Familie, Verwandte, Bekannte, vor allem aber LehrerInnen, Mitschülerinnen, Mitschüler, FreundInnen. Die lesen zwar nicht alle die BaZ online, es reicht aber, dass einer oder zwei das tun, oder ihre Brüder, Eltern, bis alle SchülerInnen und deren Familien davon wissen. Die Abbildungen, sowie die Angaben, welche auf den Wohnort schliessen lassen, sind geeignet, allfällige Vermutungen zu bestätigen. Es bestand insofern mindestens eine grosse Gefahr, dass dieses äusserst private Gespräch als dasjenige von «Nathalie» die Runde im erwähnten Kreis machen würde. Die Frage lautet, ob dieser Kreis immer noch innerhalb dessen liegt, was Richtlinie 7.2 als Grenze bezeichnet, die nicht überschritten werden darf. Also eine Erkennbarkeit nur für «Familie, soziales und berufliches Umfeld». Das war wohl knapp der Fall. Richtlinie 7.2 wurde insofern nicht verletzt. Das ist aber nicht entscheidend.

6. Richtlinie 7.3 (Kinder), auf welche BF 2 verweist, verlangt darüber hinaus, dass Kinder besonders zu schützen sind. Weiter besagt diese Richtlinie, dass insbesondere im Fall von Gewaltverbrechen «höchste Zurückhaltung» angezeigt sei. Diese höchste Zurückhaltung hat nach Auffassung des Presserates eindeutig nicht gewaltet, wenn das Kind mit seiner für viele sofort erkennbaren, unverfremdeten Stimme präsentiert wird, wie es die Grausamkeiten seines Vaters und seine Angst vor diesem für jedermann zugänglich schildert. Richtlinie 7.3, welche höchste Zurückhaltung in solchen Fällen verlangt, wurde mit der Publikation des Gesprächs offensichtlich klar und schwer verletzt.

7. Die Richtlinie 7.7 (Sexualdelikte) geht noch weiter: Im Fall von Sexualverbrechen – um die geht es hier – wird verlangt, dass keine Angaben gemacht werden, welche die Identifikation des Opfers ermöglichen. Hier werden keine Einschränkungen hinsichtlich eines Kreises von MitwisserInnen mehr genannt. Gegen diese Norm wurde mit dem Veröffentlichen der Audios und dem Zeigen der Bilder ebenfalls klar verstossen. Richtlinie 7.7 wurde unzweideutig verletzt.

Der mit Verweis auf Richtlinie 8.3 als verletzt bezeichnete Opferschutz ist mit den beiden zuletzt erwähnten, spezifischeren Richtlinien 7.3 (Kinder) und 7.7 (Sexualdelikte) abgedeckt.

8. Der Presserat sieht in der Veröffentlichung von höchst vertraulichen Gesprächen eines achtjährigen Kindes mit seiner Therapeutin über erlittene sexuelle Gewalt seitens seines Vaters einen krassen Verstoss gegen die die Prinzipien journalistischer Ethik.

Die BaZ macht geltend, dass mit der Präsentation der Aussagen von «Nathalie» im Original deren Eindringlichkeit und Aufrichtigkeit besser nachvollziehbar geworden sei, als wenn man das nur schriftlich paraphrasiert hätte. Das Audio hat zwar fraglos einen starken Effekt – wie auch immer man den einordnet –, er darf aber ganz sicher nicht auf Kosten der intimsten Privatsphäre eines Kindes gehen. Allein die Gefahr, dass das Kind auf diese Weise bei vielen über Jahre stigmatisiert werden könnte, reicht aus, um eine derartige Publikation als unverantwortlich erscheinen zu lassen. Ebenso beispielsweise die Möglichkeit, dass dieses Material in Pädophilenkreisen die Runde machen könnte.

Die kritische Berichterstattung über die Aktivitäten oder im konkreten Fall die unterlassenen Aktivitäten einer Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde liegt sehr wohl im öffentlichen Interesse und ist zu schützen. Aber die schwere Verletzung der Privatsphäre eines Kindes, die zum Verständnis des Sachverhalts nicht nötig war, lag klar nicht im öffentlichen Interesse.

Der Presserat hält es deshalb auch für dringend angezeigt, dass diese Audios und die Bilder von allen betreffenden Internetseiten entfernt werden.

III. Feststellungen

1. Der Presserat heisst die Beschwerden in der Hauptsache gut.

2. «bazonline» hat mit der Veröffentlichung der beiden Audiodateien zum Artikel «Kein Strafverfahren gegen Chefärztin der Kinderpsychiatrie Baselland» von Daniel Wahl am 6. Juni 2020 die Ziffer 7 (Schutz der Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

3. Darüber hinausgehend werden die Beschwerden abgewiesen.

4. Der Presserat empfiehlt der «Basler Zeitung» dringend, die Audios und die Bilder «Nathalies» von ihrer Website und von anderen zugänglichen Orten zu entfernen.