Nr. 83/2019
Trennung von Fakten und Kommentar / Schutz der Menschenwürde

(X. c. «bluewin.ch»)

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I. Sachverhalt

A. Am 11. März 2019 stand auf der Website von «bluewin.ch» unter dem Titel «Idiot des Jahres – Gratulation zur lebenslangen Sperre» in einem von «wer» gezeichneten Artikel zu lesen, dass ein Spieler der zweiten englischen Fussball-Liga von einem Anhänger der gegnerischen Mannschaft während des Spiels auf dem Spielfeld zusammengeschlagen worden sei. Der Täter habe dafür von seinem Verein ein lebenslanges Stadionverbot erhalten, zudem erwarte ihn ein Gerichtsverfahren. In der Unterschrift zu zwei Bildern zum Vorfall ist zu lesen «Diesen hässlichen Typen sehen wir heute wohl zum ersten und zum letzten Mal». Und im folgenden Text steht «Der Hooligan, der Aston Villa Captain Jack Grealish auf dem Platz niederstreckte, verliert die letzten Überbleibsel seines missglückten Lebens: Birmingham City spricht ein Stadionverbot auf Lebzeiten aus – die Gerichte beschäftigen sich ab Montag mit dem widerwärtigen Vorfall.»

B. X. in St. Gallen reichte am 12. März 2019 Beschwerde beim Schweizer Presserat ein und machte eine Verletzung von Ziffer 2 und 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») geltend. Die beiden Textstellen verstiessen insbesondere gegen die zur «Erklärung» gehörenden Richtlinien 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) und 8.1 (Achtung der Menschenwürde). Als Begründung stellt der Beschwerdeführer in seiner knapp gehaltenen Beschwerdeschrift fest, es gehe hier um einen Bericht, der den Wert eines Menschen in gravierender Weise geringschätze.

C. Am 28. Juni 2019 nahm Cyrill Treptow, «Leiter Bluewin» von Swisscom, zu den Vorwürfen Stellung. Er stellt fest, dass der fragliche Artikel in dieser Form nie hätte publiziert werden dürfen. Es handle sich um eine grobe Fehlleistung und der Artikel entspreche nicht dem journalistischen Verständnis der Redaktion. Auf die konkret beanstandeten Verstösse gegen die Richtlinien 2.3 und 8.1 geht er nicht ein.

D. Am 5. Juli 2019 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 30. Dezember 2019 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Zur Zuständigkeit des Presserates bei Inhalten einer Webseite wie «bluewin.ch»: Der Presserat hat mit dem Grundsatzentscheid 1/2019 angesichts der immer häufiger aufscheinenden Informationselemente auf Webseiten, die nicht primär Information anbieten, festgestellt, dass er für alle Inhalte zuständig ist, welche journalistisch aufbereitete Information enthalten. Das gilt auch im Falle von «bluewin.ch». Dessen Leiter erwähnt in seiner Beschwerdeantwort auch ausdrücklich die Existenz eines redaktionellen Prozesses und die Orientierung an journalistischen Kriterien, wenn er schreibt, dass der fragliche Text nicht «dem journalistischen Verständnis der Redaktion» entspreche. Das heisst, der Presserat ist für den vorliegenden Fall zuständig.

2. Zu Richtlinie 8.1 (Achtung der Menschenwürde): Diese verlangt, dass jede Informationstätigkeit sich «an der Achtung der Menschenwürde zu orientieren» hat. Die Menschenwürde gilt universell. Wenn ein Autor einen Menschen, auch einen Straftäter, als «Idioten» bezeichnet, der «die letzten Überbleibsel seines missglückten Lebens» verliere und dies als positiven Schritt verstanden haben will («Gratulation!»), der verletzt ohne Zweifel die Würde eines Menschen. Ganz abgesehen davon, dass der Autor nicht wissen kann, was für ein Leben, missglückt oder nicht, ein Mann bisher geführt hat, von dem er ja selber schreibt, man sehe ihn hier wohl zum ersten Mal. Und ganz abgesehen davon, dass eine Stadionsperre und ein Gerichtsverfahren kaum mit dem Verlust der letzten Reste eines Lebens – missglückt oder nicht – gleichgesetzt werden kann, es sei denn, man setze den Besuch der Spiele von Birmingham City gleich mit der einzigen Form von Lebenswertem. Abgesehen von der Unsinnigkeit des Textes verletzt dieser die Richtlinie 8.1.

3. Anders steht es mit der Trennung von Fakten und Kommentar. Wenn ein Autor in einem Text derart heftige Wertungen einbringt wie «Idiot», «hässlich», «missglücktes Leben», dann kann kein Zweifel daran bestehen, dass hier jemand nicht nur berichtet, sondern im Sinne der «Erklärung» stark kommentiert. Ein Verstoss gegen das Gebot der Trennung von Kommentar und Bericht ist in diesem Sinne nicht festzustellen, der Charakter des Textes ist offensichtlich, Richtlinie 2.3 ist nicht verletzt.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. «bluewin.ch» hat mit dem Artikel «Idiot des Jahres – Gratulation zur lebenslangen Sperre» gegen die Ziffer 8 (Schutz der Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.

3. Die Ziffer 2 (Trennung von Fakten und Kommentar) der «Erklärung» wurde nicht verletzt.