I. Sachverhalt
A. Am 5. Juli 2020, dem Tag vor der Einführung der Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr, publizierte «blick.ch» einen Aufruf mit dem Titel «Tragen Sie selbst eine Maske?» und dem Text: «Halten Sie sich an die bundesrätliche Masken-Verordnung? Oder haben Sie Masken-Verweigerer angetroffen? Schicken Sie uns Videos und Fotos von Ihrem Arbeitsweg via Whatsapp an die Nummer 079 813 80 41 oder direkt via Blick-App.»
Im Verlauf der Nacht wurde der Aufruf geändert. Statt: «Oder haben Sie Masken-Verweigerer angetroffen?» hiess es fortan «… Oder sind Sie ein Masken-Verweigerer? Schicken Sie uns Videos und Fotos von Ihrem Arbeitsweg im ÖV via …».
Im Verlauf des Morgens (6. Juli 2020) veröffentlichte «blick.ch» dann Fotos von Maskierten und Unmaskierten im ÖV, bei erkennbaren Personen waren die Gesichter verpixelt.
B. Am gleichen 6. Juli 2020 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde ein. Er macht geltend, der Aufruf und die Berichterstattung verletzten die Präambel der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»), die zur «Erklärung» gehörende Richtlinie 7.1 (Schutz der Privatsphäre) sowie Richtlinie 8.1 (Achtung der Menschenwürde).
Die Verletzung der in der Präambel beschriebenen Grundsätze begründet der Beschwerdeführer (BF) nur mit dem allgemeinen Hinweis, dass mit dem Verhalten von «blick.ch» die berufsethischen Grundsätze nicht eingehalten worden seien.
Richtlinie 7.1 Absatz 2 sieht der BF damit verletzt, dass einzelne Privatpersonen in den publizierten Fotos direkt herausgehoben und im Kontext der Berichterstattung «tendenziös blossgestellt und angeprangert» würden, etwa mit Bemerkungen wie «Dieser Mann pfeift auf das Maskenobligatorium». Gesichter seien nur minimal verpixelt gewesen. Der BF hält fest, dass es nicht Aufgabe der Medien sei, Aufrufe zum Denunziantentum zu machen. Es sei im Übrigen möglich, dass hier Menschen angeprangert würden, die beispielsweise aus medizinischen Gründen keine Maske tragen dürften. Weiter macht er geltend, die Abbildungen verletzten die Privatsphäre, weil die Abgebildeten vermutlich nicht gefragt worden seien, ob sie fotografiert werden wollten, in jedem Fall aber hätten sie sich nicht zum Sachverhalt, im ÖV keine Maske getragen zu haben, erklären können.
Richtlinie 8.1 (Achtung der Menschenwürde) sieht der BF verletzt, weil kein öffentliches Interesse eine solche Berichterstattung rechtfertige. Damit sei die Menschenwürde verletzt.
Schiesslich äussert sich der BF allgemein zur enttäuschenden Haltung der «Mainstream-Medien», welche ihre Pflicht zur kritischen Berichterstattung nicht wahrnähmen und ihre Rolle nur noch als Sprachrohr der Regierung sähen.
C. Mit Beschwerdeantwort vom 13. August 2020 beantragte der Anwalt von «blick.ch», auf die Beschwerde sei nicht einzutreten. Eventualiter sei diese abzuweisen.
Den Antrag auf Nichteintreten begründet die Redaktion damit, dass der BF sich vorbehalte, den Rechtsweg zu beschreiten. Ein Verfahren vor dem Presserat zu führen, nur um danach dennoch vor ein Gericht zu gehen, verletze Art. 11 des Geschäftsreglements, welches Nichteintreten verlange, wenn ein Parallelverfahren vorgesehen sei.
Was den Aufruf zum Herstellen und Einschicken von Bildern nicht maskentragender ÖV-Passagiere angeht, macht die Beschwerdegegnerin (BG) zunächst geltend, dieser Aufruf sei kaum eine Stunde online gewesen. Hier müsse klargestellt werden, dass die Dauer einer Publikation mitentscheidend werden müsse für die Zulassung zu einer Beschwerde. Während eine Zeitung sozusagen für die Ewigkeit veröffentlicht werde, sei eine Online-Meldung gelegentlich schon nach Minuten überholt. Dem müsse Rechnung getragen werden.
Womit der ursprüngliche Aufruf, Bilder von nicht maskentragenden Menschen herzustellen und einzuschicken gegen die Privatsphäre verstosse, sei nicht einsichtig. Diese Menschen befänden sich im Verkehrsmittel ausserhalb ihrer Privatsphäre und es würden keine privaten Sachverhalte zum Inhalt gemacht. Der Aufruf, die Befolgung der Maskenpflicht zu dokumentieren, stelle als solcher noch keinen Verstoss gegen Richtlinie 7.1 (Privatsphäre) dar.
Die im Verlaufe des folgenden Morgens gezeigten Bilder von Personen im ÖV seien verpixelt gewesen und zwar nicht nur minimal, wie vom BF behauptet. Die Behauptung, Personen seien allein schon wegen ihrer Bekleidung oder Kontur erkennbar gewesen, sei unzutreffend. Allenfalls erkennten sie sich selber, aber «der Durchschnittsleser ohne Vorkenntnis könne weder aus der Bekleidung noch aus der Kontur auf eine konkrete Person schliessen». Die Anonymisierung sei angesichts der jeweiligen Entfernung und der Verpixelung ausreichend gewährleistet gewesen. Entsprechend habe es auch keine Beschwerden in diese Richtung gegeben.
Die Kommentierung eines Bildes mit «pfeift auf das Maskenobligatorium» sei eine zulässige Bewertung eines Verhaltens. Es sei müssig, darüber zu spekulieren, was zum fraglichen Verhalten geführt habe. Dass die Fotos «unerlaubt» gemacht worden seien, sei nur behauptet, ebenso wie die Annahme, die Betroffenen hätten sich nicht äussern können.
Die Verletzung der Menschenwürde stehe nicht zur Diskussion, der vorliegende Sachverhalt habe nichts mit Ziffer 8 der «Erklärung» respektive Richtlinie 8.1 zu tun.
Offensichtlich sei der BF mit der Berichterstattung über die Corona-Pandemie überhaupt nicht einverstanden. Das sei sein gutes Recht, begründe aber keinen Verstoss gegen die Journalistenpflichten.
D. Am 21. August 2020 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg und den Vizepräsidenten Casper Selg und Max Trossmann.
E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 26. Oktober 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein. «blick.ch» macht zwar geltend, die Beschwerde falle unter Art. 11 des Geschäftsreglements (Nichteintreten), weil der Beschwerdeführer ausdrücklich nicht ausschliesse, noch vor ein Gericht zu gehen, je nach Ausgang des Presseratsverfahrens. Es ist aber ständige Praxis des Presserates, dennoch einzutreten, wenn ein Verfahren nicht schon läuft, oder wenn es noch nicht klar ist, ob ein solches eingeleitet wird. Alles andere würde Beschwerdeführern ihr Recht auf den Zugang zu einem ordentlichen Gericht beschneiden. Dazu ist der Presserat nicht befugt.
2. Zunächst stellt sich die Frage, ob der öffentliche Aufruf, Maskenverweigerer zu fotografieren oder zu filmen, als «Aufruf zum Denunziantentum» gegen journalistische Grundsätze verstösst. Zwar stellt sich sehr wohl die vom Beschwerdeführer aufgeworfene Frage, wie weit ein Aufruf, Gesetzesverstösse zu dokumentieren, als Aufruf zur Denunziation zu verurteilen ist. Dass der Aufruf in seiner ersten Version problematisch war und als dies erkannt wurde, zeigt schon die Tatsache, dass «blick.ch» den Text nach kurzer Zeit änderte. Dabei geht und ging es aber primär um eine Frage der gesellschaftlichen Moral. Aus medienethischer Sicht erscheint angesichts der Bedrohlichkeit des neuen Coronavirus und der Bemühungen, seiner Herr zu werden, der verbliebene Aufruf, die Befolgung von diesbezüglichen Massnahmen am ersten Tag einer Kampagne zu dokumentieren, als vertretbar. Die entscheidende Frage ist vielmehr, wie anschliessend mit den anfallenden Daten umgegangen wird (siehe unten Erwägung 4).
3. Dabei kann der Presserat dem Argument von «blick.ch» nicht folgen, wonach der entsprechende Text nur kurz («weniger als eine Stunde») aufgeschaltet gewesen sei, dass überhaupt neu geregelt werden müsse, ab welcher Publikationsdauer Texte der Beurteilung des Presserates unterliegen sollen. Es sei – so die BG – nicht richtig, dass Online-Inhalte wegen ihrer bisweilen sehr kurzen Halbwertszeit unter die gleich strengen Bestimmungen fallen wie Zeitungen, «die sozusagen für die Ewigkeit veröffentlicht» würden. Der Presserat lehnt derartige Unterscheidungen ab: Online-Inhalte unterliegen den gleichen journalistischen Kriterien wie gedruckte. Alles andere würde letztlich ein Bekenntnis zu zwei qualitativ verschiedenen Journalismen bedeuten. Fehler spielten im Print eine Rolle, online weniger, das kann nicht sein.
4. Die medienethische Legitimität des Aufrufs von «blick.ch» wie auch die meisten vom Beschwerdeführer aufgeworfenen Fragen (Verletzung der Privatsphäre, damit verbunden das Recht am eigenen Bild, Art der Fotografien etc.) hängt davon ab, ob Rechte von Fotografierten verletzt worden sind. Und das wiederum hängt in allen Fällen davon ab, ob einzelne Personen auf den veröffentlichten Bildern erkennbar, ob sie individualisiert waren. Wenn ja, wurden Einzelpersonen «denunziert», was dann nicht nur als moralisch verwerflich bezeichnet werden müsste, sondern vor allem als Verletzung der Privatsphäre und damit als Verstoss gegen die «Erklärung», insbesondere gegen Ziffer 7 und Richtlinie 7.1 (Schutz der Privatsphäre).
Dabei spielt keine Rolle, dass sich die abgebildeten Personen, wie die BG einwendet, im öffentlichen Raum befunden haben und dass keine privaten Sachverhalte zum Thema gemacht worden seien. Die Privatsphäre der Menschen, inklusive des Rechts am eigenen Bild, ist nicht nur in deren Privaträumen geschützt und dass jemand – aus welchen Gründen auch immer – zu einem bestimmten Zeitpunkt keine Maske trug, kann man durchaus als privaten Sachverhalt verstehen. Diese Frage kann aber offen bleiben (s. nachfolgend unter 5.).
5. Die alles entscheidende Frage lautet, ob «blick.ch» einzelne Personen, speziell solche, die keine Maske trugen, kenntlich gemacht hat. Der Presserat verneint dies. Auf den vom Beschwerdeführer eingesandten kleinen Belegbildern sind Personen in Übersichtsbildern von Trams und Bussen, insbesondere deren Gesichter, nicht zu individualisieren. Aber auch wenn man die gleichen Bilder in deutlich grösserer Auflösung nachträglich zu Rate zieht, zeigt sich, dass selbst das Gesicht des am grössten abgebildeten Unmaskierten, desjenigen, der «auf das Maskenobligatorium pfeift», stark verpixelt und damit nicht zu erkennen ist.
Der Beschwerdeführer führt weiter an, dass allein schon Kleidung und Kontur der Personen diese für ein engeres Umfeld kenntlich machten und so die Anonymisierung aufhöben. Es mag sein, dass dieser oder jener Passagier auf einem Bild aufgrund seiner Kleidung für sich oder sein engstes Umfeld erkennbar gewesen ist. Aber Erkennbarkeit im engsten Umfeld ist noch kein Bruch der Privatsphäre, wie Richtlinie 7.2, Absatz 2 definiert: «Überwiegt das Interesse am Schutz der Privatsphäre das Interesse der Öffentlichkeit an einer identifizierenden Berichterstattung, veröffentlichen Journalistinnen und Journalisten weder Namen noch andere Angaben, welche die Identifikation einer Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld des Betroffenen gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden.» Identifizierbarkeit muss also über den engsten Kreis hinaus gegeben sein. Das wird hier weder geltend gemacht noch ist es anzunehmen.
Ziffer 7 der «Erklärung» ist somit nicht verletzt. Ebenso wenig wie Ziffer 8 (Menschenwürde). Da keiner der maskenlosen Fahrgäste erkennbar war, wurde auch deren Menschenwürde durch die Abbildung nicht verletzt.
Im Ergebnis hat «blick.ch» nach dem ursprünglichen allenfalls problematischen Aufruf nur den Grad der Befolgung der Maskenpflicht beschrieben und mit den angeforderten Bildern illustriert. Eine bildliche Darstellung einzelner individualisierbarer Nicht-Maskenträger ist nicht erfolgt, diese würde ohne Zustimmung der Fotografierten sehr wohl einen Verstoss gegen Ziffer 7 der «Erklärung» darstellen.
III. Feststellungen
1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.
2. «blick.ch» hat am 5. und 6. Juli 2020 mit der Berichterstattung über die Befolgung der Maskenpflicht am ersten Tag Ziffer 7 (Schutz der Privatsphäre) und 8 (Wahrung der Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.