Nr. 82/2019
Wahrheit / Trennen von Fakten und Kommentar / Anhören bei schweren Vorwürfen

(X. c. «Basler Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 5. März 2019 erschien auf der Online-Ausgabe der «Basler Zeitung» (BaZ) ein Text mit dem Titel «Staatssekretär Balzaretti auf Abwegen» und dem Untertitel «Er macht Werbung für den Rahmenvertrag, obwohl sich der Bundesrat dazu noch nicht geäussert hat». Gezeichnet ist der Text von Dominik Feusi. Dieser kritisiert darin, dass Staatssekretär Roberto Balzaretti als «selbsternannter PR-Chef» in zwei Interviews die Vorzüge des vom Bundesrat vorgestellten Rahmenabkommens mit der EU anpreist, dass er erklärt, die Schweiz brauche den Vertrag und dass er ihn als «Öl fürs System» bezeichnet. Dafür hätte – so Feusi – der Leiter einer PR-Abteilung in der Grossindustrie sein Büro sofort räumen müssen, denn seine Chefs im Bundesrat hätten sich noch gar nicht zum Abkommen geäussert. Später im Text stellt der Autor fest, Balzaretti lasse in den Interviews «locker alles weg, was nicht zu seiner Werbebotschaft passt», er bezeichne den Vertrag als ausgewogen, und er wirft Balzaretti «Illoyalität» gegenüber der Regierung vor.

B. X. reichte am 10. März 2019 Beschwerde beim Schweizer Presserat ein und machte eine Verletzung von Ziffer 1, 2 und 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») geltend. Zudem verlangt er eine Berichtigung gestützt auf Ziffer 5 der «Erklärung».

Insbesondere verstosse Feusis Behauptung, Balzaretti mache Werbung für den Rahmenvertrag, obwohl der Bundesrat sich noch nicht dazu geäussert habe, gegen die zur «Erklärung» gehörende Richtlinie 1.1, welche Journalistinnen und Journalisten dazu verpflichtet, nach der Wahrheit zu suchen. In Tat und Wahrheit habe der Bundesrat den Vertrag als «in weiten Teilen als im Interesse der Schweiz» bezeichnet, kritisiert der Beschwerdeführer (im Folgenden BF).
Auch mit der Aussage, Balzaretti lasse alles weg, was nicht zu seiner Werbebotschaft passe, verstosse die BaZ gegen Ziffer 1 der «Erklärung» und Richtlinie 1.1. Diese Behauptung verstosse zudem gegen die in der Präambel zur «Erklärung» festgehaltene Pflicht zur Fairness. Auch die Passage «Der Vertrag sei ausgewogen, findet er» suggeriere, dass Balzaretti seine eigene Meinung vertrete und nicht die des Bundesrates. Der Bundesrat habe aber schon am 16. Januar 2019 festgehalten, die Zurückweisung des Vertrags hätte negative Konsequenzen. Schliesslich suggeriere auch die Bezeichnung «selbsternannter PR-Chef» Faktenwidriges. Balzaretti sei nicht selbsternannt, sondern vom Bundesrat gewählt.

Als Verstoss gegen die Ziffer 2 der «Erklärung» und insbesondere gegen Richtlinie 2.3 bewertet der BF, dass für den Leser, die Leserin nicht klar sei, was in diesem Text Berichterstattung sei und was die persönliche Meinung des Autors.

Und als Verstoss gegen Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) taxiert der BF, dass Autor Feusi den kritisierten Staatssekretär nicht mit dem schweren Vorwurf der «Illoyalität» konfrontiert habe. Balzaretti hätte die Möglichkeit erhalten müssen, dazu Stellung zu nehmen.

Schliesslich stellt der BF den Antrag, die BaZ sei vom Presserat zu verpflichten, gemäss Ziffer 5 der «Erklärung» eine Berichtigung zu den fraglichen Punkten zu veröffentlichen.

C. Am 14. Mai 2019 beantwortete der Rechtsdienst von Tamedia die Beschwerde namens der «Basler Zeitung» mit dem Antrag auf vollumfängliche Abweisung.

Zum Vorwurf einer falschen Darstellung von Fakten mit der Behauptung, Balzaretti werbe für einen Vertrag, zu welchem der Bundesrat sich noch gar nicht geäussert habe, erwidert die BaZ, der Bundesrat habe effektiv noch keine Empfehlung zu diesem Vertrag gegeben, die Äusserungen Balzarettis und diejenige von Bundesrat Ignazio Cassis unterschieden sich in diesem zentralen Punkt klar. Der kritisierte Untertitel des Artikels sei inhaltlich korrekt und wenn überhaupt, dann allenfalls eine (zulässige) Zuspitzung, die vertretbar sei.

Zur Passage, wonach der «selbsternannte PR-Chef» Balzaretti für den Vertrag «weible» und locker alles weglasse, was nicht zu seiner Werbebotschaft passe, erklärt die BaZ, diese Passage sei für jeden Leser als Kommentar erkennbar, der gestützt auf wahrheitsgetreue Fakten abgefasst sei. Hier diene ein Meinungsbeitrag der Debatte um dieses Abkommen. Das Postulat der Fairness sei mit dieser Passage nicht verletzt.

Mit der Formulierung «Der Vertrag sei ausgewogen, findet er» werde nichts Falsches unterstellt, hält die BaZ weiter fest. Der Satz zitiere eine Meinungsäusserung Balzarettis, welche nicht die Haltung des Bundesrates wiedergebe, dieser habe nur gesagt, der Rahmenvertrag liege «in weiten Teilen» im Interesse des Landes. Balzarettis Plädoyer für den Vertrag gehe weit über diese offen gehaltene Feststellung hinaus.
Und die Formulierung des «selbsternannten PR-Chefs» sei eine im Kommentar zulässige Zuspitzung. Dass Balzaretti nicht selbsternannt sei, sondern vom Bundesrat gewählt, sei irrelevant. Der Autor behaupte ja nicht, Balzaretti sei ein selbsternannter Staatssekretär, sondern ein selbsternannter PR-Chef.

Zur Trennung von Fakten und Kommentar (Ziffer 2 der «Erklärung», Richtlinie 2.3) macht die BaZ geltend, es handle sich hier klar um einen Kommentar. Der Text sei auf der Meinungsseite der BaZ erschienen und der Kommentarcharakter gehe für den Durchschnittsleser aus dem Text auch deutlich hervor.

Was den Vorwurf der Unterschlagung von Informationen angeht (Ziffer 3 der «Erklärung»), weist die BaZ darauf hin, dass ein Kommentar – anders als der Bericht – nicht alle wichtigen Aspekte einer Entwicklung aufzählen kann oder soll.

Schliesslich weist die BaZ den Vorwurf zurück, der Staatssekretär oder das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA hätten zum schweren Vorwurf der Illoyalität angehört werden müssen (Richtlinie 3.8): Sie weist darauf hin, dass gemäss der Praxis des Presserats ein Vorwurf erst dann als schwerwiegend gelte, wenn er illegales oder vergleichbares Verhalten beinhalte. Dies sei hier ganz eindeutig nicht der Fall.

Was die Forderung angeht, der Presserat solle eine Richtigstellung der als unrichtig dargestellten Sachverhalte anordnen, bemerkt die Redaktion BaZ, erstens seien keine falschen Behauptungen gemacht worden und zweitens habe der Presserat nicht die Kompetenz, Richtigstellungen anzuordnen.

D. Am 17. Mai 2019 teilte der Presserat den Parteien mit, der Schriftenwechsel sei abgeschlossen, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Mit einer Zuschrift vom 7. Juli 2019 beantragte der Beschwerdeführer, trotz abgeschlossenen Schriftwechsels ein neues Beweiselement in das Verfahren einbringen zu dürfen. Es geht dabei um die Antwort des Kommunikationschefs des Departements für auswärtige Angelegenheiten, Sebastian Hueber, auf seine Frage, ob sich Staatssekretär Balzaretti wirklich eigenmächtig für das Rahmenabkommen ausspreche, oder ob seine Äusserungen mit Bundesrat Cassis abgesprochen seien. Hueber beantwortet die Frage des BF mit der Feststellung, dass Balzaretti sich immer mit dem Bundesrat abspreche und sich zu keinem Zeitpunkt von der Linie des Bundesrates entfernt habe.

F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 30. Dezember 2019 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Zunächst ist die Frage zu klären, ob der nachgereichte Beweisantrag Eingang ins Verfahren finden kann. Dies ist zu verneinen. Die Parteien haben laut Art. 12 Abs. 2 des Geschäftsreglements des Presserates keinen Anspruch auf die Durchführung eines zweiten Schriftenwechsels. Der BF stellte dem EDA seine Frage nach der allfälligen Differenz zwischen Bundesrat Cassis und Staatssekretär Balzaretti erst eineinhalb Monate nach Abschluss des Schriftenwechsels. Das neue Material kann aus formalen Gründen nicht berücksichtigt werden. Es würde aber auch inhaltlich keine Rolle spielen: Dass der Kommunikationsverantwortliche des Aussenministeriums in einer politisch enorm heiklen Angelegenheit allfällige unterschiedliche Einschätzungen innerhalb der Führung des Departements nicht bestätigt, liegt sozusagen in der Natur der Sache. Es hat jedenfalls keinen wirklichen Beweiswert für das Gegenteil.

2. Weiter ist – vor allen weiteren inhaltlichen Punkten – zu klären, ob es sich beim fraglichen Text um eine Berichterstattung oder um einen Kommentar gehandelt hat (Richtlinie 2.3). Der BF macht geltend, der Text habe beide Elemente enthalten, es seien Fakten und Meinung nicht sauber und für die Leserschaft erkennbar voneinander getrennt gewesen. Die BaZ macht umgekehrt geltend, das sei ein reiner Kommentar gewesen, für jeden und jede erkennbar, der Text sei denn auch auf der Meinungsseite der Zeitung erschienen.

Hierzu ist festzuhalten, dass das Stück klar die Meinung des Autors zum fraglichen Sachverhalt ins Zentrum stellt. Es ist also ein Kommentar, der zudem ursprünglich auf der Meinungsseite der Zeitung erschienen ist. Es stimmt zwar, dass der Text online nicht ausdrücklich als Kommentar deklariert ist. Für die Leserschaft ist jedoch erkennbar, dass hier die persönliche Meinung des Autors im Vordergrund steht.

Wenn aber von einem Kommentar auszugehen ist, dann sind zugespitzte Charakterisierungen und sehr kritische Einschätzungen zulässig. Gemäss ständiger Praxis des Presserats ist dem Kommentar ein grosser Freiraum einzuräumen (vergleiche beispielsweise die Stellungnahmen 62/2018, 22/2012). Auch polemische, harsche Werturteile sind im Kommentar zulässig. Es liegt demgemäss kein Verstoss gegen Richtlinie 2.3 vor.

3. Zur Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung», Richtlinie 1.1): Die beanstandete Formulierung, wonach der Bundesrat sich noch nicht zum Rahmenabkommen geäussert habe, ist als journalistische Einschätzung fraglos zulässig. Der Bundesrat hatte in seiner Erklärung vom Januar nur festgestellt, dass der Vertrag «in weiten Teilen» im Interesse der Schweiz liege. Ob er im Ganzen gesehen von Vorteil sei oder nicht, liess er bewusst offen. Die entsprechende Formulierung der BaZ ist entsprechend nicht nur korrekt, sondern im Rahmen der Einschätzung in Form eines Kommentars ohnehin zulässig.

Für den Vorwurf, Balzaretti werde dargestellt, als ob er nicht die Linie des Bundesrates vertrete, gilt ebenfalls: Als Einschätzung des Berichterstatters im Rahmen eines Kommentars ist diese Formulierung zulässig. Der Bundesrat hält sich ein abschliessendes Urteil mindestens teilweise offen, Balzaretti unterstreicht vor allem dessen Vorteile: Das Urteil des Kommentators (mangelnde Übereinstimmung) ist legitim und widerspricht nicht irgendwelchen Fakten. Dasselbe gilt für die etwas harte Charakterisierung Balzarettis als PR-Chef im Einsatz für den Rahmenvertrag: Das wäre in einem reinen Bericht allenfalls problematisch, aber nicht in einem Kommentar. Dieser darf zuspitzen, allenfalls karikieren. Ziffer 1 der «Erklärung» und insbesondere Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) sind nicht verletzt. Dasselbe gilt für das Fairnessgebot in der Präambel der «Erklärung». Ein kritischer Kommentar verstösst nicht gegen das Fairnessgebot, solange die Kritik nicht Fakten verfälscht.

4. Der BF macht einen Verstoss gegen die Ziffer 3 der «Erklärung» geltend, welche es verbietet, wichtige Elemente von Informationen zu unterschlagen und Tatsachen oder Meinungen zu entstellen. Er sieht in den beschriebenen Textstellen klare Verstösse gegen Ziffer 3 der «Erklärung». Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass dem nach Auffassung des Presserates nicht so ist. Die beanstandeten Beschreibungen beinhalteten primär Einschätzungen innerhalb eines Kommentars und waren inhaltlich nicht falsch. Dass sie nicht alle Aspekte des Gesamtzusammenhangs erwähnten, trifft zwar zu, das ist für einen Kommentar aber auch nicht gefordert. Ziffer 3 der «Erklärung» ist nicht verletzt.

5. Ein Verstoss gegen Richtlinie 3.8 ist auch zu verneinen. Wenn ein sachkundiger Kommentator gestützt auf beschriebene Fakten zum Schluss kommt, das Verhalten eines Beamten sei illoyal, dann ist das zwar ein erheblicher Vorwurf. Aber ein «schwerer» Vorwurf im Sinne der Spruchpraxis des Presserates, also ein Vorwurf, der illegales Handeln oder Gleichwertiges voraussetzt, ist es nicht.

6. Zum Antrag auf Richtigstellung: Es liegt nicht in der Kompetenz des Presserates, einer Redaktion Berichtigungen oder Gegendarstellungen vorzuschreiben. Zudem ist, wie mehrfach erwähnt, ein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht nicht belegt worden, die Notwendigkeit einer Richtigstellung entfällt also auch unter einem inhaltlichen Gesichtspunkt.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Die «Basler Zeitung» hat mit dem Kommentar «Staatssekretär Balzaretti auf Abwegen» vom 5. März 2019 nicht gegen die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 2 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3 (Unterschlagen wichtiger Informationselemente) und 5 (Berichtigung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten verstossen.