Nr. 81/2021
Wahrheit

(X. c. «Neue Zürcher Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 17. Oktober 2021 erschien auf «nzz.ch» ein Kommentar von Ulrich von Schwerin unter dem Titel «Kommentar: Merkels Türkei-Politik hat ausgedient». Darin wird Angela Merkel dafür kritisiert, dass sie die Türkei seit 2005 schon elf Mal besucht und dabei ein enges Verhältnis zum dortigen Machthaber Erdogan entwickelt habe. Weiter heisst es, «Nicht ein Mal, so beklagen türkische Oppositionelle zu Recht, hat sie bei ihren Besuchen in Ankara und Istanbul führende Vertreter der Opposition oder verfolgte Journalisten getroffen». Es sei zwar richtig, den Kontakt auch zu Autokraten wie Erdogan, Putin, Xi Jinpin und anderen zu halten, dafür seien sie zu wichtig für global relevante Fragen. Aber dafür müsse man sie nicht umschmeicheln, ihr Wohlwollen gewinnen wollen. Man dürfe nicht schweigen zur Repression der Opposition. Wäre Merkel entschiedener aufgetreten, hätte Erdogan sich womöglich stärker zurückgenommen. Die neue Regierung müsse diesem nun klarmachen, dass es eine Fortsetzung der Wirtschaftsbeziehungen, auch Rüstungsgeschäfte, nur gebe, wenn Erdogan im Kurdenkonflikt sowie im Erdgasstreit mit Griechenland auf Gewalt verzichte.

B. Am 20. Oktober 2021 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, der Artikel verletze die Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») sowie Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche). Die Behauptung der NZZ, wonach die Kanzlerin nie mit Oppositionellen gesprochen habe, sei nachweisbar falsch und verstosse damit gegen die Pflicht, sich an die Wahrheit zu halten. Der Beschwerdeführer legt verschiedene Unterlagen bei, welche belegen, dass Angela Merkel am 2. Februar 2017 den Oppositionspolitiker Kemal Kılıçdaroğlu und eine Delegation der prokurdischen Oppositionspartei HDP getroffen hat.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 2. Dezember 2021 beantragte der Rechtsdienst der NZZ, die Beschwerde sei vollumfänglich abzuweisen, es liege keine Verletzung der Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) vor. Zunächst weist die Redaktion darauf hin, dass sie dem Beschwerdeführer gegenüber sofort zugestanden habe, dass ein journalistischer Fehler vorliege, dass man diesen in der Folge «unverzüglich» korrigiert und in einem Korrigendum auf die fehlerhafte ursprüngliche Fassung hingewiesen habe.

Einerseits liege grundsätzlich keine Verletzung der Wahrheitspflicht vor, sondern lediglich eine journalistische Ungenauigkeit. Dass Merkel sich ein einziges Mal mit Oppositionellen getroffen habe, ändere nichts an der Kritik des Kommentars an ihrem Verhalten über die Jahre. Das wäre – so die NZZ – allenfalls dann der Fall gewesen, wenn Merkel sich mehrfach mit der Opposition getroffen hätte. Aber angesichts eines einzigen Mals bei elf Besuchen seit 2005 rechtfertige sich die Kritik im Kommentar unverändert. Der Unterschied sei nicht von bedeutender Relevanz, die Wahrheitspflicht entsprechend nicht tangiert. Hinzu komme, dass man den Fehler unverzüglich korrigiert habe und damit auch gemäss Richtlinie 5.1 korrekt gehandelt habe, unabhängig davon, ob der korrigierte Sachverhalt als «Fehler» oder als «Ungenauigkeit» eingestuft werde.

D. Am 7. Dezember 2021 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Max Trossmann, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 27. Dezember 2021 verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Der Beschwerdeführer kritisiert zu Recht, dass der Satz, wonach die deutsche Bundeskanzlerin sich bei all ihren Besuchen in der Türkei nie mit Oppositionellen getroffen habe, inhaltlich falsch war. Der Presserat unterscheidet in seiner Praxis im Falle von Fehlern zwischen journalistischen Ungenauigkeiten und regelrechten Verstössen gegen die Wahrheitspflicht. Im vorliegenden Fall ist der NZZ zuzustimmen, dass es hinsichtlich der Schlussfolgerungen des Artikels keinen nennenswerten Unterschied macht, ob Frau Merkel sich bei allen elf oder nur bei zehn von elf Besuchen in der Türkei nicht mit Oppositionellen getroffen hat. Insofern ist von einer Ungenauigkeit, einem Irrtum in der Berichterstattung auszugehen. Ein eigentlicher, inhaltlich relevanter Verstoss gegen die Wahrheitspflicht gemäss Ziffer 1 der «Erklärung» bzw. Richtlinie 1.1 liegt nicht vor. Damit ist nichts über die inhaltliche Plausibilität in der Argumentation des Kommentars ausgesagt. Diese zu beurteilen ist wiederum nicht Sache des Presserats.

2. Hinzu kommt, dass die «Neue Zürcher Zeitung» den Fehler unverzüglich nach Bekanntwerden korrigiert und die Korrektur kenntlich gemacht hat. Der Richtlinie 5.1 (Berichtigungspflicht) wurde Genüge getan.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. «nzz.ch» hat mit dem Artikel «Kommentar: Merkels Türkei-Politik hat ausgedient» vom 17. Oktober 2021 die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.