Nr. 78/2019
Wahrheit / Umgang mit Quellen / Berichtigung / Diskriminierung

(X. c. «Blick.ch»)

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I. Sachverhalt

A. Am 31. August 2018 publizierte «Blick.ch» einen Artikel mit dem Titel: «Stimmt, was er über den Islam behauptet?» Der Obertitel lautet: «Der grosse Fakten-Check zu Thilo Sarrazins neuem Buch». Der Artikel von Guido Felder, Ruedi Studer und Pascal Tischhauser thematisiert das Buch «Feindliche Übernahme» des deutschen Politikers Thilo Sarrazin, im Zentrum steht dabei Sarrazins Kritik am Islam. Untersucht werden zehn Aussagen Sarrazins. Die erste lautet: «Muslime werden in Europa zur Mehrheit». Die Autoren zitieren Reinhard Schulze, Direktor Forum Islam und Naher Osten an der Universität Bern. Dieser führt aus, die Aussage halte der Realität nicht stand. Die Geburtenrate liege in arabischen Ländern etwa gleich hoch wie in Europa. In der Folge werden neun weitere Aussagen Sarrazins zitiert und im Artikel teils relativiert, teils erklärend kontextualisiert.

B. X. reichte am 11. Oktober 2018 beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel auf «Blick.ch» ein. Er macht eine Verletzung der Ziffer 1 (Wahrheitspflicht), Ziffer 3 (Quellen), Ziffer 5 (Berichtigungspflicht) und Ziffer 8 (Diskriminierungsverbot) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») geltend.

Der Beschwerdeführer bezieht sich insbesondere auf eine Artikelpassage, in der Professor Reinhard Schulze als Experte zu Thilo Sarrazins Buch bzw. zur Frage einer allfälligen künftigen muslimischen Mehrheit in Europa Stellung nimmt: «Das ist eine verschwörungstheoretische Aussage, die der Realität nicht standhält. So liegt die Geburtenrate in den arabischen Ländern derzeit im Schnitt bei 1,6 Kindern pro Frau – und damit etwa gleich hoch wie in Europa.» X. macht geltend, dass diese Aussage von Professor Schulze unwahr sei. Die Geburtenrate von 1,6 Kindern pro Frau stimme nicht. Er habe in einem ersten Schritt Schulze direkt kontaktiert und ihn um eine Stellungnahme gebeten. Dieser sei der Konfrontation ausgewichen und habe danach die Kommunikation eingestellt. Darin sieht der Beschwerdeführer einen Verstoss gegen das Offenlegen der verwendeten Quellen und gegen die Berichtigungspflicht. Im Hinweis Schulzes, es handle sich um eine «verschwörungstheoretische Aussage», wenn Sarrazin festhalte, Muslime würden in Europa zur Mehrheit, sieht der Beschwerdeführer eine Verletzung des Diskriminierungsverbots.

C. Am 3. Dezember 2018 nahm die anwaltlich vertretene Redaktion von «Blick-online» zur Beschwerde Stellung. Sie bringt vor, es fehle der Nachweis dafür, dass sich die Beschwerde konkret an die Redaktion von «Blick.ch» richte. Die Redaktion habe überdies keine bewusste Falschmeldung publiziert. Auch gegen die Ziffern 3, 5 und 8 der «Erklärung» sei im Artikel nicht verstossen worden. Keiner der angeführten Verstösse sei belegt. Die Zahl über die Geburtenrate in den arabischen Ländern müsse nicht berichtigt werden, weil die «richtige» Zahl weder bekannt sei noch überhaupt festzulegen wäre. Die Beschwerdegegnerin beantragt, sämtliche Vorwürfe als unbegründet und medienethisch irrelevant abzuweisen.

D. Am 19. Dezember 2018 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 30. Dezember 2019 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Ziffer 1 der «Erklärung» verlangt von Journalistinnen und Journalisten, dass sie sich an die Wahrheit halten und wahrheitsgetreu berichten. X. moniert in seiner Beschwerde, im Artikel von «Blick.ch» würden falsche Fakten präsentiert. Er rügt insbesondere die Aussage von Universitätsprofessor Reinhard Schulze, wonach in arabischen Ländern die Geburtenrate 1,6 Kinder pro Frau betrage.

In Bezug auf die Wahrheitspflicht hat der Presserat immer wieder darauf hingewiesen, dass es nicht zu seinen Aufgaben gehören kann, in einem Medienbericht enthaltene, zwischen den Parteien umstrittene Faktenbehauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Der Presserat ist nicht in der Lage, ein umfangreiches Beweisverfahren zur Klärung komplexer Sachverhalte durchzuführen. Er beschränkt daher seine Tätigkeit auf die Frage, ob im Sinne von Ziffer 1 und der diese konkretisierenden Ziffern 3 bis 5 der «Erklärung» soweit ersichtlich nach journalistischen Grundsätzen gearbeitet worden ist (vgl. hierzu die Stellungnahmen 8/2001 i.S. FSJ/SLJ c. J.; 25/2001 i.S. K. c. «Computerworld»; 32/2002 i.S. Inselspitalstiftung c. «Puls-Tipp»). Zwar versucht der Beschwerdeführer in seinem umfangreichen Mailverkehr mit Schulze darzulegen, dass die gerügte Textpassage unwahr ist. Letztlich steht jedoch Aussage gegen Aussage. Ziffer 1 der «Erklärung» ist somit nicht verletzt.

2. Ziffer 3 der «Erklärung» verpflichtet Journalisten, für ihre Berichterstattung nur ihnen bekannte Quellen zu verwenden und keine Tatsachen zu entstellen. Der Beschwerdeführer sieht darin, dass Professor Schulze seine Quelle für die von ihm erwähnte Höhe der Geburtenrate von Musliminnen nicht offenlegt, einen Verstoss gegen Ziffer 3 der «Erklärung». Schulze tritt im Artikel selbst als Quelle auf, der Beschwerdeführer zweifelt letztlich an dessen Kompetenz, nicht an der Verwendung von dessen Aussagen. Insofern ist Ziffer 3 der «Erklärung» vorliegend nicht anwendbar und es liegt insbesondere kein Verstoss gegen die Pflicht, nur bekannte Quellen zu verwenden, vor. Ziffer 3 der «Erklärung» ist nicht verletzt.

3. Gemäss Ziffer 5 der «Erklärung» müssen Journalisten veröffentlichte Meldungen berichtigen, wenn sie sich ganz oder teilweise als falsch erweisen. Der Beschwerdeführer hatte eine Korrektur der im Artikel angegebenen «Geburtenrate in arabischen Ländern» verlangt. Da dies nicht geschehen sei, liege auch eine Verletzung von Ziffer 5 vor. Wie oben unter Ziffer 1 ausgeführt, lässt sich keine eindeutige Unwahrheit ausmachen. Liegt keine Verletzung der Wahrheitspflicht vor, kann auch die Pflicht zur Berichtigung nicht zur Anwendung kommen. Ziffer 5 der «Erklärung» wurde somit ebenfalls nicht verletzt.

4. Schliesslich moniert X. einen Verstoss gegen Ziffer 8 (Diskriminierung) der «Erklärung». Der Beschwerdeführer rügt damit die Aussage Professor Schulzes, es handle sich um eine «verschwörungstheoretische Aussage», wenn Sarrazin festhalte, Muslime würden in Europa zur Mehrheit. Ziffer 8 der «Erklärung» auferlegt Journalistinnen und Journalisten die Pflicht, in ihren Berichten auf diskriminierende Anspielungen, welche die ethnische oder nationale Zugehörigkeit, die Religion, das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, Krankheiten sowie körperliche oder geistige Behinderung zum Gegenstand haben, zu verzichten. Der Presserat legt in seiner Praxis die Schwelle für mögliche Diskriminierungen regelmässig hoch an. Für ihn ist nicht nachvollziehbar, inwiefern die kritisierte Aussage einen diskriminierenden Kern enthalten sollte. Eine Verletzung von Ziffer 8 der «Erklärung» liegt nicht vor.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. «Blick.ch» hat mit dem Artikel «Stimmt, was er über den Islam behauptet?» vom 31. August 2018 und dem darin vorgenommenen Faktencheck zum Buch von Thilo Sarrazin und den Zitaten von Professor Reinhard Schulze die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 3 (Umgang mit Quellen), 5 (Berichtigung) und 8 (Diskriminierungsverbot) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.