Nr. 76/2021
Wahrheit / Anhören bei schweren Vorwürfen

(X., Y. und Z. c. «SonntagsZeitung»)

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Zusammenfassung

Der Schweizer Presserat hat eine Beschwerde gegen die «SonntagsZeitung» abgewiesen. Es ging um den Artikel «Chronik einer tödlichen Verharmlosung», der am 24. Januar 2021 erschienen war. Drei Beschwerdeführer hatten moniert, in dem Artikel seien wichtige Informationen unterschlagen worden. Vor allem habe die «SonntagsZeitung» den St. Galler Chefarzt Pietro Vernazza mehr oder weniger direkt für den Tod von Hunderten von Corona-Opfern verantwortlich gemacht. Die «SonntagsZeitung» habe zwar den Chefarzt kontaktiert, doch seien die im Artikel erhobenen Vorwürfe nicht präzis benannt worden. Zudem sei dem Chefarzt zu wenig Zeit eingeräumt worden, um Stellung zu nehmen.

Der Presserat hält in seinem Entscheid fest, dass die «SonntagsZeitung» die Anhörungspflicht nicht verletzt hat. Alle im Artikel zitierten Äusserungen waren dem Chefarzt vorgelegt worden. Die «SonntagsZeitung» hatte gegenüber dem Arzt auch offengelegt, der Artikel werde die Übersterblichkeit im Kanton St. Gallen beleuchten. In dem Artikel wurde dem Chefarzt auch nicht – weder direkt noch indirekt – vorgeworfen, er sei für den Tod von Menschen verantwortlich. Es wurde nur festgestellt, er habe die Massnahmenpolitik im Kanton St. Gallen mitbeeinflusst.
Der Chefarzt hatte gemäss Einschätzung des Presserats auch genügend Zeit, um Stellung zu nehmen. Die Medienstelle des Kantonsspitals St. Gallen reagierte erst fünf Tage, nachdem die «SonntagsZeitung» versuchte hatte, mit Vernazza Kontakt aufzunehmen und teilte der Zeitung im Namen des Chefarztes mit, dieser verzichte auf eine Stellungnahme.

Résumé

Le Conseil de la presse rejette une plainte à l’encontre de la «SonntagsZeitung», concernant l’article intitulé «Chronik einer tödlichen Verharmlosung», et publié le 24 janvier 2021. Trois plaignants font valoir que des informations importantes ont été omises. Mais surtout, la «SonntagsZeitung» rend le médecin en chef de St Gall plus ou moins responsable pour le décès de centaines de victimes du Corona. Certes, la «SonntagsZeitung» a contacté le médecin en chef, mais les reproches formulés dans l’article n’ont pas été décrits avec précision. De plus, le médecin n’a pas disposé de suffisamment de temps pour prendre position.

Pour le Conseil de la presse, la «SonntagsZeitung» n’a pas violé l’obligation d’auditionner. Toutes les déclarations citées dans l’article ont été soumises au médecin en chef. Le journal a également précisé au médecin que l’article éclairerait la surmortalité dans le canton de St Gall. L’article ne reproche pas non plus au médecin en chef – ni explicitement, ni implicitement – d’être responsable de décès de personnes. Il est simplement constaté qu’il a influencé les mesures politiques dans le canton. Pour le Conseil de la presse, le médecin en chef a en outre disposé de suffisamment de temps pour prendre position. Le bureau des médias de l’Hôpital cantonal de St Gall n’a réagi que cinq jours après que la «SonntagsZeitung» ait tenté de prendre contact avec Vernazza, pour faire savoir au journal que ce dernier renonçait à prendre position.

Riassunto

Il Consiglio svizzero della stampa ha respinto il reclamo inoltrato contro la «SonntagsZeitung» che si riferiva all’articolo «Chronik einer tödlichen Verharmlosung» (Cronaca di una mortale banalizzazione) pubblicato il 24 gennaio 2021. Tre reclamanti sostenevano che nell’articolo fossero state taciute importanti informazioni. In particolare la «SonntagsZeitung» avrebbe più o meno fatto intendere che il primario sangallese Pietro Vernazza fosse responsabile della morte di centinaia di persone per via del Corona. La «SonntagsZeitung» avrebbe, inoltre, contattato il primario ma nell’articolo le accuse sollevate nei suoi confronti non sarebbero state circostanziate in modo preciso. Infine, al primario è stato dato troppo poco tempo per poter prendere posizione.

Il Consiglio della stampa nella sua decisione ritiene che la «SonntagsZeitung» non abbia violato il principio di equità che prevede di ascoltare anche l’altra parte. Tutte le affermazioni citate nell’articolo erano state sottoposte al primario per verifica. Nei confronti del primario la «SonntagsZeitung» aveva espressamente chiarito che l’articolo mirava a mettere in luce l’eccesso di mortalità nel Canton San Gallo. Inoltre, nell’articolo, non gli sarebbe stata attribuita alcuna responsabilità diretta o indiretta per la morte delle persone.
È stata soltanto accertata una sua influenza nelle misure politiche intraprese dal Canton San Gallo.
Stando alle valutazioni del Consiglio della stampa il primario avrebbe avuto tempo sufficiente per prendere posizione. L’ufficio stampa dell’Ospedale cantonale di San Gallo si è attivato solo cinque giorni dopo il tentativo della «SonntagsZeitung» di entrare in contatto con Vernazza rispondendo che il primario rinunciava ad una sua presa di posizione.

I. Sachverhalt

A. Am 24. Januar 2021 publizierte die «SonntagsZeitung» (SoZ) einen Artikel von Thomas Knellwolf, Roland Gamp, Oliver Zihlmann (Text) sowie Duc-Quang Nguyen und Sven Cornehls (Daten) mit dem Titel «Chronik einer tödlichen Verharmlosung». Der Untertitel lautete: «St. Gallen hatte in der zweiten Welle eine sechsmal höhere Übersterblichkeit als Basel-Stadt. Das zeigt ein grosser Vergleich der Kantone. Die Gründe liegen auch in der unterschiedlichen Corona-Politik». Auf der Frontseite der Printausgabe wird der ab Seite 11 folgende Artikel unter folgender Überschrift angekündigt: «Die St. Galler Tragödie – Der grosse Kantonsvergleich zeigt: Nirgendwo wütete die zweite Welle stärker». Unter diesem Titel ist eine Illustration abgebildet: Sie zeigt Regierungspräsident Bruno Damann und Pietro Vernazza, Chefarzt am Kantonsspital St. Gallen, vor klischeehaften Wahrzeichen von St. Gallen (Bratwurst, Olma, Fussball und Partys in Clubs). Zudem wird auf der Frontseite festgehalten, während der zweiten Corona-Welle seien in der Schweiz über 50 Prozent mehr ältere Menschen gestorben als im Durchschnitt der Vorjahre, wobei die Kantone grosse Unterschiede aufwiesen. Die Spurensuche zeige, dass es dafür auch politische Gründe gebe, so hätten Damann und Vernazza das Virus lange verharmlost.

Der ausführliche Beitrag beginnt mit der Geschichte des 66-jährigen Rentners Heinz K., der an Covid-19 verstarb, und leitet damit über zu einer Analyse der Übersterblichkeitszahlen des Bundesamts für Statistik. Die Daten der Kantone präsentiert die SoZ in einer grossen Grafik. In der Folge setzt der Artikel über fünf Phasen hinweg die Sterblichkeitszahlen, geliefert vom Bundesamt für Statistik, in Kontext zu den von den Kantonen St. Gallen und Basel-Stadt erlassenen Massnahmen gegen die Pandemie sowie zu Äusserungen von Bruno Damann, Pietro Vernazza und Aussagen aus dem «St. Galler Tagblatt». Die SoZ schreibt: «Zwölf Wochen lang sterben in St. Gallen im Durchschnitt fast doppelt so viele ältere Menschen wie zu erwarten gewesen wäre: Es sind 737 tote Rentnerinnen und Rentner mehr.» Fazit des Artikels ist, wie bereits auf der Frontseite aufgenommen, dass darauf zu schliessen sei, dass auch die unterschiedliche Corona-Politik einen Einfluss auf die Übersterblichkeit während der zweiten Welle hatte.

B. Am 28. März 2021 reichten X., Y. und Z. Beschwerde gegen die Berichterstattung der «SonntagsZeitung» vom 24. Januar 2021 beim Schweizer Presserat ein. Sie monierten, die Autoren würden den Chefarzt für Infektiologie am Kantonsspital St. Gallen, Prof. Pietro Vernazza, mehr oder weniger direkt für den Tod von Hunderten Corona-Opfern verantwortlich machen. So habe die SoZ die Richtlinie 3.8 (Anhörung beider Seiten) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») verletzt, indem sie die schweren Vorwürfe gegenüber Vernazza im Rahmen der Kontaktaufnahme nicht präzise benannt habe. Vielmehr sei ihm nur eine Reihe früherer Aussagen vorgelegt worden. Zudem sei die Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) zur «Erklärung» verletzt, da sich die SoZ zu wenig bemüht habe, den Stand des Wissens bezüglich der Wirksamkeit von nicht-medizinischen Corona-Massnahmen darzustellen. Dies trage dazu bei, die Rolle Vernazzas zu überzeichnen und die These seiner Mitverantwortung am Tod von 737 St. Gallerinnen und St. Gallern zu stützen. So unterstelle die SoZ in ihrem Text als Kausalkette, dass Vernazza mit seinen Ratschlägen und öffentlichen Äusserungen die St. Galler Kantonsregierung abgehalten habe, eine Reihe von Massnahmen gegen die Ausbreitung von Corona zu ergreifen. Dies habe wiederum dazu geführt, dass 737 über 65-Jährige unnötigerweise an Corona gestorben seien. Dazu zitieren die Beschwerdeführer (BF) verschiedene Textpassagen der Titelseite sowie des Blattinneren und betonen, dass Vernazza nie für die vom Kanton St. Gallen ergriffenen Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie verantwortlich gewesen sei. Er habe keine Entscheide gefällt und auch keine Befugnis dazu gehabt. Dennoch werde dem Durchschnittsleser suggeriert, er habe die Entscheidungen des Regierungsrats entscheidend mitgeprägt. Die SoZ vermeide eine direkte Schuldzuweisung, zeige durch Stilelemente wie die Illustration, aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten und der Darstellung der Hörigkeit der Meinungsmacher im Kanton die zentrale Verantwortung von Vernazza für die Übersterblichkeit. So entstehe der Eindruck, dass die eher lockeren Massnahmen ursächlich für die höhere Übersterblichkeitsrate waren und es den massgebenden Personen egal sei, ob die eingeschlagene Strategie richtig oder falsch gewesen sei. Die SoZ stelle die Kausalkette so dar, dass sie für den unbefangenen Leser als plausibel erscheine.

Weiter bemängeln die Beschwerdeführer, Vernazza sei nicht genügend Zeit gegeben worden, seine Argumente vorzubringen. So sei der Fragekatalog an einem Mittwochabend um 18.35 Uhr verschickt worden mit der Aufforderung, diesen bis Freitag 12 Uhr zu beantworten. Vernazza sei dann aber voll mit der Impfkampagne beschäftigt gewesen. Am Donnerstag um 14.35 Uhr habe die SoZ noch einmal nachgehakt. Die BF monieren, dass die Stellungnahme schon früher hätte eingefordert werden können, da es sich nicht um eine tagesaktuelle Geschichte gehandelt habe.

Schliesslich bringen die BF noch vor, auch Ziffer 3 der «Erklärung» sei verletzt, nämlich «Sie unterschlagen keine wichtigen Elemente von Informationen …». So funktioniere der moralische Vorwurf der SoZ an Vernazza – «Chronik einer tödlichen Verharmlosung» – nur, wenn Vernazza allgemein bekannte Fakten in den Wind geschlagen oder bewusst verharmlost hätte. So werde die einfache Schlussfolgerung der SoZ, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen den Aussagen von Vernazza und der Übersterblichkeit im Kanton St. Gallen bestehe, weder mit Studien belegt noch von Experten bestätigt. Zudem sei problematisch, dass der Hauptvorwurf nur auf einer einzigen Messgrösse (Übersterblichkeit der über 65-Jährigen) basiere und dies auch noch im Direktvergleich mit dem Musterkanton. Entscheidend sei, dass nicht zum Ausdruck komme, dass der Zusammenhang zwischen Massnahmen und Sterblichkeit nicht eindeutig sei. Die BF bringen an, dass die SoZ die Leserschaft nicht darüber informiert habe, dass es auch andere einflussreiche Experten gegeben habe, welche Vernazzas Meinung geteilt hätten, was wichtig gewesen wäre, um darzustellen, dass Vernazza nichts verharmlost, sondern versucht habe, den damaligen Stand des Wissens zu reflektieren. Ob er im Nachhinein Recht gehabt habe sei irrelevant. Hätte Vernazza die Möglichkeit gehabt, so hätte er auf bestehende Unsicherheiten hinweisen und die Vorwürfe entkräften können. Hätte die SoZ ihre Pflicht zur Wahrheitssuche ernst genommen, so hätte sie diese von Vernazza selbst nicht gelieferten Informationen von sich aus publizieren müssen. Die Beschwerdeführer sprechen von «einseitigem Thesenjournalismus mit pauschalen Schuldzuweisungen» der SoZ.

C. Am 21. Juni 2021 nahm der Rechtsdienst der TX Group, zu der die «SonntagsZeitung» gehört, für die SoZ Stellung und beantragte, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf überhaupt einzutreten sei. Einleitend hält die Beschwerdegegnerin (BG) fest, bei allen drei BF handle es sich um Medienschaffende, die aber von der Berichterstattung nicht direkt betroffen seien. Vielmehr entstehe der Eindruck, die BF würden die Interessen von Vernazza vertreten, legten ihre Beziehung zu diesem jedoch nicht offen. Zudem sei nicht bekannt, ob Vernazza ein Parallelverfahren plane oder eingeleitet habe. Dazu hätten die BF lediglich festgehalten, ihres Wissens liege in der Sache keine gerichtliche Klage vor.

Zuerst hält die Redaktion fest, dass die BF falsche und irreführende Vorbemerkungen gemacht hätten. So hätten sie behauptet, die SoZ mache mit dem Artikel Vernazza «mehr oder weniger direkt für den Tod von Hunderten Corona-Opfern verantwortlich». Die BG weist diese Anschuldigung von sich und konstatiert, dass der Artikel die Übersterblichkeit im Kanton St. Gallen in der zweiten Welle behandelt habe; Vernazzas Rolle im SoZ-Artikel hingegen überzeichneten die BF in unzulässiger Weise. Der Vorwurf, den die BF an die SoZ richteten und der Basis der Beschwerde bilde, sei im Kern falsch. Niemand könne für die Corona-Toten direkt verantwortlich gemacht werden, weshalb sich im Artikel auch keine Passage finde, welche Vernazza oder einer anderen Person diese Verantwortung zuweise. Die BF sprächen von einer Kausalkette, die aber hätten die BF selbst konstruiert, in der SoZ finde sie sich nicht. Vernazza sei in der St. Galler Diskussion um das Virus und Massnahmen durchaus eine wichtige Stimme gewesen. Entscheiden, ob Massnahmen nicht angewendet oder umgesetzt wurden, habe er aber nicht können. Zudem sei auch nicht kausal, dass allein das Ausbleiben solcher Massnahmen zu den vielen Infektionen und Todesfällen geführt habe. Vernazza habe, wie in der Zeitung aufgezeigt, keine politische Verantwortung für die Pandemiebekämpfung gehabt, aber Einfluss darauf, was die Autoren anhand der «Lex Vernazza» exemplarisch nachgezeichnet hätten. Bezeichnend sei, dass die BF den Folgebericht vom 31. Januar 2021 nicht unterbreitet hätten. Diesen Folgeartikel sowie den Kommentar zum hier besprochenen Artikel hätten die BF weggelassen. Sie seien aber relevant, um die Herangehensweise der SoZ an die Thematik zu verstehen: Die Redaktion sei von den Daten ausgegangen und so auf den Kanton St. Gallen gestossen, nicht von der Person Pietro Vernazza.

Die SoZ bestreitet, sich zu wenig bemüht zu haben, den Stand des (Nicht-)Wissens bezüglich der Wirksamkeit von nicht-medizinischen Corona-Massnahmen darzustellen. Die Behauptung der BF, dass nicht genau eruierbar sei, welche Massnahme wirke, sei falsch. Dazu lägen gesicherte Daten vor, etwa von der ETH Zürich und verschiedenen Studien, welche die Beschwerdeantwort nennt.

Zum Vorwurf der Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» respektive der Richtlinie 3.8 über die Anhörungspflicht hält die BG fest, der Vorwurf, die SoZ habe Vernazza keine Möglichkeit gegeben, zu konkret geäusserten Vorwürfen Stellung zu nehmen, sei falsch. Vernazza sei ausführlich schriftlich konfrontiert worden und dabei bereits am Anfang darauf hingewiesen worden, Thema sei die rekordhohe Übersterblichkeit. Die folgenden Fragen seien präzise gewesen und hätten die exakten Vorwürfe enthalten. Auch dass Vernazza nicht genügend Zeit gewährt worden sei bestreitet die BG. So habe eine erste mündliche und schriftliche Kontaktaufnahme bereits am 18. Januar 2021 stattgefunden, anlässlich welcher der BG eine Rückmeldung zugesagt worden sei. Weitere Kontaktaufnahmen zu Vernazza und dessen persönlicher Mitarbeiterin seien gescheitert, weshalb man am Mittwoch, 20. Januar 2021, ausführlich schriftlich konfrontiert habe mit der Bitte um Reaktion innert 42 Stunden. Am Tag darauf habe man aufgrund ausbleibender Reaktion bei der Medienstelle des Kantonsspitals St. Gallen angefragt, welche dann am Freitag geantwortet habe.

Zum Vorwurf der Verletzung von Ziffer 1 respektive der Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) schreibt die BG, die BF begründeten nicht konkret, weshalb und wie diese verletzt sei. Die BF kritisierten grundsätzlich die Herangehensweise der SoZ, ohne ein Argument zu nennen, welches gegen die Relevanz der Übersterblichkeitsdaten spräche. Es heisse lediglich, man hätte andere Parameter verwenden können, womit sich die BF dem Vorwurf des «Whataboutism» aussetzten. Auch die Verweise auf Österreich seien irreführend und zudem falsch. Die BF versuchten mit falschen Angaben zu relativieren, wie schlimm die Coronasituation in St. Gallen Ende 2020 gewesen sei. Recherche und Berichterstattung der SoZ seien jedenfalls im Einklang mit der Wahrheitssuche erfolgt.

Zur angeblichen Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» (Unterschlagen wichtiger Informationen) betont die Redaktion, der Bericht habe weder etwas unterschlagen noch Tatsachen entstellt. Auch hier hätten die BF nicht ausgeführt, womit genau Ziffer 3 verletzt sei. Vielmehr führten sie die angebliche Schlussfolgerung der SoZ an, wonach ein kausaler Zusammenhang zwischen den Aussagen von Vernazza und der Übersterblichkeit im Kanton St. Gallen bestehe, was die SoZ weder mit Studien belegt habe noch Experten bestätigt hätten. Diese Behauptung der BF sei bereits im Kern falsch, da der Artikel diesen Kausalzusammenhang nicht erstelle und ein solcher folglich auch nicht wissenschaftlich untermauert werden könne. Auch generell habe die «SonntagsZeitung» nichts unterschlagen, wenn sie Äusserungen anderer nationaler und internationaler Exponenten, welche sich nachträglich als Fehleinschätzung herausstellten, nicht erwähnt habe.

D. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Max Trossmann (Kammerpräsident), Annika Bangerter, Monika Dommann, Michael Furger, Jan Grüebler, Simone Rau und Hilary von Arx an. Simone Rau trat von sich aus in den Ausstand.

E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 1. November 2021 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1a. Die Beschwerdeführer sehen die Richtlinie 3.8 verletzt, indem sie geltend machen, dass Vernazza nur ungenügend mit den Vorwürfen konfrontiert und angehört worden sei. So seien ihm nur frühere Äusserungen zur Kommentierung gesandt worden. Man habe aber nicht präzise vorgelegt, dass die «SonntagsZeitung» Vernazza für den Tod von 737 Menschen verantwortlich mache.

Der von der SoZ publizierte Artikel befasst sich mit der Übersterblichkeit in der zweiten Corona-Welle basierend auf Zahlen des Bundesamtes für Statistik und der unterschiedlichen Massnahmen, die in den Kantonen erlassen wurden und deren mutmasslichem Beitrag zur Anzahl Infektionen beziehungsweise zur Sterblichkeit. Der Kanton St. Gallen, der gemäss der verwendeten Statistik die höchste Übersterblichkeit aufwies, wurde verglichen mit anderen Kantonen und speziell Basel-Stadt, welcher im Verhältnis zur ersten von einer deutlich schwächeren zweiten Welle getroffen wurde. Vernazza, der sich mit seiner persönlichen Auffassung bereits zu Beginn der Pandemie mit mündlichen und schriftlichen Äusserungen exponiert hatte, wird im Artikel verschiedentlich zitiert. Dies nicht nur, weil er eine wichtige Stimme zur Corona-Politik war und ist, sondern auch, weil er ab Sommer 2020 einer der Berater des Gesundheitsdirektors des Kantons St. Gallen war. Neben Äusserungen von Vernazza werden solche des Gesundheitsdirektors Damann sowie des Chefredaktors des «St. Galler Tagblatt» wiedergegeben.

Sämtliche der zitierten Äusserungen von Vernazza waren diesem am 20. Januar 2021 zur Kommentierung und allfälligen Relativierung vorgelegt worden. Thomas Knellwolf hielt in der Einleitung zur Anfrage fest, man plane einen Artikel zur Übersterblichkeit, die im Kanton St. Gallen sehr hoch gewesen sei. Vernazza musste klar sein, dass es sich mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht um einen Artikel handeln würde, der zu seinen Gunsten ausfallen wird, was auch der Stellungnahme des Kantonsspitals St. Gallen zu entnehmen ist. Zudem erheben die SoZ-Autoren weder direkt noch indirekt den Vorwurf, dass Vernazza für den Tod von Menschen verantwortlich sei, sondern es wird impliziert, dass er die Massnahmenpolitik in St. Gallen, die sich wesentlich von jener Basels unterschied, mitbeeinflusst haben könnte. Die SoZ hielt aber klar fest, die Gründe für die hohe Übersterblichkeit lägen nicht ausschliesslich in der unterschiedlichen Massnahmenpolitik. Insofern geht die Argumentation der BF fehl. Es war klar, worauf der geplante Artikel abzielte und Vernazza wurden elf Zitate vorgelegt, darunter alle fünf im Artikel verwendeten. Vernazza wurde mit seltener Eindeutigkeit, umfassend und präzis mit den Vorwürfen konfrontiert. Die SoZ hat daher nicht gegen die Richtlinie 3.8 verstossen, die Ziffer 3 der «Erklärung» ist nicht verletzt.

1b. Die BF sehen Richtlinie 3.8 zudem verletzt, da Vernazza nicht genügend Zeit eingeräumt worden sei, zu den schweren Anschuldigungen Stellung zu nehmen. Die BG legt in ihrer Eingabe unter Beibringung von Belegen dar, dass sie Vernazza bereits am 18. Januar 2021 erstmals mit einer Gesprächsanfrage zum Thema «Ein Jahr Corona in der Ostschweiz» kontaktiert hatte. Nach mehrmaligen vergeblichen Nachfragen per Telefon und E-Mail kontaktierte die SoZ Vernazza am Mittwoch, 20. Januar 2021, erneut und unterbreitete diesem ihre Fragen um 18.35 Uhr schriftlich via Mail und bat um Antwort bis am darauffolgenden Freitag um 12 Uhr. Als auch darauf keine Reaktion erfolgte, wandte sich die Redaktion am Donnerstag, 21. Januar 2021, an die Medienstelle des Kantonsspitals St. Gallen. Am Freitag, 22. Januar 2021, ging um 13 Uhr eine E-Mail eben dieser Medienstelle ein, gemäss welcher festgehalten wurde, dass Vernazza persönlich auf eine Stellungnahme verzichte. Vernazza war die Thematik seit Montag bekannt und er verzichtete am Freitag, also vier Tage später, explizit auf eine persönliche Stellungnahme. Folglich kann die Richtlinie 3.8 nicht verletzt sein, denn Vernazza hat über die Medienstelle des Kantonsspitals Stellung genommen, wenn auch nur in allgemeiner Form. Und aus dieser Stellungnahme hat die «SonntagsZeitung» korrekt und ausführlich zitiert.

2. Die BF wirft der BG weiter vor, sie habe gegen Richtlinie 1.1 zur Wahrheitssuche verstossen, indem sich die SoZ zu wenig bemüht habe, den Stand des (Nicht-) Wissens bezüglich der Wirksamkeit von nicht-medizinischen Corona-Massnahmen darzustellen. Die BF monieren, dass der Nutzen nichtpharmazeutischer Massnahmen zur Covid-19-Bekämpfung nicht belegt sei – sehe man von Grossveranstaltungen ab. Die BF bringen sodann vor, der Vorwurf an Vernazza funktioniere nur dann, wenn Vernazza allgemein bekannte Fakten in den Wind geschlagen oder bewusst verharmlost hätte. Die BF bemängeln, dass die SoZ sich nicht auf eine Messgrösse, diejenige der Übersterblichkeit, hätte beschränken dürfen. Zudem sei der Vergleich mit dem Musterkanton Basel-Stadt nicht angebracht und die Wirkung einzelner Massnahmen nicht messbar. Die BG hält dazu fest, dass die BF nicht konkret darlege, wie die BG die Wahrheitspflicht verletzt haben soll; man kritisiere grundsätzlich die Herangehensweise der SoZ ohne ein Argument zu nennen, das gegen die Verwendung der Übersterblichkeitsdaten sprechen würde. Die BF sagten einzig, man hätte andere Parameter beiziehen können. Dabei handle es sich um sogenannten «Whataboutism», indem die BF über Alternativen sprechen, um davon abzulenken, dass die von der SoZ gewählte Methode nach wissenschaftlichen Standards die zuverlässigste sei, um die Auswirkungen der Pandemie in den Kantonen zu vergleichen.

Der Presserat hat medienethische Fragen zu beantworten und wird sich darauf beschränken. Die Beschwerdeführer zeigen nicht auf, welche Tatsachenbehauptungen die Wahrheitspflicht verletzen sollen. Es liegt in der Freiheit der Medienschaffenden, die Themen zu wählen, welche sie bearbeiten wollen. Entscheidet sich eine Redaktion, für einen Artikel auf eine Messgrösse zu fokussieren, kann sie nicht mit dem Argument, dass alle verfügbaren Angaben zu berücksichtigen seien, dazu gezwungen werden, alle nur erdenklich möglichen Messgrössen einzubeziehen, um die Brisanz eines Themas abzuschwächen. Zudem war und ist die Thematik der Übersterblichkeit im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie von öffentlichem Interesse. Die SoZ hat die Wahrheitspflicht gemäss Ziffer 1 der «Erklärung» nicht verletzt.

3. Schliesslich machen die BF eine Verletzung der Ziffer 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) geltend. Auch hier zeigen die BF nicht klar auf, wie diese Verletzung erfolgt sein soll. Die BF verlangen, dass ein auf einzelne Kantone in der Schweiz fokussierter Artikel auch zahlreiche Entwicklungen und Meinungen im In- und Ausland hätte erwähnen müssen, welchen Fehleinschätzungen zugrunde lagen. Diese Auffassung der BF lässt sich jedoch nicht auf Ziffer 3 der «Erklärung» stützen, welche das Unterschlagen wichtiger Informationen untersagt. Denn ein Artikel unterschlägt keine wichtigen Informationen, wenn seine Autoren für diesen nur wenig oder gar nicht relevante Informationen nicht auch noch wiedergeben.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «SonntagsZeitung» hat mit dem Artikel «Chronik einer tödlichen Verharmlosung» vom 24. Januar 2021 weder die Ziffer 1 (Wahrheit) noch die Ziffer 3 (Anhören bei schweren Vorwürfen / Unterschlagen von wichtigen Informationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.