I. Sachverhalt
A. Am 5. Juni 2020 veröffentlichte die «Schweiz am Wochenende» einen Text von François Schmid-Bechtel unter dem Titel: «Penaltyfluch: Wir sind die neuen Engländer». Übertitel: «Wochenkommentar zum WM-Aus der Schweizer Eishockeyaner und zur bevorstehenden Fussball-EM». Der Text erschien auf der Seite «Meinung».
Darin weist der Autor darauf hin, dass sowohl Schweizer Eishockey- wie auch Fussballteams häufig unterliegen, wenn Spiele im Penaltyschiessen entschieden werden und fragt, was das «Penaltyversagen» über unsere Gesellschaft aussage. Er stellt dann fest, dass Engländer auch keine Penaltys schiessen könnten, das könne doch kein Zufall sein und folgert, dass «wir Schweizer» vermutlich einen «Penaltygendefekt» hätten. Um das gleich wieder in Frage zu stellen mit der Feststellung, dass 2006 Cabanas, Barnetta und Streller verschossen hätten und nur Streller «genetisch ein Schweizer sei, durch und durch». 2016 habe Granit Xhaka verschossen und 2019 Josip Drmic, «beide nicht gebürtige Schweizer». Er fährt dann fort und fragt – abgesehen von den Genen – nach der allenfalls fehlenden Mentalität, der Entschlossenheit, dem Killerinstinkt der Schweizer, um schliesslich auf den Druck der jeweiligen Schützen zu sprechen zu kommen, der aber auch keine schlüssige Antwort auf das Schweizer Versagen zulasse.
Weiter kommt der Autor dann auf den Unterschied zwischen Penaltys im Fussball und im Eishockey zu sprechen. Schliesslich folgt seine These: Es gewinnen jeweils diejenigen die Penalty-Entscheidungen, welche den Erfolg mehr wollen und das seien jeweils diejenigen, für die es schon ein Erfolg gewesen sei, einen Final überhaupt zu erreichen. Und der Kommentator verbindet das mit der Hoffnung, dass die Schweiz nicht mehr viele Versuche benötige, um ihren Fluch zu besiegen.
B. Am 5. Juni 2021 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, der Text verletze die Ziffern 1 (Wahrheit) und 8 (Diskriminierung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»).
Im Zentrum steht für den Beschwerdeführer die Diskriminierung, die dadurch erfolgt sei, dass eine unzulässige Verbindung von sportlichen Fähigkeiten mit genetischen Faktoren hergestellt werde. Marco Streller werde als «Schweizer durch und durch» bezeichnet, im Gegensatz zu Cabanas, Barnetta, Xhaka und Drmic. Diese Verbindung von «echten» und «unechten» Schweizern sei diskriminierend gegenüber Mitbürgern nicht-schweizerischer Abstammung und vergifte ein so schon aggressives Klima. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts habe gezeigt, wohin genetische Unterscheidungen dieser Art führten.
Den Verstoss gegen die Wahrheitspflicht (Ziffer 1) sieht der Beschwerdeführer in der Feststellung, dass Xhaka und Drmic als «nicht gebürtige Schweizer» bezeichnet werden. Das sei falsch, beide seien in der Schweiz geboren. Xhaka habe auch ausschliesslich einen Schweizer Pass.
C. Trotz zweimaliger Aufforderung am 18. Juni und am 13. August 2021 hat die «Schweiz am Wochenende» und deren Zentralredaktion «CH Media» auf die Bitte um eine Stellungnahme nicht reagiert.
D. Am 22. Oktober 2021 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Präsidium, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vize-Präsidentin, und Max Trossmann, Vize-Präsident, behandelt.
E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 20. Dezember 2021 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Der Text ist als «Wochenkommentar» auf der Seite «Meinung» erschienen. Es ist also davon auszugehen, dass es sich um eine freiere Textform handelt als eine reine Berichterstattung. Schon bei der Passage: «Was sagt das Penaltyversagen über unsere Gesellschaft aus?» beginnt sich die Frage zu stellen, ob der Text ernst oder ironisch gemeint ist. Die Frage beantwortet sich anscheinend, wenn der Autor schreibt, dass «wir Schweizer einen ‹Penaltygendefekt haben›» und fragt «Tatsächlich?». Diese Frage nach einem Penaltygendefekt kann nur ironisch gemeint sein, entsprechend auch die Feststellung, dass nur Streller ein Schweizer «durch und durch» sei. Letzteres konnte schon deswegen nicht ernst gemeint sein, weil der Autor ja dann aufzeigt: Der genetisch schweizerische Streller hat genauso verschossen wie die «genetischen Nichtschweizer». Die Gene spielen also offensichtlich doch keine Rolle in der nicht ernsten Antwort des Autors auf seine nicht ernste Frage. Das bestätigt er zwei Spalten später, wenn er sagt, «Nicht genetisch, nicht mentalitätsbedingt: Warum treffen die einen und die anderen nicht?»
2. Die Kritik des Beschwerdeführers ist aber insofern nachvollziehbar, als der Text zwischen Ironie und Ernstgemeintem in einer Art hin und her schwankt, die für die Leserschaft nur sehr schwer nachzuvollziehen ist. Die Passage etwa über den Unterschied zwischen Fussball- und Eishockey-Penaltys ist sicher ironiefrei gemeint, die Passage über genetische Unterschiede beim Penaltyschiessen wohl kaum. Es wird bei einigen Passagen nicht völlig klar.
3. Eine Diskriminierung liegt aber in jedem Fall nicht vor. Der Autor sieht als Ergebnis seiner – ernsten oder ironischen – Überlegungen keine genetischen Unterschiede, wenn es um die Penalty-Leistung geht. Und die reine, wertungsfreie Gegenüberstellung von Personen mit und ohne Migrationshintergrund beinhaltet per se noch keine Diskriminierung. Dies ist erst der Fall, wenn damit negative Vorurteile bestärkt werden. Das ist hier aber gerade nicht so, weil – wenn überhaupt – ja die Schweizer als Versager dargestellt wären, die nicht treffen und nicht die Cabanas und Xhakas. Die Ziffer 8 der «Erklärung» ist nicht verletzt. Und damit ebenso wenig die Ziffer 1 (Wahrheitspflicht), wenn der Autor im gleichen Zusammenhang Xhaka und Drmic als «nicht gebürtige Schweizer» bezeichnet. Das meint er entweder auch ironisch. Und falls nicht, wäre es eine ungenaue Bezeichnung von Personen mit Migrationshintergrund, ein handwerklicher Fehler, aber nicht ein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht im Sinne der Ziffer 1 der «Erklärung».
4. Es fragt sich aber sehr wohl, wie sinnvoll und angebracht es ist, mit dem Thema «genetische Unterschiede» bezogen auf die Leistungsfähigkeit von Menschen in einem halbironischen Text zu spielen. Ironie ist ein Stil, der sich – gedruckt – häufig nicht leicht erschliesst. Halbironisches erst recht nicht. Bei so einem heiklen Thema wäre mehr Umsicht geboten.
III. Feststellungen
1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.
2. Die «Schweiz am Wochenende» hat mit dem Artikel «Penaltyfluch: Wir sind die neuen Engländer» vom 5. Juni 2021 die Ziffer 1 (Wahrheit) und 8 (Wahrung der Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.