Zusammenfassung
Harte Kritik und schwere Vorwürfe müssen in einer fairen journalistischen Arbeit immer gut belegt sein. Und die betroffene Person muss damit präzis konfrontiert werden und Stellung nehmen können: Das gilt auch, wenn der Vorwurf zwar nicht neu ist, aber sehr lange zurückliegt. Der Presserat heisst in diesem Sinn eine Beschwerde gegen einen von Tamedia im Dezember 2020 online und im Print veröffentlichten Artikel gut.
Unter dem Titel «Kesb-Gutachten: Umstrittener Gutachter in Bedrängnis» respektive «Verstoss gegen die Berufsordnung» wurde unter anderem behauptet, dass ein Kesb-Gutachter zwei Mal wegen falscher Rechnungsstellung verurteilt worden sei («zwei Mal der falschen Rechnungsstellung überführt») und dass er psychiatrische Dienstleistungen anbiete, obwohl er nicht über die richtige Ausbildung verfüge.
Die erste Kritik war nur sehr knapp gehalten, sie war Inhalt eines vor fast zwei Jahren veröffentlichten Artikels: Das liegt zu weit zurück, als dass sich die Leserschaft ein klares Bild hätte machen können. Und der knappe Verweis, zudem nur online, auf die frühere Publikation genügte nicht. Zudem ist die Aussage, der Gutachter sei zwei Mal wegen falscher Rechnungen verurteilt worden, nicht korrekt: Im einen der zwei gerichtsrelevanten Fälle ging es um eine übliche Honorarkürzung (nicht um eine Verurteilung), im zweiten um einen nicht weiter belegten zivilrechtlichen Entscheid.
Hauptgegenstand des Berichts war das Anbieten psychiatrischer Dienstleistungen. Die Recherche ist breit, war aber auch hier mangelhaft: Sowohl hier wie bei den angeblich überrissenen Rechnungen handelt sich um schwere Vorwürfe, mit denen die Journalistin den Gutachter hätte konfrontieren müssen. Was sie unterliess: Sie informierte den Beschwerdeführer zwar, dass sie einen Artikel über ihn schreibe, benannte die Vorwürfe aber nicht genau oder gar nicht.
Fazit: Der Tamedia-Artikel verletzte die Wahrheitspflicht und das Gebot des Anhörens bei schweren Vorwürfen des Journalistenkodex.
Résumé
Les critiques vives et les reproches graves doivent toujours être bien étayés dans un travail journalistique équitable. Et la personne concernée doit y être confrontée avec précision et pouvoir prendre position: tel est aussi le cas quand le reproche n’est pas nouveau, mais remonte loin dans le temps. C’est pourquoi le Conseil de la presse accepte la plainte contre un article publié par Tamedia en ligne et sur papier en décembre 2020.
Sous les titres «Kesb-Gutachten: Umstrittener Gutachter in Bedrängnis» (expertise APEA: un expert contesté mis en difficulté) et «Verstoss gegen die Berufsordnung» (atteinte au code de déontologie), le média affirmait qu’un expert de l’APEA avait été condamné à deux reprises pour de fausses factures («zwei Mal der falschen Rechnungsstellung überführt») et qu’il offrait des prestations psychiatriques sans posséder la formation adéquate.
La première critique était formulée très brièvement, elle figurait dans un article publié il y a près de deux ans: c’est trop loin dans le temps pour que les lecteurs puissent en avoir une image claire. Et le bref renvoi à l’ancienne publication, fait uniquement en ligne, n’était pas suffisant. De plus, l’affirmation selon laquelle l’expert avait été condamné à deux reprises n’était pas correcte: dans un des deux cas soumis au juge, il en allait d’une réduction d’honoraires usuelle (pas d’une condamnation), dans l’autre d’une décision civile qui n’était pas étayée.
Le compte rendu portait principalement sur l’offre de prestations psychiatriques. Les recherches étaient étendues, mais aussi lacunaires: ici, comme dans le cas des factures prétendument excessives, il en va de reproches graves, auxquels le journaliste aurait dû confronter l’expert. Il a omis de le faire: s’il a informé le plaignant qu’il écrivait un article à son sujet, il n’a pas évoqué les reproches, ou insuffisamment.
Conclusion: l’article de Tamedia porte atteinte au devoir de vérité et au devoir d‘entendre une personne faisant l‘objet de reproches graves inscrits dans le code de déontologie des journalistes.
Riassunto
In un lavoro giornalistico corretto le critiche dure e le accuse gravi devono essere sempre ben motivate, la persona in questione deve essere confrontata in modo preciso e poter prendere posizione: vale anche nel caso in cui l’accusa o la critica non sia recente ma risalente a tempo addietro. In questo senso, il Consiglio della stampa accoglie un reclamo contro un articolo pubblicato online e sulla stampa da Tamedia nel dicembre 2020.
Con il titolo „Kesb-Gutachten: esperto controverso in difficoltà“ rispettivamente „Violazione del codice di condotta professionale“, si sosteneva, tra l’altro, che un esperto di Kesb era stato condannato due volte per false fatturazioni („due volte condannato per false fatturazioni“) e che offriva servizi psichiatrici pur non avendo la formazione adeguata.
La prima critica era molto breve, si riferiva al contenuto di un articolo pubblicato quasi due anni fa: un tempo troppo lungo perché i lettori possano farsi un quadro chiaro. E il breve riferimento, peraltro solo online, alla pubblicazione precedente non era sufficiente. Inoltre, non è corretto dire che l’esperto è stato condannato due volte per fatture false: In uno dei due casi rilevanti per il tribunale si è trattato di una riduzione del canone consuetudinario (non di una condanna); nel secondo, si è trattato di una decisione di diritto civile che non è stata ulteriormente motivata.
L’argomento principale del rapporto era la fornitura di servizi psichiatrici. La ricerca è ampia ma in questo caso superficiale: sia qui che nel caso delle presunte fatture esorbitanti, si tratta di accuse grave con le quali il giornalista avrebbe dovuto confrontarsi con l’esperto. Inoltre, sebbene il giornalista abbia informato il reclamante di stare scrivendo un articolo su di lui, non ha nominato le accuse in modo preciso o non lo ha fatto affatto.
Conclusione: l’articolo di Tamedia ha violato l’obbligo di verità e l’obbligo di essere ascoltati in caso di accuse gravi come previste nel Codice dei giornalisti.
I. Sachverhalt
A. Unter dem Titel «Kesb-Gutachten: Umstrittener Gutachter in Bedrängnis» publizierten am 3. Dezember 2020 die Online-Plattformen der Tamedia («Basler Zeitung», «Berner Zeitung», «Tages-Anzeiger», «Der Landbote» etc.) einen Artikel von Michèle Binswanger über den Gutachter Daniel Gutschner, der für verschiedene Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) tätig ist. Am Tag darauf wird derselbe Artikel in den Printausgaben des «Tages-Anzeiger» und weiterer Tamedia-Kopfblätter veröffentlicht, diesmal unter dem Titel «Verstoss gegen die Berufsordnung». Im Artikel wird über einen Entscheid der Berufsethik-Kommission (BEK) des Berufsverbandes der Schweizer Psychologen berichtet: Der Gutachter Daniel Gutschner habe in mehreren Punkten «gegen die Berufsordnung verstossen, sowohl was sein Verhalten gegenüber Klientinnen wie auch was die Sorgfaltspflicht betrifft». Es ist die Rede von sechs Beschwerden, die beim Berufsverband gegen ihn eingereicht worden seien. Die Vorwürfe hätten sich geähnelt, «er verhalte sich unwirsch, gar aggressiv, sei voreingenommen und höre nicht zu».
Im Artikel wird zudem festgehalten: «Zwei Gerichtsentscheide haben ihn auch der falschen Rechnungsstellung überführt.»
Die Journalistin schreibt, die Berufsethik-Kommission habe nun Gutschner in zwei Fällen gerügt. Der Gutachter sei mit 3000 Franken gebüsst worden. Er habe in der Folge seine Mitgliedschaft beim Berufsverband gekündigt und Rekurs eingelegt.
Im Artikel wird weiter ausgeführt, Gutschner drohe in Österreich, wo er auch praktiziere, ebenfalls Ungemach. Ein Vater, der im Rahmen eines Obhutstreites mit Gutschner zu tun hatte, habe sich bei der Zeitung gemeldet und sich über sein Verhalten beschwert. Die Journalistin berichtet, Recherchen hätten «Unstimmigkeiten in Gutschners Lebenslauf ergeben». Es fehlten Hinweise, dass er über ein abgeschlossenes Psychologie-Studium verfüge. Auf seiner Webseite biete er auch «psychologisch-psychiatrische» Gutachten an, obwohl er kein Medizinstudium abgeschlossen habe. Der betreffende Vater sei «mit drei Anträgen ans Landesgericht in Feldkirch» gelangt und habe verlangt, es sei gegen den Gutachter «ein Ermittlungsverfahren einzuleiten auf Entziehung der Sachverständigentätigkeit, zudem sei seine Ausbildung zu überprüfen». Der Artikel endet mit der Feststellung: «Das Gericht in Feldkirch will den Eingang dieser Anträge weder bestätigen noch dementieren. Bestätigt wird lediglich, Gutschner sei ‹sehr viel› als Sachverständiger für sie tätig. Gutschner hat die fraglichen Bezeichnungen mittlerweile von allen seinen Webseiten entfernt.»
B. Am 23. Februar 2021 reichte Daniel Gutschner Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, der Artikel verletze die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»). Konkret nennt der Beschwerdeführer (BF) die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Unterschlagung von wichtigen Informationen) der «Erklärung» und die dazugehörende Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen).
Der BF führt vor allem zwei für ihn kritische Punkte auf: Dass im Artikel von zwei Gerichtsentscheiden die Rede sei, die «ihn der falschen Rechnungsstellung überführt» hätten, und dass im Artikel stehe, er biete auf der Website «psychologisch-psychiatrische Gutachten» an, obwohl er über keine medizinische Ausbildung verfüge.
Zum ersten Punkt schreibt der BF: Die Aussage, dass er zweimal wegen falscher Rechnungsstellung verurteilt worden sei, «ist schlichtweg falsch und entbehrt einer Grundlage». Der online publizierte Artikel sei mit Links versehen, die zu älteren Artikeln führten. Da könne man lesen, worum es überhaupt gehe. Es handelt sich dabei um zwei Artikel derselben Journalistin, die im Frühjahr 2019 erschienen sind. Im ersten Artikel (veröffentlicht am 2. April 2019) schreibt sie über einen «Gutachter G.» [im Artikel noch anonymisiert, es handelt sich aber zweifellos um den BF, Anm. Presserat]. Die Journalistin berichtet über eine Mutter, die sich über die hohen Honorarrechnungen des Gutachters beklagte. In jenem Artikel stand: «Gegen die überrissenen Rechnungen wehrte sie sich erfolgreich vor dem Obergericht. So hatte Gutachter G. 640 Franken für Lektoratsarbeiten verlangt. Das sei ungerechtfertigt, befand das Gericht.»
Der BF erklärt in seiner Beschwerde, wie das aus seiner Sicht zu interpretieren ist: Er hatte im Auftrag des Gerichts ein Gutachten erstellt. Den gesamten Honorar-Betrag von über 15 000 Franken habe ihm das Gericht anstandslos bezahlt. Vor Obergericht ging es lediglich um den Betrag von 640 Franken (was dem Aufwand von 8 Stunden Lektoratsarbeit entsprach), den die Kindesmutter hätte übernehmen müssen. Das Gericht reduzierte den gesamten Honoraraufwand um die besagten 640 Franken, die Frau musste nicht dafür aufkommen. Vom BF habe das Gericht diesen Betrag aber nicht zurückgefordert. Er sei selber auch nicht persönlich am Verfahren beteiligt gewesen. Dass das Honorar gekürzt worden sei, habe er erst durch die BEK und die Berichterstattung in den Medien erfahren.
Im Artikel vom 2. April 2019 wird noch ein zweiter Fall erwähnt: Die Journalistin schreibt von einem Vater, der sich 2012 gegen die Rechnungsstellung des Gutachters gewehrt habe. Dieser Vater, ein Unternehmer, habe den Gutachter wegen Betrugs angezeigt, ein strafrechtliches Verfahren sei nicht aufgenommen worden: «Die zivilrechtliche Klage auf Rückzahlung des überrissenen Honorars aber gewann der Unternehmer vollumfänglich», steht in dem Text.
Wovon die Journalistin da schreibe, wisse er nicht, hält der BF fest: «Sie hat mir auch einen allfälligen zweiten Fall nie zur Kenntnis gebracht, bevor sie darüber berichtet hat.» Die Journalistin habe sich somit nicht an die Wahrheit gehalten, und habe auch wichtige Informationen nicht weitergegeben. Hinzu komme, dass die Wortwahl «der falschen Rechnungsstellung überführt» eine strafrechtliche Verurteilung impliziere. Bei einem so schweren Vorwurf hätte er angehört werden müssen.
Die Journalistin habe ihn, den BF, zwar in einem Mail gebeten, Stellung zu nehmen. Sie habe ihm aber keine Fragen zu den angeblich falschen Rechnungen und auch nicht zu irgendwelchen Gerichtsentscheiden gestellt. Die Fragen der Journalistin hätten sich um die neuen Vorwürfe zu seinen umstrittenen Methoden und zu seinen beruflichen Qualifikationen gedreht.
Damit zum zweiten für den BF heiklen und fragwürdigen Punkt des Artikels, dem Vorwurf, er habe unerlaubterweise auch psychiatrische Gutachten angeboten, womit er sich strafbar machen würde. Der BF schreibt, dass bis vor Kurzem auf der Webseite der österreichischen Fachpraxis auch psychiatrische Dienstleistungen aufgeführt waren. Es handle sich aber nicht um seine persönliche Website, sondern um die der Fachpraxis. Bis vor Kurzem habe der BF dort mit einem Psychiater zusammengearbeitet, daher hätten auch psychiatrische Gutachten angeboten werden können. Das Institut für Forensik & Rechtspsychologie in Bern habe jedoch nie psychiatrische Gutachten angeboten.
Die Fragen, die die Journalistin ihm gestellt habe, hätten sich nur um seinen Abschluss in Psychologie und seine Dissertation gedreht. Auch in diesem Punkt, Angebot psychiatrischer Gutachten, handle es sich um einen schweren Vorwurf, zu dem er nicht habe Stellung nehmen können.
C. Am 7. Juni 2021 folgt die Beschwerdeantwort der anwaltlich vertretenen Tamedia-Redaktionen. Die Beschwerde sei abzuweisen, sofern darauf einzutreten ist. Der monierte Artikel beschreibe die Geschichte faktengetreu. Es werde nie behauptet, dass der BF wegen falscher Rechnungsstellung verurteilt worden sei, weder strafrechtlich noch anderweitig. Aber im Entscheid des Obergerichts (von dem in dem Artikel vom 2. April 2019 gesprochen wird) sei effektiv das Honorar des Gutachters reduziert worden, entsprechend sei es vertretbar, von einer überrissenen und nicht sachgerechten Rechnungsstellung zu sprechen und somit sei das Faktum der falschen Rechnungsstellung gerichtlich festgelegt. Nach der Beschwerdegegnerin (BG) ist es auch nicht glaubwürdig, dass der BF über einen zweiten Gerichtsentscheid nicht informiert war, da im Artikel «Er bestraft per Gutachten» (vom 2. April 2019) eine hinreichende Beschreibung des Sachverhalts vorkomme.
Aus der Wortwahl «der falschen Rechnungsstellung überführt», so die BG, könne nicht gefolgert werden, dass es um eine «Verurteilung» gehe: «In keinem der elf im Duden aufgeführten Synonyme für ‹überführen› ist das Wort ‹verurteilen› zu finden.» Daher: Keine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» – alles was geschrieben wurde, entspreche der Wahrheit. Es liege auch keine Verletzung von Ziffer 3 vor, da keine wichtigen Informationen unterschlagen würden: Alles Relevante zu den beiden Gerichtsentscheiden sei im verlinkten Artikel von 2019 konzis dargestellt. Für die Leserschaft sei ersichtlich, dass keine strafrechtliche Verurteilung erfolgt sei. Dass ein gerichtliches Verfahren im Bereich Familienrecht kein strafrechtliches Verfahren darstelle, dürfte eindeutig sein (was den ersten Fall betrifft) und beim zweiten Fall werde ausdrücklich «zivilrechtlich» geschrieben.
Wenn der BF schreibe, er habe vom zweiten Fall keine Kenntnis gehabt, sei das unglaubwürdig: Im Artikel vom April 2019 erfolge «eine hinreichende Beschreibung des Sachverhalts. Der BF hat sich in dieser langen Zeit seit der Publikation dieses Artikels nie bei der BG beschwert.»
Weil nie von «strafrechtlichen Vorwürfen» gesprochen worden sei, habe der BF auch nicht damit konfrontiert werden müssen. Zudem habe der Gutachter 2019 – vor der Publikation des damaligen Artikels – Gelegenheit gehabt, sich zu den schwersten Vorwürfen zu äussern. Somit ist für die Redaktion auch die Richtlinie 3.8 nicht verletzt.
Bezüglich der Frage der «psychiatrischen Dienstleistungen» sieht Tamedia auch keine Verletzung des Berufskodex: Die österreichische Fachpraxis werde als Einzelunternehmung geführt, somit lasse sich nicht auf das gemeinsame Angebot von Dienstleistungen mit einem Psychiater schliessen. Gutschner sei auf der Webseite des Instituts nur als einziger Mitarbeiter angeführt. Was die Schweizer Webseite des Instituts für Forensik anbelange, weist die BG darauf hin, dass dort steht: «Ein Gutachten beinhaltet (…) detaillierte Erfassung des Tatverhalts unter sozialen, psychiatrischen sowie psychologischen Gesichtspunkten.» Da werde eindeutig der Anschein erweckt, dass der BF teilweise auch psychiatrische Gutachten anbiete. Die BG stellt sich auch bei diesem Aspekt auf den Standpunkt: keine Verletzung der Wahrheitssuche, keine Unterschlagung wichtiger Elemente.
D. Am 15. Juli 2021 teilte der Presserat den Parteien mit, dass der Schriftenwechsel abgeschlossen ist und die Beschwerde von der 1. Kammer des Presserats, bestehend aus Susan Boos (Präsidentin), Luca Allidi, Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka, Francesca Luvini und Casper Selg, behandelt wird.
E. Die 1. Kammer hat die Beschwerde in ihrer Sitzung vom 3. September 2021 und auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Ziffer 1 der «Erklärung» verlangt, dass Journalistinnen und Journalisten sich an die Wahrheit halten, ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen und sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten lassen, die Wahrheit zu erfahren. Richtlinie 1.1 konkretisiert, dass die Wahrheitssuche den Ausgangspunkt der Informationstätigkeit darstellt. Sie setzt die Beachtung verfügbarer und zugänglicher Daten, die Achtung der Integrität von Dokumenten und die Überprüfung voraus.
Entspricht es der Wahrheit, dass zwei Gerichtsentscheide den Gutachter der falschen Rechnungsstellung überführt haben? Und was bedeutet dieser Satz überhaupt? Ist er irreführend, falsch, unvollständig? Zur Beantwortung dieser Frage stellt der Presserat darauf ab, was die DurchschnittsleserInnen unter dieser Aussage verstehen. Er geht dabei davon aus, dass diese den Satz so verstehen, dass dem Gutachter ungesetzliches Verhalten nachgewiesen wurde und dass zwei Gerichte ihn diesbezüglich verurteilt haben. Die BG erwidert, im Duden sei nirgends zu finden, dass «verurteilen» ein Synonym für «überführen» sei. Woraus sie folgert: Es wurde nie behauptet, dass der Gutachter verurteilt worden ist. Dem steht entgegen, dass die Journalistin in einem weiteren Artikel, der im Mai 2019 publiziert worden war, geschrieben hatte: «Wegen falscher Rechnungsstellung ist er bereits verurteilt.» Die Journalistin hat also den Begriff «überführt» gleich «verurteilt» selber benutzt.
Zur Frage, ob die Aussage falsch ist: Im Artikel vom 3. Dezember 2020 wird die umstrittene Feststellung ohne weitere Beweise oder Erklärungen getroffen. Lediglich die Links in der Onlineversion auf den Artikel vom April 2019 machen ersichtlich, worum es geht – und nur dort sind die zwei angeblich gerichtsrelevanten Fälle aufgeführt. Im ersten Fall hat zwar das Gericht entschieden, das Honorar des Gutachters zu kürzen, respektive der betreffenden Mutter die Zahlung eines kleinen Teils dieses Honorars zu erlassen. In solchen Verfahren ist es aber absolut üblich, dass sowohl die Honorarnoten der AnwältInnen wie der GutachterInnen durch das Gericht überprüft und gegebenenfalls reduziert werden. Deshalb kann diese vergleichsweise geringe Honorarkürzung nicht als «überrissene» Rechnungsstellung und die Reduktion nicht als Verurteilung interpretiert werden.
Der zweite Fall wird hingegen als «zivilrechtliche Klage auf Rückzahlung» dargestellt, bei der der klagende Vater vollumfänglich gewonnen habe. Da stellt sich die Frage: Ist es akzeptabel, dass wichtige Informationen nur über einen Link zugänglich sind? Kann sich die Leserschaft so wirklich ein Bild machen?
Wenn eine vorgebrachte Kritik nicht neu ist, muss nicht bei jedem Artikel alles nochmals erklärt werden. Nach der Praxis des Presserates reicht eine Zusammenfassung aus. In diesem Fall liegen aber die Informationen, auf die sich der Artikel bezieht, viel zu weit zurück. Es kann nicht erwartet werden, dass sich das Publikum noch daran erinnert, was die Journalistin vor eineinhalb Jahren über den Fall geschrieben hat. Kommt hinzu, dass in den Printausgaben ein Verweis auf den früheren Artikel fehlt.
Zusammenfassend: Die Aussage, der Gutachter sei zwei Mal wegen falscher Rechnungen verurteilt worden, ist so nicht korrekt. Im ersten Fall ist sie übertrieben, im zweiten Fall ist sie nicht weiter belegt. Die Wahrheitssuche und damit Ziffer 1 der «Erklärung» ist somit verletzt.
2. Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) sieht vor, dass Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe angehört werden müssen. Die Vorwürfe sind dabei präzis zu benennen. Die Stellungnahme ist im gleichen Medienbericht fair wiederzugeben.
Nochmals zum Aspekt der falschen Rechnungsstellung: Handelt es sich um einen schweren Vorwurf? Musste der Gutachter angehört werden?
Ob eine strafrechtliche Verurteilung suggeriert wird oder nicht, ändert inhaltlich wenig: Dass jemand überrissene Rechnungen stellt, ist eine schwere Anschuldigung, die zumindest Unehrlichkeit und potenziell gar ein illegales Verhalten suggeriert. Eine Anhörung wäre erforderlich gewesen, und die hat zum Zeitpunkt dieses Artikels nicht stattgefunden. Der erste Artikel vom Frühjahr 2019 liegt zu weit zurück. Abgesehen davon wurde auf die frühere Stellungnahme des BF auch nicht Bezug genommen.
Der BF wurde zwar informiert, dass ein Artikel über ihn geschrieben werde. Mit der Kritik, dass er «zweimal der falschen Rechnungsstellung überführt» worden sei, wurde er jedoch nicht konfrontiert. Eine erneute Anhörung wäre in diesem Fall nötig gewesen. Damit ist die Richtlinie 3.8 verletzt.
Was das Angebot «psychiatrischer» Dienstleistungen betrifft: Da wird dem BF tatsächlich eine potenziell illegale Handlung unterstellt. Es handelt sich deshalb um einen sehr schweren Vorwurf. Die Journalistin hätte diesen Vorwurf ihm gegenüber präzise formulieren müssen, was sie nicht tat. Sie stellte ihm zwar per Mail einige Fragen zu seiner psychologischen Ausbildung – aber keine bezüglich seiner Legitimation, in seiner Praxis in Österreich oder der Schweiz auch «psychiatrische Abklärungen» bzw. «psychiatrische Gutachten» anzubieten. Der BF wusste also nicht, dass es im Artikel auch darum geht und konnte seine Sicht der Dinge nicht darlegen. Bezüglich der österreichischen Webseite sind seine Erklärungen plausibel. Problematisch ist es bei der Website seiner Fachpraxis in Bern. Dazu schreibt der BF von sich aus: «Die hat nie psychiatrische Gutachten angeboten.» Anhand der Dokumentation der BG wird klar, dass auf deren Webseite unter «Gutachten» sehr wohl «detaillierte Erfassung des Tatverhaltens unter sozialen, psychiatrischen sowie psychologischen Gesichtspunkten» angeboten werden.
Fazit: Der BF konnte nicht Stellung nehmen zum Vorwurf des Angebots von psychiatrischen Gutachten. Richtlinie 3.8 ist somit verletzt, dies unabhängig davon, ob dieser Vorwurf den Tatsachen entsprach.
3. Wurden im Artikel schliesslich wichtige Informationen unterschlagen, wie der Beschwerdeführer dies geltend macht (Verletzung der Ziffer 3 der «Erklärung»)? Diese Frage erübrigt sich insofern, als der vom BF gerügte Verstoss gegen die Ziffer 3 mit der obigen Feststellung einer mangelnden Anhörung bereits erstellt ist. Die Richtlinie 3.8 ist eine Spezifizierung der allgemeineren Ziffer 3.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.
2. Die Tamedia-Publikationen (Online und gedruckte Versionen) haben mit dem Artikel «Kesb-Gutachten: Umstrittener Gutachter in Bedrängnis» respektive «Verstoss gegen die Berufsordnung» gegen die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Anhören bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.