Zusammenfassung
Der Presserat hat zwei Beschwerden gegen «20 Minuten Online» gutgeheissen. Das Portal veröffentlichte das Video eines tödlichen Angriffs eines American Staffordshire Terrier auf einen Spaniel. Damit hat «20 Minuten Online» den Journalistenkodex verletzt.
Im März 2019 brachte «20 Minuten Online» einen Artikel mit dem Titel «Kampfhund zerfleischt Spaniel vor Besitzerin». In den Artikel bettete die Redaktion ein Video ein, auf dem zu sehen ist, wie ein American Staffordshire Terrier einen Spaniel zu Tode beisst. Die Besitzerin des kleinen Hundes, ein neunjähriges Mädchen, schaut zu, genauso ihre Grossmutter, die versucht, den Spaniel vor dem Angriff zu schützen. Während der 1 Minute und 17 Sekunden dauernden Filmaufnahmen hört man verzweifelte Schreie und Weinen.
Laut Presserat sollen und müssen die Medien über Hunde mit erhöhtem Gefährdungspotenzial berichten – dazu gehören etwa Tiere der Rasse American Staffordshire Terrier. Berichten sollen die Medien insbesondere dann, wenn es zu Angriffen auf andere Tiere oder Menschen kommt. Im zu beurteilenden Fall hätte es indes gereicht, die entscheidende Information des Vorfalls im Text zu transportieren. Laut Presserat gab es kein öffentliches Interesse an der Publikation des verstörenden Videos.
Besonders zu schützen sind gemäss Journalistenkodex Kinder. Doch «20 Minuten Online» machte das Gegenteil: Die Hauptprotagonistin des Videos ist eine minderjährige Hundebesitzerin, in Panik versetzt und laut Redaktion derart «stark traumatisiert», dass später ein Spezialteam aufgeboten werden muss. Das Mädchen ist dem Publikum ungeschützt ausgeliefert. Zurückhaltung seitens der Redaktion ist keine zu spüren. Auch die Grossmutter ist in einer Notlage, sie muss «machtlos» zusehen, wie der grosse Hund den kleinen «zerfleischt». Diese sensationelle Darstellung der leidenden Enkelin und der Grossmutter geht klar darüber hinaus, was durch das legitime Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit gedeckt wäre.
Nach Beurteilung des Presserats kann das Video auch Betrachterinnen und Betrachter nachhaltig verstören. Seine Veröffentlichung zielte nicht auf Information ab, sondern einzig und allein auf Sensation und – damit verbunden – auf Klicks.
Nicht verletzt hat das Video die Privatsphäre der Betroffenen. Sie werden nicht hervorgehoben, und die Redaktion hat die beiden anonymisiert. Sie waren für Leser bzw. Zuschauer nicht erkennbar.
Résumé
Le Conseil de la presse a approuvé deux plaintes contre «20 Minuten Online». Le portail a publié la vidéo d’une attaque mortelle d’un American Staffordshire Terrier sur un épagneul. Cette publication a violé le Code déontologique.
En mars 2019, «20 Minuten Online» a publié un article intitulé «Kampfhund zerfleischt Spaniel vor Besitzerin» (Un chien de combat déchire en morceaux un épagneul devant sa propriétaire). La rédaction a intégré à l’article une vidéo montrant un American Staffordshire Terrier en train de mordre un épagneul à mort. La propriétaire du petit chien, une fillette de neuf ans, regarde, tout comme sa grand-mère, qui essaie de protéger l’épagneul contre les attaques. Pendant les 1 minute et 17 secondes de la prise de vue, on entend des cris et des pleurs désespérés.
Selon le Conseil de la presse, les médias doivent rendre compte des problèmes causés par des chiens potentiellement dangereux. En particulier dans les cas d’agressions contre d’autres animaux ou des personnes. Mais dans ce cas, informer sur la nature et la gravité de l’incident suffisait. Selon le Conseil de la presse, la vidéo, dans sa brutalité, dépassait les besoins d’information du public.
Selon le Code déontologique des journalistes, les enfants doivent être particulièrement protégés. Mais «20 Minutes Online» a fait le contraire: le principal protagoniste de la vidéo est un propriétaire de chien mineur, paniqué et, selon la rédaction, si «gravement traumatisé» qu’une équipe spéciale doit être appelée plus tard. La fille est livrée à la curiosité du public sans protection. Il n’y a aucun signe de retenue de la part de la rédaction. La grand-mère est aussi dans une situation d’urgence qui demandait de la retenue.
Selon l’évaluation du Conseil de la presse, la vidéo peut également avoir un effet troublant durable sur les spectateurs. Sa publication n’était pas destinée à l’information, mais uniquement à la sensation et – associée à celle-ci – aux clics.
Par contre la vidéo n’a pas violé la vie privée des personnes concernées. Ils ne sont pas mis en évidence, et les éditeurs les ont rendus anonymes. Ils n’étaient pas reconnaissables par les lecteurs ou les téléspectateurs.
Riassunto
Il video trasmesso nel marzo 2019 da «20 Minuti Online» seguiva una notizia dal titolo: «Cane da combattimento fa a pezzi uno spaniel davanti alla sua proprietaria» e mostrava la scena dell’attacco del cane più forte contro il più piccolo. Si vede la proprietaria del cagnolino, una bambina di nove anni, che guarda atterrita mentre la sua nonna cerca di sottrarre l‘animale più piccolo all’aggressione. La scena dura un minuto e diciassette secondi, si sentono grida disperate e pianti.
Il Consiglio della stampa non contesta ai media di occuparsi di cani particolarmente aggressivi, compresi quelli di razza American Staffordshire Terrier. Si giustifica anche che si occupino di persone aggredite da cani o da altri animali. Nel caso specifico sarebbe bastato dare la notizia: non era dato alcun pubblico interesse di mostrare tutta la scena.
Il codice deontologico si occupa in più punti della tutela dei bambini. «20 Minuten Online» ha operato esattamente il contrario: ha fatto della bambina traumatizzata il centro dell’informazione (si sa che la piccola è dovuta ricorrere alle cure di specialisti), l’ha esposta senza difesa alla curiosità del pubblico. Senza alcun ritegno. Si è vista anche la nonna, impotente a intervenire mentre il cane più grosso sbranava il più piccolo. Esisteva un interesse legittimo del pubblico a vedere la bambina e l’anziana in quella situazione? No, risponde il Consiglio della stampa: il limite della legittima informazione è stato oltrepassato.
A parere del Consiglio della stampa anche chi guarda un simile filmato è esposto a rischi permanenti di traumatizzazione. Nessun diritto all’informazione poteva perciò giustificare la scelta operata: solo sensazionalismo, e chissà quanti «clic»… Da ultimo tuttavia il Consiglio riconosce che la piccola e la nonna non erano riconoscibili, il reclamo circa la violazione della sfera privata non è perciò stato accolto. Perlomeno delle due sfortunate protagoniste il nome non è stato dato!
I. Sachverhalt
A. Am 20. März 2019 veröffentlichte «20 Minuten Online» einen Artikel mit dem Titel «Kampfhund zerfleischt Spaniel vor Besitzerin». Der Untertitel lautete «Schreckliche Szenen in Ecublens VD: Ein American Staffordshire Terrier greift einen Zwergspaniel an. Die Besitzer sind machtlos.» Im Artikel wird beschrieben, dass derzeit ein in den sozialen Medien kursierendes Video für Entsetzen sorge: Ein junges Mädchen werde auf einem Spaziergang mit seinem Zwergspaniel von einem grossen American Staffordshire Terrier angesprungen. «Der Hund hat es auf den Kleinen abgesehen. Gefilmt wurde das ganze offenbar am 5. März in Ecublens VD», heisst es im Artikel.
In den Artikel bettete «20 Minuten Online» ein Video ein, auf dem zu sehen ist, wie die Grossmutter des Mädchens zu Hilfe eilt und versucht, das Tier vor den Angriffen zu schützen. Dabei wird sie in die Hand gebissen. Nach dem Kampf wendet sich die Grossmutter schliesslich ab und ruft die Polizei – «ihre Bluse ist blutverschmiert», schreibt «20 Minuten Online» im Artikel. Im Video ist auch eine dritte Person zu sehen, es handelt sich laut der Redaktion um einen Bekannten des Besitzers des Kampfhundes. Die Filmaufnahmen dauern 1 Minute und 17 Sekunden, währenddessen sind verzweifelte Schreie und Weinen zu hören.
Gleichentags veröffentlichte «20 Minuten Online» unter dem Titel «‹Der Hund hat sich richtig hineingesteigert›» ein Interview mit einem Tierpsychologen zum Vorfall. Auch in dieses Interview bettete die Redaktion das Video ein.
B. Am 20. März 2019 reichte X. eine Beschwerde beim Schweizer Presserat gegen das Video von «20 Minuten Online» ein. Dieses verletze die Richtlinie 8.3 (Opferschutz) sowie die Richtlinie 8.5 (Bilder von Unglücksfällen, Katastrophen und Verbrechen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»).
Richtlinie 8.3 schreibe vor, dass Autorinnen und Autoren von Berichten über dramatische Ereignisse oder Gewalt immer sorgfältig zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und den Interessen der Opfer und der Betroffenen abwägten, schreibt der Beschwerdeführer. Im vorliegenden Fall bestehe kein öffentliches Interesse. Die Gesichter würden im Video zwar unkenntlich gemacht, trotzdem seien die Personen «in einer misslichen Lage zu sehen, die eine Gewalttat zeigt». Die Würde der betroffenen Personen werde durch die Verbreitung des Videos verletzt.
Richtlinie 8.5 schreibe vor, dass Fotografien und Fernsehbilder von Unglücksfällen, Katastrophen und Verbrechen die Menschenwürde respektierten und darüber hinaus die Situation der Familie und der Angehörigen der Betroffenen berücksichtigten. Im Fall des Videos von «20 Minuten Online» werde die Menschenwürde nicht respektiert. Die Gesichter seien zwar unkenntlich gemacht, trotzdem aber seien die «verzweifelten Schreie» zu hören. Zudem sei klar zu erkennen, dass auch ein Kind involviert sei.
C. Am 14. Juni 2019 reichte Y. eine Beschwerde beim Schweizer Presserat gegen das Video von «20 Minuten Online» ein. Dieses verstosse gegen die Ziffer 8 (Menschenwürde) sowie die Richtlinien 7.1 (Schutz der Privatsphäre), 7.3 (Kinder), 7.8 (Notsituationen, Krankheit, Krieg und Konflikte), 8.1 (Achtung der Menschenwürde), 8.3 (Opferschutz) und 8.5 (Bilder von Unglücksfällen, Katastrophen und Verbrechen).
Das Video trage in keiner Weise zum Verstehen des Vorgefallenen bei, schreibt der Beschwerdeführer. Vielmehr gehe es bei der Veröffentlichung um «rücksichtslosen Sensationsjournalismus», der den Betroffenen die Verarbeitung des Ereignisses unnötig erschwere. Das Wissen darum, dass der traumatisierende Moment in Bild und Ton festgehalten und von Tausenden von Menschen betrachtet worden sei, bei einem Teil der Betrachter gar Belustigung oder Befriedigung ausgelöst haben könnte, wirke sich negativ auf die Verarbeitung eines (in diesem Falle wahrscheinlichen) Traumas aus. Hinzu komme, dass die Betroffenen der Verbreitung des Videos hilflos ausgesetzt seien und keine Kontrolle darüber hätten, wer dieses zu sehen bekomme.
D. Am 26. April 2019 nahm «20 Minuten Online», vertreten durch den Rechtsdienst der Tamedia AG, Stellung zur Beschwerde von X. Diese erwiese sich in jeder Hinsicht als unbegründet und sei abzuweisen.
Von einer sensationellen, die Betroffenen unnötig verletzenden Darstellung könne keine Rede sein. Das monierte Video sei – genau wie der dazugehörige Artikel – im öffentlichen Interesse und sorgfältig anonymisiert. Auch die Menschenwürde der Betroffenen verletze es in keiner Weise. Es gehe im Video in erster Linie um die Hunde bzw. den Vorfall und nicht um die betroffenen Personen.
Nach der tödlichen Kampfhund-Attacke auf einen Jungen in Oberglatt im Jahr 2005 seien in der Schweiz flächendeckend Massnahmen ergriffen worden, um das Risiko solcher Angriffe zu minimieren. Doch mittlerweile seien vielerorts Bestrebungen im Gang, diese Massnahmen wieder aufzuheben – etwa indem man auf Bundesebene 2017 die Kurspflicht für Kampfhundebesitzer wieder abgeschafft habe. Das Thema sei kurz vor dem Vorfall in den Medien präsent gewesen und von öffentlichem Interesse. Umso mehr rechtfertige sich ein solcher Beitrag.
Unter Beachtung der politischen Aktualität um Kampfhunde sei es zwingend notwendig gewesen, das Video zu zeigen – «selbstverständlich unter Achtung der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen», schreibt «20 Minuten Online». Und weiter: «Eine blosse Beschreibung hätte die Gefährlichkeit und die tödliche Hartnäckigkeit, mit der dieser Kampfhund sein Ziel verfolgte, nicht ansatzweise veranschaulichen können. Der Titel des Artikels beschreibt lediglich das unerfreuliche Ereignis einer Begegnung zweier Hunde. Die unerträgliche Hilflosigkeit und der traumatisierende Schrecken, denen die Hundehalterin und ihre Grossmutter auf ihrem Hundespaziergang inmitten einer Schweizer Stadt völlig unvorbereitet ausgesetzt waren, ergibt sich nur aus dem Video.»
Es gehe bei den aktuell zur Debatte stehenden Massnahmen nicht nur um die statistische Zahl der Beissunfälle, sondern um die qualitative Komponente, die in der Statistik nicht erfasst werde, argumentiert «20 Minuten Online» weiter. Es sei für den Gesetzgeber und insbesondere auch für die Bevölkerung von zentraler Bedeutung, dass sie über solche Vorfälle informiert würden und sich damit ein «eigenes Bild der Aktualität schaffen» könnten. Nur das Video beweise, dass Kampfhunde nach wie vor ein beträchtliches Sicherheitsrisiko für die Bevölkerung darstellen könnten. Screenshots oder ähnliches hätten das nicht vermitteln können.
Am 3. Juli 2019 nahm «20 Minuten Online» mit einer kleinen Ergänzung Stellung zur Beschwerde von Y. Aus den Ausführungen in der Beschwerdeantwort vom 26. April 2019 gehe klar hervor, dass der «Vorwurf von (rücksichtslosem) Sensationsjournalismus haltlos» sei.
E. Das Präsidium des Presserates vereinigte die beiden Beschwerden und wies sie der 3. Kammer zu. Ihr gehören Max Trossmann (Kammerpräsident), Annika Bangerter, Marianne Biber, Jan Grüebler, Markus Locher, Simone Rau und Hilary von Arx an.
F. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerden an ihrer Sitzung vom 31. Oktober 2019 und auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Die beiden Beschwerdeführer kritisieren in ihren Beschwerden ausschliesslich das Video von «20 Minuten», nicht den dazugehörigen Artikel und auch nicht das nachgeschobene Interview mit dem Tierpsychologen. Das öffentliche Interesse am Thema scheint für die Beschwerdeführer also unbestritten zu sein. Zum gleichen Schluss kommt der Presserat: Die Medien sollen und müssen über Hunde mit erhöhtem Gefährdungspotenzial berichten – dazu gehören etwa Tiere der Rassen Pitbull, Bullterrier, Staffordshire Bullterrier oder, wie im zu beurteilenden Fall, American Staffordshire Terrier. Berichten sollen und müssen die Medien insbesondere dann, wenn es zu Angriffen auf andere Tiere oder Menschen kommt. Nachdem im Dezember 2005 drei Pitbull-Terrier in Oberglatt ZH einen sechsjährigen Buben zu Tode gebissen hatten, wurden – wie von «20 Minuten Online» richtig bemerkt – auf nationaler Ebene und in diversen Kantonen die Hundegesetze verschärft. Auf Anfang 2017 wurden die eingeführten Hundekurse auf nationaler Ebene aber wieder abgeschafft. Auch in einem Teil der Kantone waren oder sind teilweise Bestrebungen im Gang, die eingeführten Massnahmen oder Gesetze wieder zu lockern oder gar aufzuheben. Es ist Aufgabe der Medien, diesen Prozess kritisch zu beobachten und begleiten.
Für den Presserat ist also unbestritten, dass Medien über Vorfälle im Zusammenhang mit Hunden mit erhöhtem Gefährdungspotenzial informieren dürfen, sollen und müssen, damit sich Gesetzgeber und Bevölkerung «ein eigenes Bild der Aktualität schaffen können», wie es «20 Minuten Online» formuliert. Er ist allerdings entschieden anderer Meinung, was das Video anbelangt: Für den Presserat beweist nicht nur das Video, dass Kampfhunde «nach wie vor ein beträchtliches Sicherheitsrisiko für die Bevölkerung darstellen können». Seines Erachtens beweist auch der Text dies, transportiert er doch die entscheidende Information: Ein American Staffordshire Terrier hat in Ecublens VD einen Zwergspaniel totgebissen. Es gibt nach Beurteilung des Presserats demnach kein öffentliches Interesse an der Publikation des Videos.
2. Jede Person hat gemäss Richtlinie 7.1 Anspruch auf den Schutz ihres Privatlebens. Auch im öffentlichen Bereich ist das Fotografieren und Filmen von Privatpersonen nur dann ohne Einwilligung der Betroffenen zulässig, wenn sie auf dem Bild nicht herausgehoben werden. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Leserreporter die Grossmutter und ihre Enkelin gefragt hat, ob er den (ungeplanten) Angriff auf ihren Hund filmen dürfe. Trotzdem hat das Video nach Ansicht des Presserats die Privatsphäre der Betroffenen nicht verletzt. Sie werden nicht hervorgehoben, und die Redaktion hat die beiden anonymisiert. Sie sind für die Leser bzw. Zuschauer nicht erkennbar. Richtlinie 7.1 zur «Erklärung» ist nicht verletzt.
3. Besonders zu schützen sind gemäss Richtlinie 7.3 Kinder. Doch «20 Minuten Online» macht das Gegenteil: Es zeigt das von einem Leserreporter erstellte Video eines Hundeangriffs. Die Hauptprotagonistin: ein neunjähriges Mädchen, in Panik versetzt und derart «stark traumatisiert», dass später ein Spezialteam aufgeboten werden muss. Die minderjährige Hundebesitzerin ist dem Publikum ungeschützt ausgeliefert. Zurückhaltung seitens der Redaktion ist keine zu spüren. Damit ist Richtlinie 7.3 verletzt.
4. Journalistinnen und Journalisten zeigen sich gemäss Richtlinie 7.8 besonders zurückhaltend gegenüber Personen, die sich in einer Notlage befinden oder die unter dem Schock eines Ereignisses stehen sowie bei Trauernden. Dies gilt auch gegenüber den Familien und Angehörigen der Betroffenen. Wie «20 Minuten Online» selbst ausführt, befinden sich die Hundehalterin und ihre Grossmutter in einer Notlage: Sie müssen «machtlos» zusehen, wie ihr Hund von einem anderen Hund angegriffen wird. Die Grossmutter eilt zu Hilfe und versucht, das Tier zu schützen und zu retten – vergeblich. Sie wird gar selbst in die Hand gebissen. Auch die Enkelin ist völlig hilflos.
Bilder von Notsituationen bergen gemäss Richtlinie 7.8 zudem die Gefahr, die Sensibilität der Betrachterinnen und Betrachter zu verletzen. Dies war für den Presserat etwa beim Bild des abgetrennten Kopfes einer jungen palästinensischen Selbstmordattentäterin gegeben (Entscheid 15/2005). Auch im vorliegenden Fall des Hundeangriffs könnte das Video die Gefühle der Betrachterinnen und Betrachter verletzen. Noch schlimmer: Es könnte sie nachhaltig verstören oder gar traumatisieren. Daran ändert auch die dem Video vorangestellte «Warnung der Redaktion» nichts, dieses könne Aufnahmen enthalte, die «den Betrachter eventuell verstören» könnten. Die Veröffentlichung zielt nicht auf Information ab, sondern einzig und allein auf Sensation und – damit verbunden – auf Klicks. Richtlinie 7.8 (Notsituationen) ist verletzt.
5. Bereits der Artikel «Kampfhund zerfleischt Spaniel vor Besitzerin» lässt erahnen, dass der Vorfall das Mädchen und seine Grossmutter möglicherweise traumatisiert haben könnte. Die Redaktion wählt Ausdrücke wie «zerfleischt» (im Titel) oder «massakriert» (Zitat einer Nachbarin im Text). Die Rede ist zudem von «schrecklichen Szenen» (im Lead) sowie «brutalem Vorfall» und «erbittertem Kampf» (im Text). Im zweitletzten Abschnitt berichtet «20 Minuten Online», dass die Grossmutter notfallmässig versorgt und für die Betreuung des Mädchens gar ein Spezialteam aufgeboten werden musste. Dieses sei «stark traumatisiert».
All dies deutet darauf hin, dass die Grossmutter, vor allem aber ihre Enkelin Opfer oder zumindest Zeugen und damit Betroffene eines dramatischen Ereignisses geworden sind. Ebendies bestätigt «20 Minuten Online» selbst in der Beschwerdeantwort: Die Hilflosigkeit, der die Hundehalterin und ihre Grossmutter unvorbereitet ausgesetzt gewesen seien, sei «unerträglich», der Schrecken «traumatisierend». Doch statt die Betroffenen dieses Vorfalls zu schützen, wie es die Richtlinie 8.3 verlangt, veröffentlicht «20 Minuten Online» das von einem Leserreporter erstellte Video auf der Webseite. Die sensationelle Darstellung der beiden Leidenden geht klar über die Grenze dessen hinaus, was durch das legitime Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit gedeckt wäre. Damit ist Richtlinie 8.3 verletzt, welche im vorliegenden Fall als spezifischere Richtlinie zum Schutz der Opfer auch die allgemein gehaltene Richtlinie 8.1 (Achtung der Menschenwürde) subsumiert.
6. Subsumiert ist unter den verletzten Richtlinien 7.8 (Notsituationen) und 8.3 (Opferschutz) im vorliegenden Fall auch die Richtlinie 8.5. Gemäss dieser müssen Fotografien und Fernsehbilder von Unglücksfällen, Katastrophen und Verbrechen die Menschenwürde respektieren und darüber hinaus die Situation der Familie und der Angehörigen der Betroffenen berücksichtigen. Der tödliche Angriff eines American Staffordshire Terrier auf einen viel kleineren und schwächeren Zwergspaniel stellt aus Sicht des Presserats einen ebensolchen Unglücksfall dar. Mit der Veröffentlichung des Videos hat «20 Minuten Online» die Menschenwürde der Betroffenen nicht respektiert. Zwar sind ihre Gesichter unkenntlich gemacht, doch hört man das Mädchen verzweifelt schreien und weinen.
«20 Minuten Online» argumentiert, es gehe im Video in erster Linie um die Hunde bzw. den Vorfall und nicht um die betroffenen Personen. Deshalb sei ihre Menschenwürde nicht verletzt. Der Presserat beurteilt dies anders: Es geht im Video sehr wohl auch um die betroffenen Personen. Es handelt sich beim Mädchen immerhin um die Halterin des Hundes. Sie und ihre Grossmutter werden bereits im Lead des Artikels prominent erwähnt («Die Besitzer sind machtlos») und damit (unfreiwillig) zu Protagonistinnen gemacht. Der auf Video festgehaltene tödliche Angriff auf den Zwergspaniel ist untrennbar mit ihnen verknüpft, sie müssen zusehen, wie er totgebissen wird. Noch mehr: Sie bringen sich beim Versuch, die Hunde zu trennen, gar selbst in Gefahr. Das ist – für die Betroffenen zumindest – mutmasslich viel schlimmer, als wenn sie ihren Hund totgebissen aufgefunden hätten, beim Angriff aber selbst nicht dabei gewesen wären. Für «20 Minuten Online» ist die Anwesenheit der beiden Zeuginnen hingegen – um es zynisch zu formulieren – attraktiver, weil sensationeller: Gerade weil die Hundehalterin und ihre Grossmutter den Vorfall aus nächster Nähe miterleiden, ist das Video für die Redaktion interessant – und verspricht Klicks.
Mit der Veröffentlichung des Videos hat «20 Minuten Online» die Menschenwürde der beiden Betroffenen, insbesondere des Mädchens, verletzt. Die beiden müssen nicht nur miterleben, wie ihr Hund totgebissen wird, sie müssen dies in der medialen Öffentlichkeit tun. Es wird ihnen dabei zugesehen, wie sie in Panik geraten, wie die Grossmutter verzweifelt mit dem Terrier kämpft, es wird ihnen dabei zugehört, wie sie schreien – und möglicherweise psychische Schäden erleiden. Sie haben keine Ahnung, wer sich dieses Video alles anschaut. Nicht auszuschliessen ist, dass eine allfällige Traumatisierung bei den Betroffenen so verstärkt wird. Der Presserat verurteilt die Publikation dieses Videos.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerden werden in der Hauptsache gutgeheissen.
2. «20 Minuten Online» hat mit dem Video zum Artikel «Kampfhund zerfleischt Spaniel vor Besitzerin» vom 20. März 2019 die Ziffer 7 (Kinder; Notsituationen, Krankheit, Krieg und Konflikte) sowie die Ziffer 8 (Menschenwürde, Opferschutz) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.
3. Nicht verletzt ist Ziffer 7 unter dem Aspekt des Schutzes der Privatsphäre.