Nr. 65/2019
Recherchegespräche / Identifizierung

(X. c. «Blick»)

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Zusammenfassung

Nach einem Gespräch mit einem per Strafbefehl verurteilten Mann schlug der Journalist des «Blick» diesem vor: entweder Korrekturlesen oder Anonymisierung. Der Mann entschied sich für die Anonymisierung.

Der Artikel wurde dann veröffentlicht, ohne dass ihm seine Zitate vorgelegt wurden. Sein Name wurde vollständig geändert, sein Gesicht teilweise verdeckt. Der Artikel nannte jedoch seine Aktivitäten und seine Wohngegend. Vor dem Presserat machte er geltend, «Blick» habe sein Recht auf Korrekturlesen nicht respektiert, zudem sei er erkennbar.

Für den Presserat kann das Recht auf Korrekturlesen nur dann entfallen, wenn die Anonymisierung vollständig ist. Dies war trotz der Namensänderung nicht der Fall. Wie in früheren Fällen entschied der Presserat, dass die Kombination aus einem unzureichend abgedeckten Porträt und Angaben, die entbehrlich waren, eine Identifikation über das familiäre, soziale oder berufliche Umfeld hinaus ermöglichten.

Der Presserat erachtet den vorgeschlagenen «Deal», zwischen dem Recht auf Korrekturlesen und Anonymisierung wählen zu müssen, als nicht mit dem Journalistenkodex vereinbar.

Résumé

Après un long entretien avec un journaliste du «Blick», l’interlocuteur – condamné par ordonnance – aurait été soumis au marché suivant: droit de relecture ou anonymisation, et il aurait opté pour le second terme de l’alternative.

L’article paraît donc sans que ses citations lui aient été soumises. Son nom est entièrement modifié, et son portrait est partiellement recouvert. Mais l’article évoque ses activités et sa région de résidence. Il saisit le Conseil de la presse pour non respect du droit de relecture et parce qu’il juge qu’il peut être identifié.

Pour le Conseil de la presse, le droit de relecture ne peut tomber que si l’anonymisation est totale. Ce qui n’est pas le cas, en dépit de la modification du nom. Comme dans des cas précédents, le Conseil de la presse juge que la combinaison d’un portrait insuffisamment caché et d’indications non indispensables permet une identification au-delà de son entourage familial, social ou professionnel.

Par ailleurs, le Conseil de la presse juge non déontologique le «deal» qui aurait consisté à devoir choisir entre le droit de relecture et l’anonymisation.

Riassunto

Una persona condannata penalmente accorda un lungo colloquio a un giornalista. Il patto è: diritto di rileggere il servizio oppure anonimizzazione del caso. L’articolo è pubblicato senza che vi sia stata rilettura, senza menzione del nome e con una foto parzialmente coperta: tuttavia vi si citano le attività che la persona svolge e la regione dove risiede. Il reclamo al Consiglio della stampa lamenta il mancato rispetto del diritto di rilettura e il fatto che l’identificazione sia resa possibile.

Nella sua presa di posizione, il Consiglio della stampa ribadisce che il diritto di rilettura può essere revocato solo nel caso in cui la persona intervistata sia del tutto resa irriconoscibile. Nel caso specifico, la combinazione tra la foto ritoccata e la citazione di particolari non essenziali produce il riconoscimento della persona oltre la cerchia ristretta dei suoi rapporti di famiglia, sociali o di lavoro.

Il Consiglio della stampa ritiene pure deontologicamente scorretto che all’intervistato si proponga di scegliere tra diritto di rilettura e anonimizzazione.

I. Sachverhalt

A. Am 30. Mai 2019 veröffentlichte «Blick» einen Artikel von Marco Latzer mit dem Titel: «Dieser Aggro-Lehrer braucht selber Hilfe!». Der Obertitel präzisiert: «Wolfgang D. (53) wütet in der Ostschweiz». Im Artikel geht es um einen Finanzberater, der sich als Christ bezeichnet und im Internet Schülern jeden Alters für 50 Franken Unterstützung anbietet. Wolfgang D. jedoch, so der Artikel weiter, bräuchte selbst Unterstützung, da er von der Staatsanwaltschaft wegen gewalttätigen Verhaltens – im Artikel beschrieben und über das sich der Betreffende äussert – gebüsst worden sei. Am Ende des Artikels kommt D. wie folgt zu Wort: «Mit 50 habe ich beschlossen, mir nicht mehr alles gefallen zu lassen (…)»; D. erklärt auch, er habe gegen dieses «unfaire» Urteil nicht Berufung eingelegt, weil dies ihn zu viel Zeit und Geld gekostet hätte.

B. Am 30. August 2019 wandte sich X. (im Artikel: Wolfgang D.) mit einer Beschwerde an den Schweizer Presserat. Er macht geltend, «Blick» habe gegen Ziffer 4 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») und gegen die zugehörige Richtlinie 4.6 (Recherchegespräche) verstossen. Er habe bei seinem Treffen mit dem Verfasser des Artikels darum gebeten, die ihm zugeschriebenen Zitate lesen zu können, diese seien ihm jedoch nicht vorgelegt worden. Nach Veröffentlichung des Artikels habe er darum gebeten, dass die Zitate angepasst würden. Dies sei ihm verweigert worden. Darüber hinaus ist der Beschwerdeführer der Ansicht, dass «Blick» auch gegen Ziffer 7 der «Erklärung» verstossen hat (Richtlinie 7.2, Identifizierung). Auch wenn sein Name vollständig geändert worden sei, erlaubten sein Porträt (wenn auch mit schwarzem Balken versehen) und die Angaben zu seinen Aktivitäten und seinem Wohnort seiner Meinung nach eine Identifizierung.

C. Am 9. Oktober 2019 nahm der Rechtsberater von Ringier, Matthias Schwaibold, Stellung zur Beschwerde. Am Ende des einstündigen Gesprächs zwischen dem «Blick»-Journalisten und dem Beschwerdeführer habe dieser kein Korrekturlesen gefordert, sondern eine Anonymisierung. Diese sei gewährleistet worden. Der Beschwerdeführer sei ausdrücklich vor die Wahl gestellt worden: entweder Anonymisierung oder das Recht auf Korrekturlesen. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer die im Artikel zitierten Sätze tatsächlich so geäussert, und es sei völlig klar gewesen, dass «Blick» sie wiedergeben durfte. Hinsichtlich der Identifizierung ist «Blick» der Ansicht, dass der Beschwerdeführer nur von sich selbst erkannt werden könne: Vor- und Nachname seien geändert worden, das Porträt sei teilweise abgedeckt und der Wohnort sei nicht erwähnt.

D. Das Präsidium des Presserats wies die Beschwerde der 2. Kammer zu, bestehend aus Sonia Arnal, Annik Dubied, Mélanie Pitteloud, Michel Bührer, Dominique von Burg (Vorsitz), Denis Masmejan und François Mauron.

E. Die 2. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 7. November 2019 und auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. a) Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe während seines Interviews mit dem Journalisten darum gebeten, seine Zitate gegenlesen zu können. «Blick» führt demgegenüber aus, der Journalist habe dem Beschwerdeführer die Wahl gelassen: entweder Anonymisierung oder das Recht auf Korrekturlesen. Der Beschwerdeführer habe die erste Option gewählt. Der Presserat hält fest, dass das Recht auf Korrekturlesen im Interview zwischen dem Journalisten und dem Beschwerdeführer erwähnt wurde. Letzterer war sich daher seines Rechts gestützt auf Richtlinie 4.6 (Recherchegespräche) bewusst. Ob der Beschwerdeführer ausdrücklich auf sein Recht auf Korrekturlesen verzichtet hat, dazu kann sich der Presserat aufgrund der Aktenlage nicht äussern.

b) Wie ist die Behauptung des «Blick» zu beurteilen, wonach das Recht auf Gegenlesen erlischt, wenn die Person nicht identifiziert wird? Im Prinzip kann der Presserat dieser Argumentation folgen unter der Voraussetzung, dass eine vollständige Anonymisierung erfolgt ist. Dies ist vorliegend jedoch bei weitem nicht der Fall. Zwar wurden der Vorname und der Anfangsbuchstabe des Nachnamens des Beschwerdeführers geändert, aber die Kombination aus seinem nicht ausreichend anonymisierten Porträt und Angaben über seine Wohngegend und seine Aktivitäten ermöglichen es, D. ausserhalb seines familiären, sozialen oder beruflichen Umfelds zu identifizieren. Darüber hinaus hält der Presserat den vom Journalisten seinem Gesprächspartner vorgeschlagenen «Deal» für unethisch: die Anonymisierung im Austausch für das Recht auf Korrekturlesen. Blick» verstiess daher gegen Ziffer 4 (Richtlinie 4.6) der «Erklärung».

2. «Blick» verstiess im Weiteren auch gegen Ziffer 7 der «Erklärung». Der Beschwerdeführer hatte, obwohl er verurteilt wurde, Anspruch auf Schutz seiner Persönlichkeit. Wie er jedoch zu Recht betont, bleiben auf dem veröffentlichten Portrait seine Haare und sein Lächeln trotz partieller Gesichtsabdeckung gut erkennbar, insbesondere in Kombination mit den oben genannten Angaben. Er konnte daher über sein familiäres, soziales oder berufliches Umfeld hinaus identifiziert werden. Der Presserat hat bereits früher auf die Risiken einer Identifizierung bei Veröffentlichung von Porträts, welche eher pro forma verpixelt oder mit einem schwarzen Balken versehen wurden, hingewiesen, kombiniert mit Hinweisen, die für das Verständnis der Geschichte nicht wesentlich sind (siehe die Stellungnahmen 14/2013 und 17/2013).

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. Mit dem Artikel «Dieser Aggro-Lehrer braucht selber Hilfe!» hat «Blick» gegen die Ziffern 4 (Recherchegespräche) und 7 (Identifizierung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.

3. Das Recht, Zitate gegenzulesen, welche im Rahmen eines Recherchegesprächs gemacht wurden, entfällt nur dann, wenn der Gesprächspartner vollständig anonymisiert wurde.