Nr. 63/2020
Wahrheitspflicht / Entstellung von Tatsachen / Privatsphäre

X./Y. c. «Berner Zeitung»

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I. Sachverhalt

A. Am 4. Februar 2020 veröffentlichte die «Berner Zeitung» (BZ) einen Artikel mit dem Titel «Der Schweizer Kandidat, den es nicht geben dürfte». Darin befasst sich Benjamin Bitoun mit dem Schweizer Kandidaten für die Generaldirektion im Weltpostverein (Universal Postal Union, UPU), Pascal Clivaz, dem bis anhin stellvertretenden Generaldirektor der UPU und einzigen Schweizer mit der Aussicht auf die Spitzenposition innerhalb einer UNO-Organisation. Laut dem Artikel haften der Kandidatur allerdings mehrere Mängel an: Clivaz und sein Vorgesetzter hätten die Finanzen nicht im Griff gehabt, sie seien gerichtlich des Amtsmissbrauchs schuldig gesprochen worden, illegale Kündigungen hätten die UPU 2,7 Millionen Franken gekostet. Darüberhinaus sei Clivaz’ Kandidatur gar nicht zulässig, seine Amtszeit sei abgelaufen, das Rechtsgutachten, welches dies widerlegen soll, sei von einem «Günstling» Clivaz’ verfasst worden und der Backgroundcheck, den Schweizer Kandidaten des Aussenministeriums jeweils zu bestehen hätten, sei von ihm dank seiner hervorragenden Beziehungen in Bern umgangen worden. Fragen dazu habe die UPU nicht beantwortet.

Am folgenden 5. Februar erschien ein zweiter Artikel des gleichen Autors unter dem Titel «Sie wurde sexuell belästigt – und ihr Chef schaute weg». Mit dem «Chef» ist wieder Pascal Clivaz gemeint. Es wird geschildert, dass eine Frau, D. H., die als externe Beraterin fünf Jahre lang am UPU-Hauptsitz in Bern arbeitete, von einem hochgestellten australischen Delegierten psychisch und physisch bedrängt worden sei. Als sie sich dem Delegierten mehrfach verweigert habe, sei dieser aggressiv geworden, er habe sie beschimpft und schliesslich dafür gesorgt, dass ihre Arbeiten nicht angenommen und auch nicht mehr vollumfänglich finanziert worden seien. Die Frau, angestellt über eine Vermittlungsfirma, aber mehrere Jahre bei der UPU tätig, habe sich an Clivaz gewandt, der habe Abhilfe versprochen, aber über ein Jahr lang fast nichts unternommen. Schliesslich habe D. H. sich direkt an die australische Post gewendet, welche den Fall sofort untersucht und den Mann bestraft und entlassen habe. 14 Tage nach diesem Entscheid habe der Weltpostverein der Frau gekündigt. Ergänzt wurde der Artikel mit einem kurzen Interview mit dem Titel «Das sagt die Anwältin», in welchem geklärt wird, wie sich die Rechtslage präsentiert. Dabei wird als erstes gefragt: «Eine Mitarbeiterin des Weltpostvereins wurde von einem ausländischen Delegierten sexuell belästigt. Sie sagte Stopp, mehrmals, auch schriftlich, sie dokumentierte die Vorfälle, informierte ihre Vorgesetzten. Wie beurteilen Sie ihr Vorgehen?» Antwort: «Sie hat alles richtig gemacht …».

Am 26. Februar 2020 erschien in der BZ ein dritter Artikel. Titel: «Schweiz hält an Skandal-Kandidat fest». Untertitel: «… Im Berner Casino wirbt die Schweiz heute für die Kandidatur von Pascal Clivaz für das höchste Amt im Weltpostverein. Dessen Rolle in einem Fall von sexueller Belästigung wischt das Bakom vom Tisch.» In diesem Text werden die Kritikpunkte der früheren Artikel wiederholt: «Skandale», «verlorene Gerichtsfälle», «regelwidrige» Kandidatur, der Fall sexueller Belästigung. Der Autor weist darauf hin, dass die Kündigung der Betroffenen nach Schweizer Recht ein Gesetzesverstoss gewesen sei und stellt die Frage, ob die Bundespräsidentin darüber informiert worden sei. Das Uvek antworte darauf, Simonetta Sommaruga werde an der Bewerbungsveranstaltung «wegen einer anderen, dringlichen Verpflichtung» nicht teilnehmen, weise aber darauf hin, dass der Bundesrat die Problematik der sexuellen Belästigung sehr ernst nehme. Hinsichtlich der Rolle Clivaz’ weiche das Departement aber aus. Das Opfer, so der Artikel weiter, sei darob fassungslos.

B. Am 10. März 2020 reichten X. und Y. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen die drei Artikel ein. Mit der anhaltenden negativen Berichterstattung über Pacal Clivaz verletze die «Berner Zeitung» das Wahrheitsgebot der Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»), ebenso die Ziffer 3 (Umgang mit Quellen, Entstellen von Bildern) und die Ziffer 7 (anonyme und sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung». Die negative Berichterstattung gegen Pascal Clivaz und die UPU gehe schon auf frühere Artikel im März und Juni 2019 zurück. Im Fall der drei Texte vom Februar 2020 sei die Basis der Vorwürfe gegen Clivaz immer die gleiche, nämlich dass das Opfer der sexuellen Belästigung eine Angestellte der UPU gewesen sei. Das sei falsch. D. H. sei Angestellte einer Vermittlungsfirma gewesen, entsprechend seien weder Clivaz noch andere Führungspersonen der UPU für die arbeitsrechtlichen Konsequenzen – insbesondere die Kündigung der Frau – zuständig gewesen. Aber auch die Behauptung, Clivaz habe nichts unternommen, als D. H. sich bei ihm meldete, sei falsch, er habe, ohne dazu verpflichtet gewesen zu sein, die australische Post über den Vorwurf informiert und eine Aussprache mit dem Beschuldigten initiiert, welche mit einem gemeinsamen Beschluss der Beteiligten geendet habe.

Weiter werde im Artikel vom 4. Februar 2020 das Foto von Clivaz untertitelt mit «Wollte keine Untersuchung». Das sei perfid, hinzu komme, dass im Interview mit der Anwältin eine falsche Frage im Hinblick auf eine falsche Antwort gestellt werde, wenn einleitend gesagt werde, D. H. sei eine Angestellte der UPU. Das sei sie eben nicht gewesen.

Die Ziffer 3 der «Erklärung» werde mit den Artikeln verletzt, indem ohne Quelle und ohne weitere Angaben davon gesprochen werde, Clivaz’ Kandidatur sei von einem «Günstling» als regelkonform qualifiziert worden. Das sei nicht wahr und nicht belegt.

Die Ziffer 3 der «Erklärung» sei auch mit der manipulativen Verwendung von Bildern verletzt worden: Im Artikel vom 4. Februar 2020 sei ein grosses Porträt von Clivaz, der Nummer 2 des Weltpostvereins, zu sehen. Dabei sei das Pflichtenheft der UPU für den Vize-Generaldirektor unmissverständlich klar. Er assistiere dem Generaldirektor und vertrete ihn in dessen Abwesenheit. Auf Seite 3 sei dann ein Bild der Nummer eins des Chefs der UNRWA, des Schweizers Pierre Krähenbühl, zu sehen, der wegen Führungsfehlern habe zurücktreten müssen. Dieser sei aber der oberste Chef seiner Behörde gewesen. Das seien zwei unvergleichbare Dinge, die hier mittels manipulativer Bebilderung miteinander in Zusammenhang gebracht würden.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 8. Juni 2020 beantragte der Rechtsdienst der TX Group für die «Berner Zeitung», die Beschwerde sei abzuweisen.

Zunächst wird festgehalten, dass die BZ keine Kampagne führe, sondern im vergangenen Jahr über andere Aspekte im Zusammenhang mit der UPU berichtet habe. Dazu sei aber die Frist zur Beschwerde längst abgelaufen.

Was den Verstoss gegen die Ziffer 1 der «Erklärung», die Wahrheitspflicht, angeht, so bezeichnet die Beschwerdegegnerin (BG) die Basis der Ausführungen seitens der Beschwerdeführer (BF) als unzutreffend, dass nämlich Clivaz und die UPU gar nicht Arbeitgeberin des Opfers D. H. gewesen sei. Clivaz sei sehr wohl für die Angestellte und deren Belange verantwortlich gewesen. Er sei als «responsible supervisor», also als Vorgesetzter bezeichnet worden, diese Bezeichnung könne auch über den klassischen Arbeitsvertrag hinaus gelten. Gemäss seinem Pflichtenheft sei er für das Führen des Staffs am Hauptsitz verantwortlich, dies hätten verschiedene Quellen der BZ bestätigt. Im Übrigen sei er gemäss internen Papieren auch der so genannte «focal point for sexual harassment» gewesen, und das beziehe sich nicht nur auf UPU-Angestellte. Die Richtlinien zur Konfliktlösung innerhalb der Organisation legten fest, dass das Management nicht nur zuständig sei für das Verhalten gegenüber Festangestellten der UPU, sondern auch für «other persons performing duties for the Union».

Dass Clivaz sehr wohl auf die Klagen der D. H. reagiert habe, sei nicht zutreffend: Er habe seit April 2014 von den Belästigungen gewusst, die australische Post habe aber erst im April 2015 davon erfahren und dies erst noch von D. H. und nicht von Clivaz. Die BZ stützt sich dabei auf Dokumente, die der Beschwerdeantwort beigelegt sind, ebenso bei der Rekonstruktion der Frage, ob Clivaz zu einer Lösung des Konflikts beigetragen habe. Dies sei nicht der Fall gewesen. Die in einer Sitzung erarbeitete Lösung sei untauglich gewesen, und danach habe Clivaz nie mehr auf die Bitten und Klagen von D. H. reagiert, vor allem habe er auch die vorgeschriebene Untersuchung nie eingeleitet. Die BZ habe mit ihrer Berichterstattung entsprechend weder gegen die Ziffer 1 (Wahrheit) noch gegen die Ziffer 3 (Unterschlagen wichtiger Elemente) der «Erklärung» verstossen.

Die behauptete Manipulation von Bildern in der Gegenüberstellung von P. Clivaz mit P. Krähenbühl wird ebenfalls zurückgewiesen. Alles sei korrekt dargestellt, dass man hier einen Vergleich anstelle, sei journalistisch vollkommen unproblematisch. Er dränge sich im Gegenteil auf angesichts der Spitzenpositionen der UNO, um die es in beiden Fällen gehe und angesichts der Reputation der Schweiz, die in beiden Fällen auf dem Spiel stehe.

All dies rechtfertige die Berichterstattung auch vor dem Hintergrund des Schutzes der Privatsphäre (Ziffer 7 der «Erklärung»), welchen die BF ebenfalls geltend machen. Es gehe um die beruflichen Tätigkeiten einer in der Öffentlichkeit stehenden Person.

D. Am 16. Juni 2020 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, sowie den Vizepräsidenten Casper Selg und Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 17. August 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerdeführer verweisen auf zwei Artikel aus dem Sommer 2019, wenn sie geltend machen, die BZ führe eine Kampagne gegen die UPU und Pascal Clivaz. Der Presserat kann auf diese Texte nicht eintreten, die Frist von drei Monaten zur Einreichung einer Beschwerde ist, wie die BF selber erwähnen, verstrichen.

2. Zu Ziffer 1 der «Erklärung», der Wahrheitspflicht: Ein wesentlicher Teil der Vorwürfe seitens der BF stützt sich explizit darauf ab, dass das Opfer der sexuellen Belästigung gar keine Angestellte der UPU gewesen und damit auch nicht in den Verantwortungsbereich des stellvertretenden Generaldirektors Clivaz gefallen sei. Hier werde wiederholt eine Unwahrheit geäussert. Das mag rein formaljuristisch mindestens teilweise stimmen, dem kann der Presserat aber unter medienethischen Gesichtspunkten nicht zustimmen. Die betroffene Frau arbeitete fünf Jahre lang am Hauptsitz der UPU. Was sich dort abspielt, kann ihr juristischer Arbeitgeber gar nicht mitbekommen, hingegen die Verantwortlichen der UPU sehr wohl. Die UPU hält in ihren Richtlinien laut BG denn auch fest, dass das Management im Falle von Konflikten für alle Angestellten zuständig sei, für die eigenen wie für externe. Der stellvertretende Generaldirektor Clivaz war in jedem Fall aber ausdrücklich zuständig für Fälle von sexueller Belästigung im Haus. Dass ausgerechnet in diesem Bereich ein Arbeitgeber (die Vermittlungsfirma) zuständig sein soll, der – ausser Hause – keine Kenntnis und keine Weisungsgewalt haben kann, wäre widersinnig. Mindestens funktional war das Management der UPU führungsverantwortlich für D. H., entsprechend sind die von dieser Prämisse ausgehenden Aussagen des Artikels nicht falsch.
Gemäss dem vorliegenden Aktenstand ist auch die Behauptung der BZ richtig, wonach Pascal Clivaz über ein Jahr lang nicht auf die Klagen von D. H. reagiert habe. Dies gilt selbst, wenn dieser einmal versuchte, zwischen den Parteien zu vermitteln. Die erforderliche und vom Opfer erbetene Untersuchung wurde jedenfalls nach dem hier vorliegenden Kenntnisstand nicht eingeleitet, bis das Opfer selber in Australien darum nachsuchte. Insofern ist auch an der Bildunterschrift «wollte keine Untersuchung» nichts auszusetzen. Ebenso wenig wie an der beanstandeten Fragestellung an die Anwältin: Faktisch handelt es sich um eine «Angestellte», wenn jemand fünf Jahre lang in einem Haus arbeitet und den dortigen Weisungsbefugten faktisch unterstellt ist. Die Ziffer 1 der «Erklärung» ist somit nicht verletzt.

3. Die BF machen weiter eine Verletzung von Ziffer 3 (Transparenz der Quellen) der «Erklärung» geltend, weil mit Verweis auf verschiedene anonyme Quellen festgestellt werde, Pascal Clivaz habe von einem «Günstling» attestiert bekommen, seine Kandidatur sei zulässig, obwohl der Wortlaut der betreffenden Bestimmung eigentlich das Gegenteil besage. Dass die betreffenden Zeugen in einem derartig gespannten Umfeld nicht namentlich genannt werden wollen, erscheint dem Presserat nachvollziehbar, entsprechend ist gegen ihre Anonymisierung nichts einzuwenden.

Die BF sehen die Ziffer 3 der «Erklärung» auch unter dem Gesichtspunkt des Unterschlagens von Information und der Entstellung von Tatsachen mittels Bildern verletzt, weil im Artikel vom 4. Februar 2020 ein Bild von Clivaz einem solchen von Ex-UNRWA-Chef Pierre Krähenbühl gegenübergestellt werde. Es gehe hier um zwei sehr verschiedene Problematiken, die einander ungerechtfertigt gleichgesetzt würden. Auch dieser Argumentation kann der Presserat nicht folgen: Es geht in beiden Fällen um Schweizer Diplomaten auf der höchstmöglichen, weltweit exponierten Stufe der UNO-Hierarchie. In beiden Fällen stellt sich die Frage nach der beruflichen und ethischen Eignung und danach, wie reagiert wird, wenn Vorwürfe laut werden. Diese Fragen zu stellen, die entsprechenden Annahmen kritisch zu hinterfragen ist Aufgabe der Medien und liegt im öffentlichen Interesse des Landes. Ziffer 3 der «Erklärung» ist nicht verletzt.

4. Eine Verletzung der Privatsphäre (Ziffer 7 der «Erklärung») ist ebenso wenig erkennbar: Die – zweifellos kritische – Berichterstattung bezieht sich ausschliesslich auf die beruflichen Aktivitäten einer Person, deren berufliche Eignung für ein öffentliches Amt zur Diskussion steht. Diese ist durch die Richtlinie 7.2 zur «Erklärung» gedeckt. Ziffer 7 der «Erklärung» ist nicht verletzt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «Berner Zeitung» hat mit den Artikeln «Der Schweizer Kandidat, den es nicht geben dürfte» vom 4. Februar 2020, «Sie wurde sexuell belästigt – und ihr Chef schaute weg» vom 5. Februar 2020 und «Schweiz hält an Skandal-Kandidat fest» vom 26. Februar 2020 die Ziffern 1 (Wahrheitsgebot), 3 (Entstellung von Tatsachen) und 7 (Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.