Nr. 56/2021
Wahrheit / Unterschlagen von Informationen / Berichtigungspflicht

(X. c. «Tages-Anzeiger» und «Basler Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 12. Dezember 2020 veröffentlichten unter anderen der «Tages-Anzeiger» (TA) und die «Basler Zeitung» (BaZ) auf ihrer «Wissen»-Seite einen Artikel von Martin Läubli mit dem Titel «Die Erderwärmung ist unkorrigierbar». Darin beantwortet der Autor anlässlich des fünften Jahrestags des Pariser Klimaabkommens sieben (selbst gestellte) «drängendste Fragen» zum Thema Erderwärmung.

– Er stellt fest, dass es laut «Global Carbon Project» kein Anzeichen dafür gebe, dass der Ausstoss von klimaschädlichen Gasen demnächst das Maximum erreichen werde und selbst wenn dem so wäre, würde das «Depot» an CO2 in der Luft weiterhin jedes Jahr grösser. Um die Klimaziele des Pariser Abkommens zu erreichen, müsse die Erderwärmung unter 2, besser unter 1,5 Grad Celsius bleiben.
– Die mittlere Temperatur erhöhe sich derzeit laut wissenschaftlichen Beobachtungen um 0,2 Grad alle zehn Jahre, in – je nach Umständen – etwa fünf bis zwanzig Jahren werde laut dem ETH-Klimaforscher Reto Knutti die kritische Schwelle von 1,5 Grad im langjährigen Durchschnitt überschritten sein.
– Dass die Politik sich heute auf das 1,5-Grad-Ziel (und nicht mehr auf 2 Grad) konzentriere, liege daran, dass schon dieser Anstieg zu teilweise dramatischen ökologischen Folgen führen werde.
– Die jetzt festzustellende Erderwärmung sei grundsätzlich unkorrigierbar, es würde Jahrtausende dauern, bis die Temperatur wieder zu sinken begänne, selbst wenn jetzt radikale Massnahmen ergriffen würden.
– Die Erde reagiere sehr träge auf Reduktionsmassnahmen. Auch bei einer Halbierung der CO2-Emissionen bis 2030 und einer Reduktion auf null bis 2050 würde die Erwärmung weiterdauern und sich erst langsam abschwächen.
– Die Erhöhung des Meeresspiegels sei ebenfalls nicht einfach aufzuhalten. Selbst unter einem stringenten Szenario sei mit einer Erhöhung von einem halben Meter bis zum Ende des Jahrhunderts zu rechnen.
– Man befinde sich immer noch im «fossilen Zeitalter». Die Stromproduktion stehe zwar an einem Wendepunkt weg von fossilen Brennstoffen, aber im Bereich Verkehr und Bau werde das noch länger dauern.

Ergänzt wird der Text durch eine Grafik, welche drei denkbare Szenarien einer Entwicklung bis zum Jahr 2100 darstellt: Ausgehend von einem vorindustriellen mittleren Temperaturniveau (1850–1900), das mit null bezeichnet wird, hat demnach bisher ein Anstieg von 1,1 Grad Celsius stattgefunden. Das Szenario 1, «Entwicklung mit derzeitiger Klimapolitik» würde bis 2100 zu einem geschätzten mittleren Zuwachs um 2,9 Grad führen. Szenario 2 «Mit Zusagen und Reduktionszielen» ergibt demnach eine mittlere Erwärmung bis 2100 um 2,6 Grad und das Szenario 3 «Optimistische Ziele», gemäss dem 127 Staaten beschliessen, klimaneutral zu werden, würde eine Erwärmung von 2,1 Grad Celsius bis 2100 bewirken. All dies verglichen mit dem Pariser Klimaziel von 2, respektive 1,5 Grad, die unbedingt zu erreichen wären.

B. Am 2. März 2021 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, der Artikel verletze die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Unterschlagen von wichtigen Informationen) und 5 (Berichtigungspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»). Der Beschwerdeführer (BF) begründet dies damit, dass Autor Läubli, «wie nahezu alle Medien», ein «Täuschen durch Weglassen» betreibe.

Der BF geht davon aus, dass die in der Grafik als Null-Grad-Ausgangswert des vorindustriellen Zeitalters bezeichnete Temperatur real bei 13,7 Grad gelegen habe. Jeder Anstieg bis hinauf zu 15 Grad, also von 1,3 Grad auf der von Autor Läubli gewählten Skala, entspreche dem «natürlichen Treibhauseffekt». Nur was darüber hinausgehe, könne als menschenverstärkter Treibhauseffekt gesehen werden. Das habe schon der ARD-Meteorologe Tim Staeger in seiner Dissertation 2002 geschrieben. Also komme ein Temperaturwert unter 15 Grad «definitiv ohne menschliche Einflussnahmen» zustande. Auch die Meteorologische Weltorganisation WMO bestätige, dass seit 170 Jahren noch keine Überschreitung der 15-Grad-Marke zu verzeichnen gewesen sei. Der BF verweist im Weiteren auf diverse Quellen, die zeigten, dass die bisher festgestellten Erwärmungen (die er nicht bestreitet) nicht auf menschliche Aktivität zurückzuführen seien. Darunter sind Diagramme, welche zeigen, dass die bisherigen Werte immer unter 15 Grad gelegen haben (die aber auch einen starken Anstieg seit 1920 ausweisen).

C. Mit Beschwerdeantwort vom 10. Mai 2021 beantragte der Rechtsdienst der TX Group, welche den TA und die BaZ besitzt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventualiter sei diese abzuweisen.

Den Antrag auf Nichteintreten begründet die Beschwerdegegnerin (BG) damit, dass der Beschwerdeführer die Möglichkeit einer gerichtlichen Klage «eine interessante Option» genannt habe, dass also ein Parallelverfahren mit entsprechender präjudizieller Wirkung möglich bleibe. Das könne nicht Sinn des Presseratsverfahrens sein.

Falls doch auf die Beschwerde eingetreten werde, sei festzustellen, dass die Wahrheitspflicht nicht verletzt sei. Der Artikel stütze sich auf die Erkenntnisse von «weltweit wichtigen Klimainstituten (NOAA, Nasa, MetOffice)» und die Berichte des Uno-Weltklimarates IPCC. Die Daten, sowohl was den Referenzwert («vorindustriell»), als auch was die anzustrebende Begrenzung der Erwärmung angehe, stammten aus der aktuellen Wissenschaft. Deren Berichte und Erkenntnisse seien alle «peer reviewed», also von Experten gegengeprüft. Die BG äussert sich dann darüber, wie der Temperaturwert der Erdoberfläche gemessen werde, weshalb dies in absoluten Zahlen aufgrund der verschiedenen Voraussetzungen an den jeweiligen Messstellen nicht möglich sei und weshalb man deswegen mit der Veränderung der Temperatur (plus minus gemessen am vorindustriellen Wert) statt mit konkreten Messwerten (14 oder 15 Grad) arbeite. Dennoch hätten die Klimaforscher auch die absolute mittlere globale Temperatur der Erdoberfläche geschätzt und seien für die Periode 1961 bis 1990 auf 14 Grad gekommen. Die vom BF genannte Zahl von 15 Grad sei in der aktuellen Klimaforschung nicht auffindbar. Daraus folge, dass die Wahrheitspflicht in keiner Weise verletzt sei.

Auch die Ziffer 3 (Unterschlagen wichtiger Informationselemente) der «Erklärung» sei nicht verletzt. Hinsichtlich der vom BF behaupteten Grenze von 15 Grad Celsius sei nichts unterschlagen worden. Der Artikel stütze sich auf aktuelle wissenschaftliche Daten, sämtliche Quellen seien offengelegt und vertrauenswürdig, es liege keine «Täuschung durch Weglassen» vor. Auch habe der BF nie ein Berichtigungsgesuch gestellt, womit auch die Ziffer 5 der «Erklärung» nicht verletzt sein könne.

D. Am 18. Mai 2021 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde von der Geschäftsführerin behandelt.

E. Die Geschäftsführerin hat die vorliegende Stellungnahme in Absprache mit dem Presseratspräsidium am 3. August 2021 verfasst.

II. Erwägungen

1. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein. Gemäss seiner ständigen Praxis ist die blosse Möglichkeit einer Klage kein Grund für ein Nichteintreten. Der Presserat kann den Beschwerdeführern ein Rechtsmittel nicht a priori untersagen. Nur wenn ein Parallelverfahren fest beabsichtigt oder schon eingeleitet ist, tritt er auf eine Beschwerde nicht ein.

2. Der Presserat beurteilt Medienerzeugnisse nach medienethischen Grundsätzen. Er vergleicht den Inhalt von Texten mit den Anforderungen der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten». Der Presserat kann und soll hingegen nicht wissenschaftliche Streitfragen beurteilen oder gar entscheiden. Wenn hier die Frage im Zentrum steht, ob die Wahrheitspflicht verletzt ist oder unzulässig Fakten weggelassen worden sind, dann prüft er in erster Linie, ob sich der Autor auf vertrauenswürdige Daten und Quellen gestützt hat, wie es die «Erklärung» vorgibt. Und ob er allenfalls Entscheidendes weggelassen hat.

3. Die von der BG angegebenen Quellen NOAA (US-Behörde für Ozeane und Atmosphäre), die Weltraumbehörde Nasa (USA), das MetOffice (nationale meteorologische Forschungsanstalt, GB), die Weltorganisation für Meteorologie WMO, das Uno-Gremium für die Klimakontrolle IPCC, die internationale Energieagentur IEA, die Klimaforschung der ETH und das Global Carbon Project sind nach bestem Wissen führende Institute und Organisationen auf dem Gebiet der Klimabeobachtung und
-forschung. Auf sie abzustellen kann nicht als Arbeiten mit unzureichenden Quellen, als mangelhafte Suche nach Wahrheit gesehen werden. Die Ziffer 1 der «Erklärung» wurde nicht verletzt.

4. Was der Beschwerdeführer vor allem unterschlagen sieht, ist seine These, wonach alle Klimaerwärmung bis 15 Grad dem «natürlichen Treibhauseffekt» zuzuordnen sei. Die Quelle, die er dazu nennt, ist eine einzelne Dissertation aus dem Jahr 2002. Gemessen an der immensen Zahl der wissenschaftlichen Daten und Arbeiten, welche mit anderen Einschätzungen zitiert werden, kann der Presserat nicht auf ein «Verschweigen von Tatsachen» schliessen. Die Ziffer 3 der «Erklärung» ist nicht verletzt.

5. Eine Pflicht zur Berichtigung besteht mangels Verletzung der Wahrheitspflicht nicht, der BF selbst hat nie einen Antrag dazu gestellt. Ziffer 5 (Berichtigungspflicht) der «Erklärung» ist nicht verletzt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. «Tages-Anzeiger» und «Basler Zeitung» haben mit dem Artikel «Die Erderwärmung ist unkorrigierbar» die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) und 5 (Berichtigungspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.