I. Sachverhalt
A. Am 12. Dezember 2019 erschien im «Oltner Tagblatt» (OT) ein seitenfüllender Artikel von Annika Bangerter. Der Titel lautete «Eine Kirchgemeinde will es genau wissen» und der Text beschrieb die Erfahrung eines über 70-jährigen Mannes (von der Redaktion als «Paul» bezeichnet), der die katholische Kirche mit seinem Schicksal konfrontieren wollte als ein seinerzeit, vor über 60 Jahren, als junger Ministrant vom Pfarrer missbrauchtes Kind. Der Artikel legt dar, wie der Mann zeitlebens unter dem Missbrauch gelitten habe, wie er sich erst spät in der Lage sah, über sein Schicksal zu sprechen, dass er sich dann an das Bistum der katholischen Kirche gewandt habe, dieses ihn aber an seine Kirchgemeinde weiterverwiesen habe. Nach dieser Enttäuschung habe er sich erst zurückgezogen, nach einigen Jahren habe er sich dann aber doch an die Kirchgemeinde gewandt und sei dort auf eine sehr verständnisvolle Reaktion gestossen. Dort habe man sein Anliegen ernst genommen, sei darauf eingegangen, unter anderem habe man im Pfarrblatt einen Aufruf publiziert: Wenn sich noch weitere Opfer des fraglichen, längst verstorbenen Pfarrers fänden, sollten die sich doch melden. So sei bekannt geworden, dass der im Übrigen im Ort sehr beliebte und in vielerlei Hinsicht auch verdienstvolle, mit Namen genannte Pfarrer sich noch an weiteren Kindern vergangen habe. Im Nachhinein habe auch das Bistum reagiert und sich für den Fehler beim ersten Kontakt entschuldigt. Aber nicht für die begangenen Taten.
B. Am 29. Januar 2020 erhob X. Beschwerde gegen den Artikel mit der Begründung, er verstosse gegen die Ziffern 1 (Wahrheitssuche) und 3 (Unterlassen wichtiger Informationen, Verzerrung von Tatsachen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»).
Zur Begründung spricht der Beschwerdeführer (BF) von einem «Geschäftsmodell Jammern und Geldeinsacken», welches «Paul» betreibe. Einzige Begründung für diese Behauptung: Von Beginn des Artikels an habe ihn der «Verdacht beschlichen», hier gehe es um ein «Opfer falscher Erinnerung». Der Artikel sei «ein sogenanntes ‹Framing›, um Katholikenhetze zu betreiben». Zwar sei der Tatbestand der Verleumdung Verstorbener verjährt, aber es wäre Pflicht der Journalistin gewesen, darauf hinzuweisen, dass die Zehn Gebote nicht verjährten. Die Wahrheitssuche (Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten») sei verletzt, «weil der Artikel genau das Gegenteil ist». Die zur «Erklärung» gehörende Richtlinie 2.4 (öffentliche Funktionen) sei verletzt, weil anonyme Verleumdungen nicht an die Öffentlichkeit gehörten. Richtlinie 3.4 (Illustrationen) sei verletzt, weil ein in der Kirche aufgenommenes Bild von «Paul» und dem Präsidenten der Kirchgemeinde versuche, den Artikelinhalt als sakrale Handlung darzustellen, der BF empfinde das Bild als Blasphemie. Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) könne nicht eingehalten werden, weil der Beschuldigte seit 55 Jahren verstorben sei. Richtlinie 4.5 (Interview) sei verletzt, weil «das Gebräu von zitierten Aussagen, gestelltem Bild und Recherchegesprächen undurchsichtig» sei und teilweise einem Plagiat ähnele (Richtlinie 4.7). Auch Richtlinie 7.2 (Identifizierung), Richtlinie 7.4 (Unschuldsvermutung) und Richtlinie 7.5 (Recht auf Vergessen) seien in krassester Weise verletzt.
Das Mindeste, was der Presserat verfügen sollte, wäre eine Distanzierung des Verlegers vom Artikel.
C. Gemäss Art. 13 Abs. 1 des Geschäftsreglements behandelt das Presserats-präsidium, bestehend aus Dominique von Burg, Präsident, Francesca Snider, Vizepräsidentin, und Max Trossmann, Vizepräsident, Beschwerden, auf die der Presserat nicht eintritt.
D. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 27. Juli 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Gestützt auf Art. 13 Abs. 1 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserats behandelt das Presseratspräsidium Beschwerden, auf die der Presserat nicht eintritt. Artikel 11 Absatz 1 des Geschäftsreglements sieht vor, dass der Presserat nicht auf eine Beschwerde eintritt, wenn diese offensichtlich unbegründet ist. Der Beschwerdeführer erhebt in seiner Beschwerde massive Vorwürfe, belegt diese jedoch nicht. Er behauptet einfach, hier werde Katholikenhetze betrieben, nennt aber keine Passage im Artikel, die das zeigen würde. Er spricht auch ohne jeden Hinweis auf eine Textstelle im Artikel von einem Geschäftsmodell «Jammern und Geldeinsacken», zu dessen Anwalt sich die Autorin aufspiele. Das sind alles sehr heftige, auch ehrenrührige Vorwürfe, ohne jede Basis im Artikel. Insbesondere gilt:
2. Zu Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung»: Der BF ist offensichtlich der Auffassung, dass «Pauls» Geschichte so nicht stimmt. Er schreibt das zwar nicht ausdrücklich – was er müsste –, aber seine ganzen heftigen Vorhaltungen laufen darauf hinaus. Er benennt aber nicht, wo und wie im Text die Wahrheitspflicht verletzt worden sein soll.
Zu Richtlinie 2.4 (öffentliche Funktionen): Diese betrifft die Frage, welche öffentlichen Ämter ein Journalist bekleiden darf, welche nicht. Diese Regelung hat keinen Bezug zum vorliegenden Thema.
Zu Richtlinie 3.4 (Illustrationen): Dass das Foto in der Kirche von «Paul» im Gespräch mit dem Präsidenten der Kirchgemeinde gestellt worden sei, um den Artikel als sakrale Handlung erscheinen zu lassen, ist abwegig, es käme dem durchschnittlichen Leser, auf den es hier ankommt, jedenfalls nie in den Sinn.
Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) kann, wie der Beschwerdeführer selber richtig feststellt, nicht angewendet werden, weil der fragliche Täter seit 55 Jahren tot ist.
Eine Verletzung von Richtlinie 4.5 (Interview) kann nicht vorliegen, weil hier kein Interview zur Diskussion steht.
3. Am ehesten von Relevanz könnten die Bestimmungen über die Unschuldsvermutung (Richtlinie 7.4) und die Identifizierung des Täters (Richtlinie 7.2) sein. Aber auch dies ist zu verneinen angesichts der Tatsache, dass die Taten über 60 Jahre zurückliegen, der vermutliche Täter seit 55 Jahren tot ist. Zwar ist dem BF zuzustimmen, wenn er sagt, dass die Unschuldsvermutung rechtlich über den Tod hinaus gilt, er stellt auch richtig fest, dass der Art. 175 des Strafgesetzbuches (üble Nachrede gegen Verstorbene) schon deswegen nicht mehr ins Gewicht fällt, weil dessen Wirkung auf 30 Jahre nach dem Tod beschränkt ist. Dasselbe muss dann sinnvollerweise analog auch für die Unschuldsvermutung gelten. Hinzu kommt aber vor allem, dass sich nicht nur «Paul», sondern, nach dem Aufruf des Kirchenblattes, auch weitere Personen über Missbrauch seitens des fraglichen Pfarrers geäussert haben. Der Vorwurf stammt nicht nur aus einer Quelle, er ist durch mehrere Quellen gestützt, womit die Voraussetzung einer allfälligen Verleumdung oder üblen Nachrede entfällt.
Was die Identifizierung des vermutlichen Täters, die Benennung mit Namen, Funktion und Ort betrifft, ist davon auszugehen, dass der fragliche Pfarrer in seiner Gemeinde eine sehr sichtbare, angesehene öffentliche Rolle gespielt hat. Entsprechend geringer ist sein Anspruch auf den Schutz des Privatlebens, also darauf, dass er für die breitere Leserschaft nicht identifizierbar wird. Richtlinie 7.2 sagt, eine identifizierende Berichterstattung sei zulässig, «sofern die betroffene Person (…) eine gesellschaftlich leitende Funktion wahrnimmt und der Medienbericht damit im Zusammenhang steht». Wenn ein sehr angesehener Priester mit einer Fürsorgepflicht für junge Ministranten diese sexuell missbraucht, ist dies ein legitimes öffentliches Thema, bei welchem die Identifizierung – auch 55 Jahre nach dem Tod des Betreffenden – zulässig erscheint.
4. Der Vorwurf des Plagiats (Richtlinie 4.7) wird hingegen nicht begründet und es ist auch nicht ersichtlich, worin dieses möglicherweise bestehen könnte, was also die Autorin wem abgeschrieben haben könnte. Das Recht auf Vergessen (Richtlinie 7.5) betrifft diesen Fall definitiv nicht, dort geht es um verurteilte, noch lebende Straftäter.
Und zur Forderung, der Presserat solle den Verleger anweisen, sich vom Artikel zu distanzieren: Erstens drängt sich das, wie oben erläutert, in keiner Weise auf und zweitens kann der Presserat keine Anweisungen an die Verantwortlichen der Medien erteilen.
5. Gegenstand des Artikels ist die Beschreibung dessen, was in einem Opfer von Missbrauch vorgeht und welche Prozesse er ein Leben lang durchläuft, durchlaufen muss. Dies zu thematisieren ist angesichts der sehr häufig bekanntgewordenen derartigen Missbrauchsfälle legitim und im öffentlichen Interesse. Der Autorin oder dem Opfer «Paul» «Katholikenhetze» zu unterstellen, entbehrt jeder Grundlage im Text.
Im Ergebnis ist diese Beschwerde unter allen Titeln offensichtlich unbegründet.
III. Feststellung
Der Presserat tritt nicht auf die Beschwerde ein.