Nr. 51/2021
Diskriminierung / Berichtigung

(X. c. «Aargauer Zeitung»)

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Zusammenfassung

Wenn eine 66-jährige hoch qualifizierte Frau im Titel eines Berichts nur mit «Diese Grossmutter» charakterisiert wird, ist dies diskriminierend. Das Gleiche würde von einem Mann in gleichen Verhältnissen nicht geschrieben.

Die «Aargauer Zeitung» betitelte einen Beitrag über die Ernennung der neuen WTO-Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala so: «Diese Grossmutter wird neue Chefin der Welthandelsorganisation». Untertitel: «Die Nigerianerin Ngozi Okonjo-Iweala hat riesige Probleme zu bewältigen. Mindestens kommunikativ wird sie das problemlos meistern». Im Text wird korrekt erwähnt, dass die Nigerianerin eine Ausbildung an der renommierten Harvard-Universität absolviert hat und dass sie Finanz- und Aussenministerin von Nigeria war. Ebenso , dass sie jüngst in den Verwaltungsrat von «Twitter» berufen worden sei.

Der Presserat befand, dass zwar nicht klar sei, ob die Reduzierung auf «Grossmutter» in der Schlagzeile in einem diskriminierenden Zusammenhang mit ihrer Hautfarbe zu sehen ist. Klar sei aber, dass bei einem männlichen 66-jährigen ehemaligen Finanz- und Aussenminister eines 200-Millionen-Volkes die gleiche Schlagzeile: «Grossvater wird WTO-Generaldirektor» nicht vorstellbar wäre. Deshalb bewertet der Rat die Schlagzeile als diskriminierend aufgrund des Geschlechts.

Résumé

Ne désigner une femme de 66 ans très qualifiée que de «grand-mère» dans le titre d’un article est discriminatoire. On n’en ferait pas de même pour un homme dans les mêmes circonstances.

Voici comment l’«Aargauer Zeitung» intitule un article consacré à la nomination de la nouvelle directrice générale de l’OMC: «Cette grand-mère devient la nouvelle patronne de l’Organisation mondiale du commerce». Sous-titre: «La Nigériane Ngozi Okonjo-Iweala est confrontée à d’immenses problèmes. En matière de communication en tout cas elle les maitrisera sans problème.» Le texte rapporte de manière correcte que la Nigériane a été formée à la célèbre Université d’Harvard et qu’elle fut ministre des finances et des affaires étrangères du Nigeria. Ainsi que sa nomination récente au Conseil d’administration de «Twitter».

Le Conseil de la presse estime qu’il n’est pas clair si la réduction à la qualité de «grand-mère» dans le titre doit être vu comme discriminatoire par rapport à la couleur de sa peau. En revanche, il est évident que si un ex ministre masculin des finances et des affaires extérieures d’un peuple de 200 millions d’habitants était concerné, le même titre («Un grand-père devient directeur général de l’OMC») était inconcevable. Pour cette raison, le Conseil juge le titre discriminatoire par rapport au sexe de la personne.

Riassunto

Se una donna altamente qualificata di 66 anni viene indicata in tutta la lunghezza dell’articolo soltanto come «questa nonna» è discriminante. La stessa cosa non si scriverebbe di un uomo con le stesse caratteristiche.

La «Aargauer Zeitung» ha titolato così un articolo sulla nomina della nuova direttrice generale dell’OMC: «Questa nonna diventa direttrice dell’Organizzazione mondiale del commercio». Sottotitolo: «La nigeriana Ngozi Okonjo-Iweala dovrà affrontare problemi enormi. Almeno dal punto di vista della comunicazione riuscirà a risolverli senza difficoltà». Nel testo si menziona correttamente che la nigeriana si è formata alla prestigiosa Università di Harvard e che è stata ministra delle finanze e degli esteri. Pure si dice che di recente è stata chiamata ad entrare nel consiglio di amministrazione di «Twitter».

Il Consiglio della stampa ritiene che non sia chiaro se lo svilimento nel titolo che definisce la direttrice dell’OMC «nonna» sia da vedere in relazione discriminante con il colore della pelle. È invece chiaro che nel caso di un uomo di 66 anni ex ministro degli esteri e delle finanze di un popolo di 200 milioni di persone la stessa titolazione: «Nonno diventa direttore generale dell’OMC» non sarebbe immaginabile. Per questo il Consiglio giudica il titolo discriminante sulla base del genere.

I. Sachverhalt

A. Am 8. Februar 2021 veröffentlichte die «Aargauer Zeitung» (AZ) online einen Artikel mit dem Titel «Diese Grossmutter wird neue Chefin der Welthandelsorganisation». Untertitel: «Die Nigerianerin Ngozi Okonjo-Iweala hat riesige Probleme zu bewältigen. Mindestens kommunikativ wird sie das problemlos meistern». Der gleiche Artikel erschien in gleicher Form am 9. Februar in der gedruckten Ausgabe. Im Text wird zunächst die angehende neue Generaldirektorin vorgestellt als erste Frau, welche die Welthandelsorganisation WTO leiten werde, sie sei eine 66-jährige Nigerianerin, frühere Finanz- und Aussenministerin ihres Landes. Weiter erwähnt der Artikel die Probleme, mit denen die neue Chefin konfrontiert sein werde, schliesslich wird darauf hingewiesen, dass ihre Wahl innerhalb der WTO von der Trump-Regierung blockiert worden sei, erst der Wechsel in den USA zu Joe Biden habe ihre Wahl schliesslich möglich gemacht.

Am 11. Februar 2021 druckte die AZ einen kurzen Text «in eigener Sache», in welchem sie unter dem Titel «Unglücklicher Titel beim Porträt über WTO-Chefin» darauf hinwies, dass der Titel zum Porträt dieser Ökonomin und ehemaligen Weltbank-Vizechefin zu Ärger bei vielen Lesern und Leserinnen geführt habe. Er sei ungeschickt gewählt gewesen und dafür möchte man sich entschuldigen.

B. Am 2. März 2021 reichte X. Beschwerde ein gegen die Formulierung des Titels und des Untertitels. Beide seien diskriminierend und verstiessen damit gegen die Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»). Die Beschwerdeführerin (BF) argumentiert, der Hinweis darauf, dass Okonjo-Iweala Grossmutter sei, habe nichts mit ihrer Qualifizierung für das Amt der WTO-Generaldirektorin zu tun. Hingegen erwähne der Titel nichts von den «ausserordentlichen Eigenschaften», welche die Frau effektiv für ihre neue Aufgabe qualifizierten. Auch der Untertitel sei diskriminierend. Dass sie grosse Probleme «mindestens kommunikativ bewältigen» könne, werde nirgends im anschliessenden Artikel ausgeführt.

Die BF erklärt weiter, sie habe sich bei der Redaktion unmittelbar nach Erscheinen des Artikels beschwert, der zuständige Ressortleiter Ausland habe ihr recht gegeben, der Titel sei «sehr unglücklich gewählt gewesen». Sie sei mit dieser Antwort nicht zufrieden gewesen und habe deshalb nachgefragt, wie die Redaktion künftig die Haltung ändern werde, welche zu derart diskriminierenden Formulierungen gegenüber schwarzen Frauen und, generell, gegenüber Frauen führe. Darauf habe der Ressortleiter Ausland ihr noch einmal bestätigt, dass der Titel «unglücklich gewählt» gewesen sei, dass sein Team im Übrigen bemüht sei, «auf eine ausgewogene, faire und weltoffene Berichterstattung hinzuarbeiten». Als Beispiel dafür verweist er auf die Berichterstattung der AZ über die US-Vizepräsidentschaftskandidatin Kamala Harris.

C. Am 22. März 2021 nahm Patrik Müller, Chefredaktor Zentralredaktion CH Media, zur Beschwerde Stellung und beantragte, der Presserat solle nicht auf die Beschwerde eintreten. Er führt zur Begründung aus, der gewählte Titel verstosse nicht gegen die Menschenwürde und sei auch nicht diskriminierend. Dem Begriff «Grossmutter» hafte nichts Menschenunwürdiges an. Ausserdem komme er nur im Titel vor, im Lauftext würden dann ja die relevanteren Attribute der neuen WTO-Chefin gewürdigt. Die Redaktion habe weiter im Print, Online, über Social Media und gegenüber anderen Medien dargelegt, dass die Titelformulierung unglücklich gewesen sei und sich auch dafür entschuldigt. Und: Der Titel sei online umgehend angepasst und in einer Fussnote aufgezeigt worden, dass nicht der Korrespondent, sondern die Redaktion den Titel gesetzt hatte.

D. Der Presserat wies die Beschwerde seiner 1. Kammer zu, der Susan Boos (Präsidentin), Luca Allidi, Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka, Francesca Luvini und Casper Selg angehören.

E. Die 1. Kammer des Presserats beriet den Fall an ihrer Sitzung vom 22. Juni 2021 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein. Die AZ verweist zwar darauf, dass sie die nötigen Korrekturmassnahmen getroffen habe. Dies würde in der Tat gemäss Art. 11 Abs.1 genügen, um ein Nichteintreten zu begründen, aber nur in Fällen von geringer Relevanz. Dies ist aus Sicht des Presserates im Fall von möglicher diskriminierender Berichterstattung nicht der Fall.

2. Die Reduktion einer 66-jährigen Frau, Ökonomin, ehemaligen Harvard-Absolventin, Finanz- und Aussenministerin eines grossen Landes sowie stellvertretenden Generaldirektorin der Weltbank auf «66-jährige Grossmutter» ist diskriminierend. Ob die Herabwürdigung der Frau wegen ihrer Hautfarbe erfolgte, wie die BF argumentiert, lässt sich anhand des Textes nicht klar feststellen. Wohl aber, dass sie als Frau herabgesetzt wurde. Die umgekehrte Schlagzeile «66-jähriger Grossvater wird WTO-Chef» wird bei einem ehemaligen Finanz- und Aussenminister eines 200-Millionen-Staates sicherlich nicht verwendet. Zwar lässt sich – mit der Redaktion CH Media – sagen, dass der Hinweis auf ihre Grossmutterschaft per se nicht herabsetzend wäre. Aber angesichts ihrer Ausbildung und Karriere ist die alleinige Charakterisierung im Titel, dass sie eine Grossmutter sei, herabsetzend. Die Schlagzeile diskriminiert sie als Frau und verstösst damit gegen die Ziffer 8 der «Erklärung».

Der Untertitel «Die Nigerianerin Ngozi Okonjo-Iweala hat riesige Probleme zu bewältigen. Mindestens kommunikativ wird sie das problemlos meistern» wirkt je nach Lesart ebenfalls verächtlich. Aber als Anspielung auf den am Schluss des Artikels erwähnten Umstand, dass die Frau seit kurzem im Verwaltungsrat des Kommunikationsmediums «Twitter» sitzt, muss die Bemerkung nicht herabwürdigend gemeint sein. Insofern liegt hier kein Verstoss vor. In Kombination mit dem Haupttitel ist sie aber mindestens ausgesprochen unbedacht.

3. Der Presserat nimmt zur Kenntnis, dass die Redaktion aufgrund der kritischen Reaktionen aus dem Publikum zeitnah Korrekturmassnahmen getroffen und sich entschuldigt hat. Dieses Vorgehen ist richtig und wichtig, es ändert aber nichts an der publizierten Version, welche gegen die Ziffer 8 der «Erklärung» verstossen hat.

4. Was den Online-Umgang mit einem korrigierten Text betrifft, erscheint die Korrektur, wie die AZ sie auf der Schweizerischen Mediendatenbank SMD vorgenommen hat, vorbildlich. Der Artikel ist mit den vorgenommenen Korrekturen aufgeführt, inklusive Hinweisen auf die ursprüngliche Version. Damit erfüllt die Redaktion die Anforderungen der Stellungnahme 29/2011 des Presserates, in welcher gefordert wurde: «Archive haben eine wichtige Funktion, nicht nur für Journalisten. Änderungen in Archiven verfälschen die historischen Informationen. Texte sollten in ihrer ursprünglichen Form, auch wenn sie nicht (mehr) richtig sind, im Archiv ersichtlich sein.»

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. Die «Aargauer Zeitung» hat mit dem Titel «Diese Grossmutter wird neue Chefin der Welthandelsorganisation» gegen die Ziffer 8 (Diskriminierungsverbot) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.

3. Der Presserat anerkennt die Art und Weise, wie die «Aargauer Zeitung» die fraglichen Passagen korrigiert hat und die Ursprungsversion im Archiv nachvollziehbar bleiben liess.