Nr. 51/2017
Wahrheit / Quellenbearbeitung / Sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen / Diskriminierung

(Fachstelle für Aids- und Sexualfragen St. Gallen-Appenzell c. «Schweizerzeit»)

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Zusammenfassung

Der Schweizer Presserat rügt die Zeitung «Schweizerzeit»: Sie hat mit dem Artikel «‹Falschsexuelle› im Klassenzimmer» die Wahrheitspflicht verletzt. Zudem hat der Autor ein Zitat verfälscht.

Am 14. Juli 2017 hatte die Zeitung einen fulminanten Text veröffentlicht, wonach «schwul-Iesbische Lobby-Gruppen» Zugang zu immer mehr Schulklassen erhielten. «Die Entnormalisierung von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität ist längst zum Mainstream der staatlich geförderten Sexualpädagogik geworden», folgerte der Autor. Darauf beschwerte sich die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen St. Gallen-Appenzell beim Presserat: Der Artikel zeichne ein falsches Bild der Sexualpädagogik.

Die Fachstelle warf dem Autor vor, er erwecke mit dem Satz «hinter verschlossenen Schulzimmertüren findet radikale Gender-Indoktrination statt» einen falschen Eindruck. Denn Lehrpersonen und Schulen und auf Wunsch auch die Eltern würden über Inhalte und Ziele dieser Besuche informiert. Der Presserat zog den Schluss, dass der Ausdruck «hinter verschlossenen Türen» die Schulpraxis nicht wahrheitsgetreu umschreibt; denn für Normalleser bedeutet dies «unter Ausschluss der Öffentlichkeit» oder gemäss Duden «im Geheimen». Der Autor entwarf also das falsche Bild, wonach im Klassenzimmer etwas Ungehöriges oder Verbotenes geschehe.

Laut Journalistenkodex dürfen Journalisten keine wichtigen Informationselemente unterschlagen. Auch diese Vorgabe sieht der Presserat verletzt: Dies, weil der Autor bei einem Zitat etwas wegliess. Dadurch wurde dessen Aussage verfremdet und verschärft. Diskriminierend war der Beitrag hingegen nicht, entschied der Presserat.

Speziell bei der Beschwerde war, dass der Verlagsleiter der «Schweizerzeit», alt SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer, in der Beschwerde «einen Angriff auf die verfassungsmässig garantierte Presse- und Meinungsäusserungsfreiheit» sah. Der Presserat weist diese Sicht scharf zurück. Der Presserat ist das Selbstkontrollgremium der Schweizer Medien, getragen von den Branchenverbänden. Seine Aufgabe ist, die Pressefreiheit zu verteidigen, indem er Verstösse gegen die Berufsethik feststellt und so dem Publikum eine Anlaufstelle bietet, wenn es sich durch Medienberichte unfair behandelt fühlt.

Résumé

Le Conseil suisse de la presse blâme le journal «Schweizerzeit»: il a porté atteinte à son devoir de vérité dans l’article intitulé «‹Falschsexuelle› im Klassenzimmer». L’auteur a en outre falsifié une citation.

Le 14 juillet 2017, le journal a publié un texte fulminant selon lequel les lobbyistes homosexuels auraient toujours plus souvent accès aux salles de classe. «La débanalisation des deux sexes et de l’hétérosexualité est depuis longtemps une tendance dominante de l’éducation sexuelle encouragée par l’Etat», y écrivait son auteur. Le service spécialisé dans les questions sexuelles et le sida de St-Gall-Appenzell s’est plaint auprès du Conseil de la presse: l’article donne une image erronée de l’éducation sexuelle.

Le service en question reproche à l’auteur de l’article d’éveiller une impression fausse en écrivant «qu’un endoctrinement radical de genre se produit derrière les portes des salles de classe». Il estime que les enseignants et les écoles ainsi que les parents d’élèves, s’ils le souhaitent, sont informés sur les contenus et les objectifs de ses visites. Le Conseil de la presse a conclu que l’expression «derrière les portes des salles de classe» ne décrit pas la pratique scolaire d’une manière fidèle à la vérité; car elle signifie, pour le lecteur lambda, «à huis-clos » ou encore «en secret». L’auteur donne ainsi l’impression que des choses inconvenantes ou interdites se déroulent dans les salles de classe.

Selon leur Code de déontologie, les journalistes ne peuvent omettre des éléments d’information importants. Le Conseil de la presse considère que cette consigne a été violée: car l’auteur a laissé tomber une partie d’une citation. Sa déclaration est donc dénaturée et accentuée. L’article, par contre, n’était pas discriminatoire aux yeux du Conseil de la presse.

L’aspect spécial de la plainte consistait dans le fait que l’éditeur de «Schweizerzeit», l’ancien conseiller national UDC Ulrich Schlüer, voyait dans la plainte une «atteinte à la liberté de la presse et à la liberté d’opinion garanties par la Constitution». Le Conseil de la presse récuse catégoriquement ce point de vue. En tant qu’organe de contrôle des médias suisses, il est une émanation des organisations professionnelles de la branche. Sa tâche consiste à défendre la liberté de la presse en constatant les atteintes portées à l’éthique de la profession et en offrant au public une antenne à laquelle s’adresser quand il s’estime traité de manière injuste.

Riassunto

Il Consiglio svizzero della stampa ha accolto un reclamo contro il quindicinale «Schweizerzeit». Nell’articolo: «‹Falschsexuelle› im Klassenzimmer» è accertata la violazione del dovere di rispetto della verità. Inoltre, l’autore ha alterato una citazione.

Il periodico aveva pubblicato il 14 luglio 2017 un vivace articolo con cui si denunciava l’intervento crescente nelle scuole pubbliche di «gruppi di pressione LGBT». Secondo l’autore, «la negazione della distinzione tra i sessi e della eterosessualità è ormai diventata opinione comune della pedagogia sulla sfera sessuale». Contro l’articolo ha presentato reclamo al Consiglio della stampa l’Ufficio di consulenza per l’aids e le questioni sessuali dei Cantoni di San Gallo e Appenzello. L’articolo offrirebbe un’immagine distorta dell’insegnamento sulla sfera sessuale. Inoltre, con la frase «è in atto a porte chiuse (hinter geschlossene Türen) un radicale indottrinamento gender» si insinua una falsità. In realtà,«i docenti, le scuole, e quando lo chiedono anche i genitori, sono informati circa i contenuti e gli scopi di queste visite».

Il Consiglio della stampa è giunto alla conclusione che il termine «hinter geschlossene Türen» non ritrae fedelmente la realtà e trae in inganno il lettore: il Dizionario Duden, del resto, traduce il termine: «in segreto». L’autore insinua dunque con questo termine che nelle classi avvenga qualcosa di oltraggioso o di vietato.

La Dichiarazione dei doveri e dei diritti impegna il giornalista a non omettere elementi informativi importanti. Cancellando un tratto da una citazione, l’articolo ha violato anche questa prescrizione: il parere riportato risulta infatti alterato e inasprito. Non è riconosciuta invece l’accusa di discriminazione, sostenuta dal reclamo.

Il Consiglio della stampa reagisce infine all’affermazione dell’ex consigliere nazionale democentrista Ulrich Schüler, nel senso che il reclamo sarebbe «un atto contro la garanzia costituzionale della libertà di stampa e di opinione». Il Consiglio è un organo riconosciuto dai media svizzeri e dalle associazioni di categoria. Ha il compito di difendere la libertà di stampa, in quanto tutore della deontologia professionale, e offre al pubblico la possibilità di sollecitare una presa di posizione quando si senta in qualche modo trattato in modo sleale da un organo di stampa.

I. Sachverhalt

A. Am 14. Juli 2017 veröffentlichte die 14-täglich erscheinende, sich selbst als «nationalkonservativ» bezeichnende Zeitung «Schweizerzeit» unter dem Titel «‹Falschsexuelle› in Schweizer Klassenzimmern» einen Text von Dominik Lusser, wonach «schwul-Iesbische Lobby-Gruppen» Zugang zu immer mehr Deutsch-schweizer Schulklassen erhielten. «Die Entnormalisierung von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität ist längst zum Mainstream der staatlich geförderten Sexualpädagogik geworden», folgert der Autor. Im Text liefert Lusser dann aus seiner Sicht Belege für diesen Schluss.

B. Am 1. September 2017 wandte sich die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen St. Gallen-Appenzell (AHSGA) mit einer Beschwerde an den Schweizer Presserat. Sie macht geltend, dass der Artikel ein falsches Bild von den Aktivitäten der aufgelisteten Schulbesuchsorganisationen zeichne. Weiter zitiere er Quellen, die nicht rückverfolgbar seien und erhebe sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen. Insgesamt stelle er die Bestrebungen der dargestellten Organisationen in ein diskriminierendes Licht.

Zudem habe die «Schweizerzeit» sich nicht an die Wahrheit gehalten (Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten», nachfolgend «Erklärung») und habe sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen veröffentlicht (Ziffer 7). Dies vor allem mit der Aussage «Hinter verschlossenen Schulzimmertüren findet radikale Gender-Indoktrination statt»: Diese Passage erwecke den Eindruck, dass Inhalte und Ziele der Schulbesuche nicht öffentlich seien. Die Lehrpersonen und Schulen und auf Wunsch auch die Eltern würden aber über Inhalte und Ziele dieser Besuche informiert. Wünschten Lehrpersonen dem Unterricht beizuwohnen, sei dies selbstverständlich möglich. Von «verschlossenen» Türen könne nicht die Rede sein. Weiter sei die Etikettierung «radikale Gender-Indoktrination» eine grobe und tendenziöse Verfälschung der tatsächlich vermittelten Inhalte.

Im Weiteren stimme die Aussage nicht, dass die «Sexuelle Gesundheit Schweiz» (SGS) die (Zitat) «staatlich geförderte Sexualpädagogik fast nach Belieben dominiert». Die SGS liefere Materialien und Unterlagen, die Sexualpädagoginnen und Sexualpädagogen der einzelnen Fachstellen seien frei in der Wahl ihrer didaktischen Mittel. Inhaltlich richteten sie sich nach den Vorgaben im Lehrplan 21. Die sogenannten Milchbüechli-Aktivisten arbeiten u. U. mit SGS zusammen, sie aber als «offizielle Partner» zu bezeichnen, entspreche nicht der Wahrheit. Sodann stimme auch nicht, dass durch die Bestrebungen der Schulbesuchsorganisationen die «Fundamente unseres familiären Zusammenlebens unterminiert» werden sollen und die Ehe als solche «pathologisiert» werde.

Dazu sieht die Beschwerdeführerin auch Ziffer 3 (Umgang mit Quellen) verletzt. Ein Quellentext zur Wahrnehmung der Ehe, den Autor Lusser der Fachstelle zugeschrieben hatte, sei den dort tätigen Fachleuten unbekannt und werde nirgends in deren Unterricht verwendet.

Schliesslich moniert die Beschwerdeführerin auch eine Verletzung von Ziffer 8 (Menschenwürde). Diese Bestimmung fordere, dass Medienschaffende in ihrer Berichterstattung auf diskriminierende Anspielungen, welche die sexuelle Orientierung zum Gegenstand haben, verzichten. Dabei seien doch «die Bemühungen der genannten Schulbesuchsorganisationen ein von manchen Kantonen gefördertes Mittel» zur Anerkennung der Rechte homosexueller Menschen und entsprächen den im Lehrplan 21 geforderten Inhalten («Schülerinnen und Schüler verbinden Sexualität mit Partnerschaft, Liebe, Respekt, Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung und können sexuelle Orientierungen nicht diskriminierend benennen»). Wenn die «Schweizerzeit» diese Bemühungen als «Homo-Indoktrination» im Rahmen einer «Homophobie-Hysterie» bezeichne, welche die «Grenze zur Gehirnwäsche» überschreite, wenn sie beispielsweise «Unbehagen» gegenüber Homosexuellen auch mit Homophobie in Zusammenhang bringe, so ist dies aus Sicht der Beschwerdeführerin «klar diskriminierend». Das gelte ebenso, wenn der Autor die Aktivitäten der Schulbesucher als «Missstand» bezeichne.

C. In der Beschwerdeantwort vom 6. Oktober 2017 stellte sich der Verlagsleiter der «Schweizerzeit», alt Nationalrat Ulrich Schlüer, auf den Standpunkt, die Beschwerde stelle «einen Angriff auf die verfassungsmässig garantierte Presse- und Meinungsäusserungsfreiheit» dar: «Sie stellt damit höchste Güter unseres Rechtsstaates in Frage, was wir sehr bedauern.» Schlüer leitet mit dem Schreiben die unveränderte Stellungnahme von Autor Dominik Lusser weiter. Dieser sah alle Vorwürfe als unbegründet an. Lusser leitet den Fachbereich Werte und Gesellschaft der Stiftung Zukunft Schweiz.

Zum Vorwurf, er habe der Fachstelle für Aids- und Sexualfragen einen ihr unbekannten Text zugeschrieben, hält Lusser fest: «Der den Sexualpädagogen der AHSGA unbekannte Text zur Ehe stammt von der CD-ROM ‹beziehungs-weise›, welche die AHSGA selbst erstellt hat und vertreibt. Es handelt sich dabei um eine Materialsammlung, die es ‹allen in der Bildungs- und Beratungsarbeit tätigen Fachpersonen› ermöglichen soll, ‹sich fundiert mit den Themen Liebe, Erotik und Sexualität auseinander zu setzen›. Der besagte Text dient als Quellentext für die Übung ‹Wenn Männer mit Männern und Frauen mit Frauen zusammenwohnen›, die von der AHSGA als Anregung zur emanzipatorischen Sexualpädagogik für die 4.–6. Klasse empfohlen wird.» In einer Fussnote liefert Autor Lusser auch das vollständige Zitat mit: «Der häufigere Partnerwechsel bei Schwulen wird von vielen Heterosexuellen als Kränkung erlebt, als Angriff auf sie selbst oder das Ideal der bürgerlichen Ehe. Der Entwertung der Schwulen zugeschriebenen promisken Lebensform liegen Verunsicherung, Angst und vielleicht sogar Neid ob der freieren Lebensform zugrunde. (Rauchfleisch, 1994, S. 32ff.)»

Zum Vorwurf, er verletze die Ziffer 1 (Wahrheit) und Ziffer 7 (Unterlassen von sachlich nicht gerechtfertigten Anschuldigungen) mit dem Ausdruck «hinter verschlossenen Schulzimmertüren» hält Autor Lusser fest: «Die tatsächlichen Inhalte und Ziele der hier diskutierten Schulbesuche sind der Öffentlichkeit viel zu wenig bekannt und demzufolge nach wie vor nicht Gegenstand einer breiten öffentlichen Debatte.» Auch fänden diese Inhalte und Ziele im Lehrplan 21 keine Grundlage. Dort sei lediglich davon die Rede, «sexuelle Orientierung nicht diskriminierend [zu] benennen», nicht aber davon, Schüler in ihrer Beurteilung sexueller Orientierungen und Lebensweisen zu bevormunden. Das aber scheine, wie er, Lusser, mit Zitaten belege, das Ziel der Schulbesuchsgruppen. Als Ziel der erwähnten Übung «Wenn Männer mit Männern und Frauen mit Frauen zusammenwohnen» führe die AHSGA höchstselbst an: «Die Kinder lernen verschiedene Familienformen kennen. Sie wissen, keine Form ist besser als die andere.» Der dazugehörige Quellentext beschädige auf fragwürdige Weise das Ansehen der Ehe und relativiere den Wert der Monogamie. Lusser verweist auf seiner Organisation vorliegende Informationen von Eltern und Lehrpersonen, wonach solche Inhalte nicht Teil von Elternabenden oder Elterninformationen seien. Und: Wie die Beschwerdeführerin «selbst andeutet», und «wie wir aus unserer langjährigen Recherchearbeit im Bereich schulische Sexualpädagogik wissen, sind ferner die Klassenlehrpersonen bei solchen Besuchen längst nicht immer anwesend».

Die Organisation «Milchjugend – Falschsexuelle Welten» sei Mitglied der vom dominanten Dachverband «Sexuelle Gesundheit Schweiz» SGS angeführten «Allianz für Sexualaufklärung» und somit deren «offizieller Partner». Beide Organisationen teilten ferner – und darum gehe es ihm in seinem Artikel vor allem – die gleichen ideologischen Ziele, «nämlich die Infragestellung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit als gesellschaftliche Norm». Aus Sicht von Autor Lusser geht es schliesslich «entschieden zu weit», schon ein «Unbehagen gegenüber der Homosexualität», wie er bewusst geschrieben habe und nicht etwa gegenüber Homosexuellen, als diskriminierend beziehungsweise homophob zu werten, wie es die Beschwerdeführerin tue.

D. Das Präsidium des Presserats wies den Fall der 3. Kammer zu. Diese setzt sich zusammen aus Max Trossmann (Kammerpräsident), Marianne Biber, Jan Grüebler, Matthias Halbeis, Barbara Hintermann, Seraina Kobler und Markus Locher.

E. Die 3. Kammer des Presserats behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 7. Dezember 2017 und auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Der Sexualkundeunterricht in Schulen polarisiert. Das ist nachvollziehbar, denn er tangiert einen Bereich, der für viele Personen in die Sphäre der elterlichen Verantwortung gehört. Dennoch ist es wichtig, festzustellen, dass der Sexualkundeunterricht zum offiziellen Lehrplan gehört und damit staatlich verankert ist. Ähnlich wie etwa auch der Schwimmunterricht. Dies gilt es im Vornherein festzuhalten, um die Erwägungen zu dieser Beschwerde einzuordnen. Der Schweizer Presserat ist nicht dazu da, die Argumente der Beschwerdeführerin und des Beschwerdegegners zu werten. Vielmehr gilt es abzuwägen, ob der Autor der «Schweizerzeit» den durch die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» vorgegebenen Sorgfaltspflichten nachgekommen ist.

2. Der Verlagsleiter der «Schweizerzeit», alt SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer, sieht in der Beschwerde beim Presserat «einen Angriff auf die verfassungsmässig garantierte Presse- und Meinungsäusserungsfreiheit»: «Sie stellt damit höchste Güter unseres Rechtsstaates in Frage, was wir sehr bedauern.» Davon kann keine Rede sein. Der Presserat ist das Selbstkontrollgremium der Schweizer Medien, getragen von den Branchenverbänden. Seine Aufgabe ist, die Pressefreiheit zu verteidigen, indem er Verstösse gegen die Berufsethik feststellt und so dem Publikum eine Anlaufstelle bietet, wenn es sich durch Medienberichte unfair behandelt fühlt. Darum ist eine Beschwerde an den Presserat in keiner Weise ein «Angriff auf die verfassungsmässig garantierte Presse- und Meinungsäusserungsfreiheit». Sie ist vielmehr Ausdruck dessen, dass sich das Publikum nicht alles gefallen lassen will und muss.

3. a) Ziffer 1 der «Erklärung» verlangt von Journalistinnen und Journalisten, dass sie sich an die Wahrheit halten und sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten lassen, die Wahrheit zu erfahren. Die beschwerdeführende Fachstelle macht geltend, der Autor habe mit dem Satz «hinter verschlossenen Schulzimmertüren findet radikale Gender-Indoktrination statt» einen falschen Eindruck erweckt. Anders als dargestellt, würden Lehrpersonen und Schulen und auf Wunsch auch die Eltern über Inhalte und Ziele dieser Besuche informiert. Wünschten Lehrpersonen dem Unterricht beizuwohnen, sei dies selbstverständlich möglich. Darum könne nicht von «verschlossenen Türen» die Rede sein. Autor Dominik Lusser verweist darauf, die tatsächlichen Inhalte und Ziele der diskutierten Schulbesuche seien der Öffentlichkeit viel zu wenig bekannt und demzufolge nach wie vor nicht Gegenstand einer breiten öffentlichen Debatte. Weiter schreibt er wörtlich: «Wie die Beschwerdeführer selbst andeuten, und wie wir aus unserer langjährigen Recherchearbeit im Bereich schulische Sexualpädagogik wissen, sind ferner die Klassenlehrpersonen bei solchen Besuchen längst nicht immer anwesend.» Damit bestätigt Lusser direkt die Darstellung der Beschwerdeführerin. Offensichtlich ist es möglich, aber nicht zwingend, dass die Lehrperson bei solchen Schulbesuchen im Klassenzimmer anwesend ist. Und – das kommt hinzu – die Verantwortung für den Unterricht tragen ohnehin die Lehrerinnen und Lehrer. Damit ist für den Presserat klar, dass der Ausdruck «hinter verschlossenen Türen», der für den Normalleser nichts anderes als «unter Ausschluss der Öffentlichkeit» oder gemäss Duden «im Geheimen» bedeutet, die Praxis nicht wahrheitsgetreu umschreibt. Autor Lusser erweckt mit dem Ausdruck vielmehr den falschen Eindruck, dass im Klassenzimmer etwas Ungehöriges oder Verbotenes geschieht. Auch wenn die Fragen rund um den Sexualkundeunterricht aus Sicht des Autors in der Öffentlichkeit zu wenig stark diskutiert werden, so reicht das als Begründung für die Verwendung des Ausdrucks «hinter verschlossenen Türen» nicht aus. Das lässt nur den Folgeschluss zu, dass die Formulierung Ziffer 1 der «Erklärung» verletzt.

b) Als Nächstes ist zu prüfen, ob der Autor mit der Aussage, wonach die «Sexuelle Gesundheit Schweiz» die «staatlich geförderte Sexualpädagogik fast nach Belieben dominiert», ebenfalls die Wahrheitspflicht verletzt. Gleiches gilt für die Darstellung, die sogenannten «Milchbüechli-Aktivisten» seien deren «offizielle Partner», was die Fachstelle als nicht der Wahrheit entsprechend einstuft. Nach Einschätzung des Presserats wertet die Aussage über die SGS zwar deren Wirken aus der Sicht des Autors, sie ist aber nicht falsch. Und die Aussage über die «Milchbüechli-Aktivisten» als offizielle Partner der SGS ist vielleicht etwas ungenau, deren Kooperation mit der SGS findet aber faktisch statt. Beide Aussagen verletzen die Ziffer 1 (Wahrheit) nicht.

4. Ziffer 7 der «Erklärung» verlangt von Journalisten, dass sie die Privatsphäre der Personen respektieren und anonyme und sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen unterlassen. Ist die Bezeichnung «radikale Gender-Indoktrination» eine sachlich ungerechtfertigte Anschuldigung und verletzt sie Ziffer 7, wie von der Fachstelle moniert? Die Kammer hat diese Frage kontrovers diskutiert. Sie war sich dabei einig, dass die «Schweizerzeit» ein Meinungsblatt ist und dass der Autor seine Meinung aus konservativer Sicht soll darlegen können. Der Beitrag ist mit der Spitzmarke «Politiker, Schulbehörden und Lehrer müssen handeln» auch klar als Meinungsartikel annonciert. Zusammen mit Titel, Lead und der Autorenzeile, die Dominik Lusser verortet, weiss der Leser, was ihn erwartet. Trotzdem prallen bei der Aufnahme dieses Meinungsbeitrags weltanschauliche Gegensätze aufeinander. Denn ohne Zweifel wählt Lusser mit «radikal» und «Indoktrination» drastische Worte und schafft ein meinungsstarkes Sprachbild. Doch ist das nach Einschätzung des Presserats eine gerade noch zulässige Wertung. Ziffer 7 der «Erklärung» ist nicht verletzt.

Die Fachstelle wehrt sich auch gegen die Aussagen, die Schulbesucher würden die «Fundamente unseres familiären Zusammenlebens» unterminieren und die Ehe als solche würde «pathologisiert». Wie eingangs der Erwägungen festgehalten, betrifft der Sexualkundeunterricht in der öffentlichen Schule den Grenzbereich zwischen Schulpflicht und elterlicher Verantwortung. Es ist darum nachvollziehbar, dass Autor Lusser deutliche Worte wählt, weil er subjektiv diese Schulbesuche negativ wahrnimmt und deshalb dezidiert ablehnt. Für die Leserschaft sind jedoch auch diese Wertungen Lussers klar als solche erkennbar. Die Formulierungen verstossen nicht gegen Ziffer 7.

5. Ziffer 3 der «Erklärung» statuiert, dass Journalisten nur Informationen, Dokumente, Bilder und Töne veröffentlichen, deren Quellen ihnen bekannt sind. Sie unterschlagen sodann keine wichtigen Elemente von Informationen und entstellen weder Tatsachen, Dokumente, Bilder und Töne noch von anderen geäusserte Meinungen. Die Fachstelle behauptet, der ihr zugeschriebene Quellentext über die Sichtweise der Ehe sei den bei ihr tätigen Fachleuten unbekannt. Er werde auch nirgends in deren Unterricht verwendet. Darum sieht sie die Ziffer 3 verletzt. Autor Lusser führt eine Fundstelle aus einer von der Beschwerdeführerin vertriebenen CD an und liefert in seiner Beschwerdeantwort auch das entsprechende, komplette Zitat: «Der häufigere Partnerwechsel bei Schwulen wird von vielen Heterosexuellen als Kränkung erlebt, als Angriff auf sie selbst oder das Ideal der bürgerlichen Ehe. Der Entwertung der Schwulen zugeschriebenen promisken Lebensform liegen Verunsicherung, Angst und vielleicht sogar Neid ob der freieren Lebensform zugrunde.» (Rauchfleisch, 1994, S. 32ff.). Damit kann das Zitat eingeordnet werden: Es ist eine Passage aus einem Fachbuch des Basler Psychotherapeuten Udo Rauchfleisch. Dem Presserat scheint einleuchtend, dass Lusser den Quellentext respektive das Zitat der Fachstelle für Aids- und Sexualfragen zuordnet; schliesslich findet es sich auf einer von ihr vertriebenen CD mit Unterrichtsmaterialien.

Nun hat Dominik Lusser in der «Schweizerzeit» aber nicht das Originalzitat verwendet. Vielmehr hat er es bearbeitet. So heisst es im Artikel: «Der Entwertung (…) der Schwulen liegen Verunsicherung, Angst und vielleicht sogar Neid gegenüber der freieren Lebensform zugrunde.» Mit der Weglassung von «zugeschriebenen promisken Lebensform» wird die Aussage verfremdet und verschärft. Vielleicht stellt sich die Beschwerdeführerin deshalb auf den Standpunkt, das von Lusser wiedergegebene Zitat zur Sichtweise der Ehe werde nicht verwendet. Hinzu kommt, dass der Autor das Auslassungszeichen an einer falschen Stelle eingefügt hat. Und: Durch die Auslassung fällt eine wichtige Relativierung dahin: «Entwertung der Schwulen zugeschriebenen promisken Lebensform» entspricht nicht «Entwertung der Schwulen». Das lässt nur den Schluss zu, dass der Autor wichtige Elemente von Informationen unterschlagen hat. Und damit die Ziffer 3 der «Erklärung» verletzt hat.

6. Ziffer 8 der «Erklärung» verpflichtet Journalistinnen und Journalisten, die Menschenwürde zu respektieren und diskriminierende Anspielungen zu vermeiden. Die Beschwerdeführerin führt folgende Aussagen als diskriminierend an: «Homo-Indoktrination», «Homophobie-Hysterie», die «Grenze zur Gehirnwäsche» werde überschritten, «Unbehagen gegenüber Homosexuellen», die Bezeichnung der Aktivitäten der Schulbesuchsorganisationen als «Missstände». Beschwerdegegner Lusser sieht in seinem Text keinerlei diskriminierende Anspielungen oder Aussagen. Zum «Unbehagen gegenüber Homosexuellen» präzisiert er, das habe er bewusst nicht geschrieben, sondern «Unbehagen» gegenüber der Homosexualität. Der Presserat liest diese Textstellen – wie übrigens die Durchschnittsleserin auch – in ihrem Kontext. Er vermag in den von der Beschwerdeführerin angeführten Textpassagen keine diskriminierenden oder gegen die Menschenwürde verstossenden Aussagen erkennen. Ziffer 8 der «Erklärung» ist nicht verletzt.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. Die «Schweizerzeit» hat im Artikel «‹Falschsexuelle› in Schweizer Klassenzimmern» vom 14. Juli 2017 mit der falschen Aussage «hinter verschlossenen Schulzimmertüren» Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt und mit einem verfälschten Zitat Ziffer 3 (Quellenbearbeitung und Unterschlagen wichtiger Informationselemente).

3. Als nicht verletzt sieht der Presserat dagegen die Ziffern 7 (Unterlassen sachlich nicht gerechtfertigter Anschuldigungen) und 8 (Menschenwürde, Diskriminierung) der «Erklärung».