Nr. 49/2018
Wahrheitspflicht

(JUSO Stadt Bern c. «Blick»)

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I. Sachverhalt

A. Am 12. Juli 2017 publizierte «Blick» den mit dem Kürzel «maz» gezeichneten Artikel «Chaoten drohen Bern mit Krawall». Die Oberzeile lautet «Aus ‹Solidarität› mit G-20-Verhafteten von Hamburg». Und im Lead heisst es: «Bern – Linke Gruppen wollen in Bern eine Demo ausgerechnet für die linksextremen G-20-Krawallmacher veranstalten. Ein Gesuch bei der Stadt Bern haben sie aber noch nicht gestellt.» Der Artikel berichtet, im Nachgang zu den Krawallen rund um den G-20-Gipfel in Hamburg wollten zwei linksextreme Gruppen aus Bern eine Solidaritätsdemo für die gewalttätigen Chaoten veranstalten. Die Gruppe Revolutionäre Jugend Bern sowie das Infoportal der Anarchistischen Gruppe Bern habe auf Facebook einen Demonstrationsaufruf für den kommenden Samstag gepostet, wie «Der Bund» berichte. Es sei zu befürchten, dass die Kollegen der G-20-Krawallmacher am Samstag Randale machen würden. Die Berner Polizei bereite sich darauf vor und werde mit «einem entsprechenden Dispositiv im Einsatz sein». Die beiden Gruppen hätten jedoch noch kein Gesuch bei der Stadt Bern eingereicht.

B. Die JUSO Stadt Bern reichten am 18. August 2017 Beschwerde gegen den Artikel vom 12. Juli 2017 beim Schweizer Presserat ein. Sie machen eine Verletzung von Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend. Der Titel «Chaoten drohen Bern mit Krawall» sowie die Aussage, es sei zu befürchten, dass die Kollegen der G-20-Krawallmacher am Samstag Krawall machen würden, grenzten an Scharfmachung und Aufhetzung, sie würden klar gegen das journalistische Gebot, sich an die Wahrheit zu halten, verstossen. Keine der beiden Gruppen rufe in irgendeiner Weise zu Gewalt auf. Vielmehr heisse es im Aufruf zur Demonstration, man wünsche allen Verletzten gute Besserung und wolle ein Zeichen gegen reaktionäre Repressionsfantasien setzen. Dieser Aufruf stehe somit in diametralem Widerspruch zum Artikel.

C. Am 15. September 2017 nahm der anwaltlich vertretene «Blick» zur Beschwerde Stellung. Er schliesst auf vollumfängliche Abweisung und wirft die Frage auf, ob die Unterzeichnerin der Beschwerde befugt sei, im Namen der Jungsozialisten Bern Beschwerde zu erheben. Zum Vorwurf der Verletzung der Wahrheitspflicht führt er aus, dieser beziehe sich auf den Titel, zum anderen auf den Satz «Es ist zu befürchten, dass die Kollegen der G-20-Krawallmacher am Samstag Randale machen werden.» Die Verwendung des auf eine insgesamt weniger harte Auseinandersetzung beschränkten Begriffs «Randale» habe im Artikel durchaus Sinn und Berechtigung. Der Beschwerdeführerin sei zugestanden, dass der Wortlaut des Aufrufs nichts von einem Aufruf zu Gewalt und Randalen enthalte – so blöd seien nicht einmal seine Autoren, dass sie dies machen würden. Diesen Aufruf zur Demo beim Wort zu nehmen müsse man schon ein gewaltig gestörtes Verhältnis zur Realität haben. Just deshalb habe sich ja auch die Berner Polizei vorgesehen. Die polizeilichen Sicherheitsmassnahmen stützten sich auf die Vorgeschichte der überaus schweren Krawalle anlässlich des letzten G-20-Treffens. Es gehöre zur allgemeinen Erfahrung, die länder- und städteübergreifend vielfach gemacht worden sei: Solche Solidaritätsdemonstrationen trügen den Keim neuer Auseinandersetzungen in sich. Und genau davon handle der Artikel. Da er zudem zeitlich vor der angekündigten Demonstration erschienen sei, könne er sich über deren Verlauf ja ohnehin nur vermutungsweise äussern. Massgeblich sei das normale Sprachverständnis dessen, was Blick geschrieben habe. Und da stehe nur, dass zwei Gruppen zur Solidaritäts-Demo aufgerufen hätten. Dass diese Demo – entgegen den Erwartungen – dann friedlich verlief, tue nichts zur Sache. Es könne damit auch kein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht vorliegen. Dieser liege insbesondere auch deshalb nicht vor, weil der Wortlaut des Aufrufs den insoweit typischen, unverdächtigen Sprachmustern folge.

D. Am 6. November 2017 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 5. Dezember 2018 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. a) Ziffer 1 der «Erklärung» verlangt von Journalistinnen und Journalisten, dass sie sich an die Wahrheit halten ohne Rücksicht auf die sich für sie ergebenden Folgen. Sie lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren.

Zu fragen ist als Erstes, ob der Titel «Chaoten drohen Bern mit Krawall» vor der Wahrheitspflicht standhält. «Blick» äussert sich nicht dazu. Massgebend für die Beantwortung dieser Frage ist der Aufruf, den die Revolutionäre Jugend Bern sowie die Anarchistische Gruppe Bern auf Facebook veröffentlicht haben. Darin heisst es u.a., der Widerstand, der anlässlich der Proteste gegen den G-20-Gipfel gemeinsam auf die Strasse getragen worden sei, müsse jetzt solidarisch weitergeführt werden. «Wenn Einzelne von der Repression betroffen sind, müssen wir zusammenstehen.» Die Identifizierung mit einem System, welches für Umweltzerstörung, Armut und Ausbeutung zuständig sei, offenbare eine erschreckende Tendenz zur Befürwortung faschistoider Herrschaftsfantasien. Abschliessend heisst es: «Gehen wir deshalb gemeinsam auf die Strasse! Solidarisieren wir uns mit den Gefangenen, wünschen gemeinsam den Verletzten gute Besserung und setzen wir ein Zeichen gegen reaktionäre Repressionsfantasien.» Von Drohungen mit Gewalt ist im Aufruf zur «Solidemo» nirgends die Rede. Der Titel ist somit durch den Inhalt des Aufrufs nicht gedeckt. Er verstösst gegen die in Ziffer 1 der «Erklärung» geforderte Wahrheitspflicht.

b) Zu fragen ist als Zweites, ob der Inhalt des Artikels vor der Wahrheitspflicht standhält. Die Beschwerdeführer sind der Ansicht, dies sei beim Satz «Es ist zu befürchten, dass die Kollegen der G-20-Krawallmacher am Samstag Krawall machen werden» der Fall. Das korrekte Zitat lautet: «Es ist zu befürchten, dass die Kollegen der G-20-Krawallmacher am Samstag Randale machen werden». Der Satz steht direkt nach dem Zwischentitel «Polizei mit ‹entsprechendem Dispositiv›». Zu Wort kommt in diesem Absatz die Mediensprecherin der Kantonspolizei Bern: Die Kantonspolizei habe Kenntnis von einem entsprechenden Aufruf und werde die Situation beobachten. Man werde mit «einem entsprechenden Dispositiv im Einsatz» sein. Im Artikel wird eine Befürchtung geäussert, die sich einerseits auf die Aussagen der Polizei stützt, andererseits auch auf Erfahrungen in der Vergangenheit. Daraus eine Vermutung bzw. eine Befürchtung abzuleiten ist nicht zu beanstanden und begründet insbesondere keinen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht. Die Beschwerde ist somit in diesem Punkt abzuweisen.

III. Feststellungen

1. Der Presserat heisst die Beschwerde teilweise gut.

2. «Blick» hat mit dem Artikel «Chaoten drohen Bern mit Krawall» vom 12. Juli 2017 Ziffer 1 (Wahrheitsgebot) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» dadurch verletzt, indem der Titel nicht der Wahrheit entspricht.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.