I. Sachverhalt
A. Am 8. Mai 2019 erschien im «Badener Tagblatt» ein Artikel von Rudolf Gruber, freier Österreich-Mitarbeiter für den Verlag CH Media. Der Titel lautete «Satire oder bloss Flegelei?» und der Text beschrieb eine Sendung des ORF, in welcher der deutsche Satiriker Jan Böhmermann zu seiner Ausstellung «Deuscthland#Asnchluss#Östereich» [sic] in Graz befragt wurde. Autor Gruber thematisiert im Artikel dreierlei: die Äusserungen Böhmermanns in der Sendung, dieser habe zu einer Suada, zu einem Redeschwall angesetzt, dabei gesagt, es sei nicht normal, dass «ein Land von einem 32-Jährigen geführt wird», Böhmermann habe – anlehnend an Thomas Bernhard – von acht Millionen debilen Österreichern gesprochen und weiter: «Vizekanzler Heinz-Christian Strache wiederum verbreite ‹volksverhetzende Scheisse auf Facebook›.» Gruber kritisiert zweitens den ORF, der das Interview ausgestrahlt hat, unter anderem mit der Bemerkung «Ob derlei Fäkalsprache als Humor zu verstehen sei, vergass Moderatorin Clarissa Stadler ihren Gast zu fragen». Vor allem aber habe sich der ORF unmittelbar nach der Sendung von «derlei teutonischen Ausfällen umgehend» distanziert, als sei man sich des Risikos nicht schon bewusst gewesen, als man Böhmermann einlud. Und schliesslich zitiert Gruber kritisch andernorts geäusserte despektierliche Äusserungen Böhmermanns über Österreich und seine Politiker. Am Ende spricht er noch dessen Ausstellung in Graz an, in etwas anerkennenderem Ton.
B. Am 10. Mai 2019 erhob X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel mit der Begründung, er verstosse gegen die Ziffern 1 (Verpflichtung zur Wahrheit) und 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen, Entstellen von Tatsachen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»). Die Beschwerdeführerin (im Folgenden BF) begründet dies damit, dass der Text Falschaussagen enthalte, welche einer bewussten Irreführung der Leserschaft gleichkämen. Böhmermann habe nicht zu einer «Suada» losgelegt, sondern das Ganze sei ein in freundlicher Atmosphäre geführtes Gespräch gewesen. Auch sei es nicht Böhmermann gewesen, der gezielt auf das Bernhard-Zitat der sechseinhalb Millionen debilen Österreicher angespielt habe, sondern das sei vom ORF-Interviewer eingebracht worden. Im Übrigen frage es sich, ob der Autor des Artikels entweder die Sendung überhaupt nicht gesehen habe oder aber ob er absichtlich falsch darüber berichtete, angesichts seiner Bemerkung, die Moderatorin Clarissa Stadler hätte nachfragen müssen. Denn Stadler habe das Interview gar nicht geführt, sie habe es nur angekündigt, geführt worden sei es in einer schon vor der Sendung erfolgten Aufnahme von einem Kollegen namens Christian Konrad.
C. Das «Badener Tagblatt» hat die Aufforderung des Presserates zu einer Stellungnahme an die Zentralredaktion von CH Media weitergeleitet, diese hat um Nachfristen nachgesucht, aber schliesslich nicht Stellung genommen.
D. Der Presserat teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus Dominique von Burg, Präsident, Francesca Snider, Vizepräsidentin, und Max Trossmann, Vizepräsident.
E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 6. Juli 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Der Presserat bedauert, dass das «Badener Tagblatt» respektive CH Media nicht zur Beschwerde Stellung genommen haben. Damit entziehen sie sich der nötigen und wichtigen medienethischen Diskussion, die zu führen der Presserat geschaffen wurde.
2. Der Beschwerdeführerin ist zuzustimmen, wenn sie bemerkt, dass nicht Böhmermann, sondern der Interviewer mit seiner Fragestellung das Bernhard-Zitat von den sechseinhalb Millionen debilen Österreichern, die Hitler zugejubelt hatten, aufgebracht hat. Insofern war die Beschreibung nicht exakt, wenn im Text davon die Rede war, dass Böhmermann «eine Humor-Anleihe» just beim Österreicher Thomas Bernhard genommen habe. Es war der Moderator, der die Anleihe nahm. Aber die Quintessenz dieser Textpassage bleibt dieselbe, wenn Böhmermann, auf Bernhard angesprochen, die sehr provokante Aussage macht: «Heute sind es acht Millionen!» (impliziert: acht Millionen debile ÖsterreicherInnen, die mit Hitler sympathisieren würden). Hier geht es nach Auffassung des Presserats um eine Ungenauigkeit im Text, nicht um einen eigentlichen Fehler und damit auch nicht um einen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht oder eine Verzerrung von Tatsachen.
3. Die Formulierung, Böhmermann habe mit einer Suada über die rechtskonservative Koalition losgelegt, ist diskutierbar, was den Begriff «Suada» angeht. Böhmermann hat nicht endlos geredet, er hat keinen Wortschwall produziert. Die bisweilen hektisch-assoziativ wirkende Redeweise wäre anders vielleicht besser beschrieben, aber hier geht es um Fragen der akkuraten Wortwahl und nicht um einen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») und auch nicht um das Verzerren oder Unterschlagen wichtiger Informationen (Ziffer 3). Denn die zentrale Aussage des Satzes besteht darin, dass der Deutsche Böhmermann verbal immer wieder gegen die österreichische Koalition losgelegt habe. Und das hat er in der Tat in sehr scharfer Form getan.
4. Die dritte Kritik der BF besteht darin, dass der Autor in seiner Beschreibung die Rollen falsch verteilt hat, womit sich die Frage stelle, ob er das Interview überhaupt selber gesehen habe oder aber ob er die Leserschaft bewusst falsch informiere. In der Tat hat der Autor offenbar nicht gewusst oder bemerkt, dass nicht die Moderatorin der Sendung Clarissa Stadler das zehnminütige Interview geführt hat, sondern Christian Konrad, im Rahmen einer Aufzeichnung. Das erstaunt, es ist verständlich, dass die BF sich fragt, ob der Autor das Interview überhaupt selber gesehen habe. Aber auch hier gilt: Von einer bewussten Irreführung oder von einem Verstoss gegen die Wahrheitspflicht kann auch in diesem Fall nicht gesprochen werden, weil es auch hier um ein für die Sache nicht relevantes Detail geht: Die zentralen Aussagen des Artikels sind davon nicht betroffen.
Der Presserat unterscheidet in ständiger Praxis zwischen Verstössen gegen die Wahrheitspflicht einerseits und journalistischen Ungenauigkeiten andererseits. Er stellt im beanstandeten Artikel vereinzelt Ungenauigkeiten fest, aber keinen Verstoss gegen die Ziffern 1 oder 3 der «Erklärung», insbesondere nicht die von der BF beanstandete «bewusste Irreführung der Leser».
Die Beschwerdeführerin scheint die sehr prononcierte Kritik des Österreich-Korrespondenten Rudolf Gruber an Jan Böhmermann nicht zu teilen. Diese Kritik ist als Meinung des Autors für die Leserschaft klar erkennbar; es ist eine Frage seiner journalistischen Einschätzung, nicht einer Verletzung der «Erklärung».
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Das «Badener Tagblatt» hat mit dem Artikel «Satire oder bloss Flegelei?» vom 8. Mai 2019 die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.