Nr. 47/2020
Wahrheit / Unterschlagen wichtiger Informationen / Anhörung / Sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen

(MS Direct AG c. «work»)

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Zusammenfassung

Der Schweizer Presserat lehnt eine Beschwerde der Dienstleistungsfirma MS Direct gegen die Gewerkschaftszeitung «work» ab. Die Zeitung hatte unter dem Titel «Schimmel, Schikane und schäbige Löhne» über die Arbeitsbedingungen in einem Callcenter von MS Direct berichtet. Der Dienstleister machte vor dem Presserat geltend, der «work»-Journalist habe die Firma nicht ordnungsgemäss angehört, sein Artikel sei fehlerhaft, verschiedene Mängel längst behoben und Ausdrücke wie «Skandalfirma» ungerechtfertigt und unfair.

«work» erwiderte, man habe MS Direct 16 konkrete Fragen zugestellt, jedoch inhaltlich keine Antwort bekommen. Vielmehr habe die Firma an die Gewerkschaft Syndicom verwiesen, die werde die Fragen beantworten. Schliesslich habe man nur die Vorwürfe von Ex-MS-Mitarbeitenden publiziert, die durch mindestens zwei Quellen belegt waren.

Der Presserat befand, «work» habe die Anhörungspflicht nicht verletzt. Die Redaktion musste nicht annehmen, dass anstelle der Firma selbst eine Drittpartei, die Gewerkschaft Syndicom, Stellung nimmt. Hätte MS Direct mehr Zeit zur Beantwortung gebraucht, so hätte sie das «work» deutlich sagen müssen. Und den Ausdruck «Skandalfirma» beurteilte das Gremium als für ein Gewerkschaftsblatt gerade noch zulässige wertende Zuspitzung.

Résumé

Le Conseil suisse de la presse rejette une plainte de la société de services MS Direct contre le journal syndical «work». Ce dernier avait rendu compte des conditions de travail régnant dans un centre d’appel de MS Direct sous le titre «Schimmel, Schikane und schäbige Löhne» (moisi, chicaneries et salaires mesquins). Le fournisseur de services a fait valoir devant le Conseil de la presse que le journaliste de «work» n’avait pas entendu la société comme il le devait, que son article était truffé d’erreurs, que les problèmes avaient depuis longtemps été résolus et que les expressions telles que «Skandalfirma» (société à scandale) étaient injustes et injustifiées.

«work» a rétorqué que 16 questions concrètes avaient été posées à MS Direct, mais qu’aucune n’avait reçu de réponse sur le fond. La société avait au contraire renvoyé le journal au syndicat Syndicom, qui répondrait aux questions. Finalement, seules les critiques des anciens employés de MS Direct attestées par au moins deux sources avaient été publiées.

Le Conseil de la presse estime que «work» n’a pas violé son obligation d’entendre les parties. La rédaction n’avait pas à supposer qu’un tiers, le syndicat Syndicom, prendrait position en lieu et place de la société. Si MS Direct avait eu besoin d’un peu plus de temps pour répondre aux questions, elle aurait dû le faire savoir à «work». Et le Conseil de la presse pense que l’expression «Skandalfirma» est une pointe tout juste acceptable de la part d’un journal syndical.

Riassunto

Il Consiglio svizzero della stampa ha respinto un reclamo della società di servizi MS Direct contro il giornale sindacale «work». Il giornale aveva riferito, sotto il titolo «Muffa, molestie e salari scadenti», circa le condizioni di lavoro praticate in un call center gestito di MS Direct. Il fornitore di servizi ha sostenuto dinanzi al Consiglio della stampa che il giornalista di «work» non aveva interpellato correttamente la società, che l’articolo era impreciso, che varie carenze erano state da tempo corrette e che espressioni come «la società dello scandalo» erano ingiustificate e ingiuste.

«work» risponde di aver inviato a MS Direct 16 domande precise senza ricevere risposte quanto al contenuto, l’azienda sostiene di averle trasmesse al sindacato Syndicom, che risponderebbe alle domande. Dopotutto, erano state pubblicate solo le accuse degli ex dipendenti dell’azienda, che erano sostenute da almeno due fonti.

Il Consiglio della stampa constata che «work» non ha violato il dovere di consultare la parte criticata. Il giornalista non poteva presumere che un terzo, il sindacato Syndicom, avrebbe dovuto rispondere al posto della società. Se MS Direct avesse avuto bisogno di più tempo per rispondere, avrebbe dovuto precisarlo in modo chiaro. E il termine «la società dello scandalo» è ritenuto dal Consiglio un’esagerazione abbastanza ammissibile per una pubblicazione sindacale.

I. Sachverhalt

A. Am 15. November 2019 veröffentlichte «work», die Zeitung der Gewerkschaft Unia, einen mit der Spitzmarke «Ex-Mitarbeitende der Firma MS Direct packen aus:» versehenen Beitrag mit dem Titel «Schimmel, Schikane und schäbige Löhne» des Autors Christian Egg. Im Lead heisst es: «Die Skandalfirma MS Direct betreibt für Coop ein Callcenter in Muttenz BL. Dort herrschen gruusige Zustände – aber die Chefin garniert ein Traumsalär.» Im Artikel kommen mehrere ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von MS Direct zu Wort. Illustriert ist der Artikel mit dem Foto eines Paares, das im Callcenter in Muttenz arbeitete. Die beiden sowie weitere anonymisierte ehemalige Mitarbeitende kritisieren neben den niedrigen Löhnen auch das Lohnsystem sowie die Räume, in denen das Callcenter untergebracht ist: Dort tropfe es von der Decke. Unterhalb des Artikels wird im Zweitbeitrag mit dem Titel «MS Direct: Frieren für Zalando» die Firma MS Direct porträtiert und eine Chronik der Negativschlagzeilen aufgeführt, welche der Firma zuzuschreiben seien. In einem Infokasten heisst es zudem unter dem Titel «Syndicom und Coop wollen Antworten», MS Direct nehme zur Kritik keine Stellung, die Firma verweise auf die Gewerkschaft Syndicom. Deren Geschäftsleitung habe auf Anfrage gesagt, diese Sache mit MS Direct prüfen zu wollen. Ausserdem habe auch Coop mit der Firma Kontakt aufgenommen.

B. Am 12. Dezember 2019 reichte die anwaltlich vertretene MS Direct AG beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen die Berichterstattung ein. Die Beschwerdeführerin (im Folgenden BF) sieht zahlreiche Punkte der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» sowie der Richtlinien verletzt. Sie führt aus, der Autor habe am 11. November 2019 um 15.08 Uhr der Beschwerdeführerin 16 umfassende und sehr kritische Fragen zu den Arbeitsbedingungen an ihrem Standort in Muttenz zukommen lassen und eine Frist bis am nächsten Tag, 13 Uhr, eingeräumt. Am Dienstagmorgen habe der Teamleiter Marketing & Lead Management geantwortet, Giorgio Pardini von der Gewerkschaft Syndicom werde sich zu diesen Fragen direkt mit dem Autor in Verbindung setzen. Dieser habe um 12.04 Uhr mitgeteilt, eine Antwort sei nicht in ein paar Stunden möglich, da er die Vorwürfe als zuständige Branchengewerkschaft mit der Firma MS Direct prüfen werde. Ohne weiteren Gegenbericht habe die Zeitung «work» in ihrer Ausgabe vom 15. November 2019 den kritischen Artikel veröffentlicht. Dieser verstosse gegen die Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten», nachfolgend «Erklärung»). Ohne die Stellungnahme der Syndicom auf die Fragen abzuwarten, habe «work» mehrere unwahre Behauptungen verbreitet und sich ungeprüfte Aussagen von Personen zu eigen gemacht, die sich bei genauerer Betrachtung im Lichte der bekannten sozialpartnerschaftlichen Abmachungen als völlig haltlos erwiesen hätten. Erwähnt werden die hygienischen Zustände und Angaben zu Löhnen; bestritten werden auch die Vorwürfe «Schikanen», «Demütigungen und Ungerechtigkeiten», «Anschreien». Weiter moniert die BF eine Verletzung des Verbots, wichtige Elemente von Informationen zu unterschlagen (Ziffer 3 der «Erklärung»). «work» habe es in Bezug auf die angeblichen Hygienemängel unterlassen, darauf hinzuweisen, dass es sich um bereits behobene Schäden handelte und MS Direct während den Sanierungsarbeiten alle nötigen Massnahmen getroffen hatte, um die Arbeitsbedingungen der dortigen Mitarbeitenden möglichst geringfügig zu beeinträchtigen.

Zum anderen habe «work» es unterlassen, auf die Regelungen in den sozialpartnerschaftlich getroffenen Gesamtarbeitsverträgen hinzuweisen und die sich daraus ergebenden Widersprüche zu den Darstellungen der ehemaligen Mitarbeitenden der MS Direct. Die Zeitung vergleiche Nettolöhne mit Bruttomindestlöhnen und suggeriere so ihren LeserInnen, mit den bei der MS Direct bezahlten Löhnen würden die Mindestlohnvorschriften missachtet.

Weiter macht die BF eine Verletzung der Anhörungspflicht gemäss Richtlinie 3.8 geltend. Zum einen sei die der BF angesetzte Frist von weniger als einem Tag zu kurz. Dabei sei zu berücksichtigen, dass sich der Journalist nicht an eine bestimmte Person innerhalb der MS Direct AG gewandt habe, sondern seine Fragen über die allgemeine Webseite der Beschwerdeführerin geschickt habe. Für die Publikation des Artikels habe keine Dringlichkeit oder Aktualität bestanden, denn zum einen sei der GAV 2020 bereits Ende Juli 2019 abgeschlossen gewesen, um auf den 1. Januar 2020 in Kraft zu treten, zum anderen seien die monierten Hygienemängel bereits im Oktober 2019 durch den Abschluss der Dachsanierung gar kein Thema mehr gewesen. Ausserdem habe die BF den Autor noch innert Frist darauf hingewiesen, dass seine Fragen vom Sozialpartner, der Syndicom, beantwortet würden. Und noch innert Frist habe deren zuständige Person mitgeteilt, dass sie die Fragen als zuständige Branchengewerkschaft mit der Firma MS Direct prüfen werde und darauf hingewiesen, dass dies nicht in ein paar Stunden möglich sei. Weder die MS Direct noch die Syndicom hätten davon ausgehen müssen, dass der Artikel bereits am darauffolgenden Freitag veröffentlicht würde.

Die BF sieht Ziffer 7 (Unterlassen sachlich nicht gerechtfertigter Anschuldigungen) der «Erklärung» dadurch verletzt, dass «work» die MS Direct AG in ungerechtfertigter Weise als «Skandalfirma» bezeichnete, bei der «gruusige Zustände» herrschten und «schäbige Löhne» bezahlt würden. In die gleiche Kategorie falle der völlig ungerechtfertigte Aufruf «Hände weg von dieser Firma!». Schliesslich sieht die BF auch das Fairnessprinzip verletzt.

C. Die anwaltlich vertretene Redaktion von «work» wies in ihrer Beschwerdeantwort vom 10. März 2020 die Vorwürfe zurück.

a) Zum Vorwurf der mangelnden Anhörung (Richtlinie 3.8) macht die Redaktion geltend, die BF habe weder als angegriffene Firma konkret Position bezogen noch die Vorwürfe in irgendeiner Art bestritten. Sie habe auch nicht um zeitlichen Aufschub zum Beantworten gebeten. Einen solchen hätte «work» angesichts des umfangreichen Fragenkatalogs des Autors gewährt, zumal der Artikel von der Aktualität her durchaus um zwei Wochen bis zur übernächsten Ausgabe hätte geschoben werden können. «work» habe am Schluss des Artikels korrekt wiedergegeben, dass sich die mit Vorwürfen konfrontierte Arbeitgeberin nicht geäussert habe: «MS Direct nimmt zu der Kritik keine Stellung. Stattdessen verweist die Firma auf die Gewerkschaft Syndicom, ‹unseren Sozialpartner›. Giorgio Pardini ist in der Syndicom-Geschäftsleitung. Er sagt auf Anfrage: ‹Als zuständige Branchengewerkschaft werden wir diese Sache mit MS Direct prüfen.›» Die Fragen des Journalisten beschlügen sämtliche im Artikel gegenüber MS Direct erhobenen Vorwürfe. Auf der Homepage der BF seien weder unter den Unternehmensinformationen noch im Impressum verantwortliche Personen für die Kommunikation oder Medienanfragen angeführt noch einschlägige Telefonnummern oder E-Mailadressen angegeben. So sei dem Autor nichts übrig geblieben, als sich über das allgemeine Kontaktformular zu melden. Es treffe zu, dass der Autor der BF einen knappen Tag zur Beantwortung seiner konfrontierenden Fragen eingeräumt habe. Er habe aber darauf hingewiesen, dass er davon ausgehe, MS Direct verzichte auf eine Stellungnahme, wenn letztere nicht bis zum angegebenen Zeitpunkt bei ihm eintreffe. Nachdem sich die BF für die umfassenden Fragen bedankt und erwähnt habe, man habe diese intern besprochen wie auch dem Sozialpartner «zur Verfügung gestellt», sei der Autor davon ausgegangen, dass MS Direct sich über das Ergebnis der internen Aussprache ausschweige und zu den konkreten Vorwürfen keine Stellung beziehen werde. Den Verweis auf Giorgio Pardini von der Gewerkschaft Syndicom habe er aufgrund des Wortlautes jedenfalls so verstanden, dass dieser sich als «Sozialpartner» mit ihm in Verbindung setzen werde und sich allenfalls als Vertreter der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Branche äussern werde, nicht aber als Sprecher der Firma MS Direct die konkret gestellten Fragen beantworte. Dies wäre völlig lebensfremd gewesen. Pardini habe dem Autor denn auch mitgeteilt, Syndicom werde die Vorwürfe als Branchengewerkschaft prüfen. Damit bringe er unmissverständlich zum Ausdruck, dass er die näheren Zustände bei MS Direct nicht kenne und mithin gar keine Stellung beziehen könne.

Zu den einzelnen Vorwürfen hält «work» fest:
– «Schimmel», «gruusige Zustände» und «schmutzige Büros»: Der Autor habe sich auf drei unabhängige Quellen stützen können, die diese Zustände unabhängig voneinander schilderten.
– «gruusig» sei eine Wertung des Autors und als solche für die LeserInnen erkennbar.
– «schmutzige Büros»: Zwei frühere Angestellte würden sich indirekt zitieren lassen.
– Dass im Artikel von «Gesundheitsamt» die Rede sei und nicht von «Kantonales Amt für Industrie und Arbeit KIGA» (richtig: Kantonales Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit) entspreche journalistischen Gepflogenheiten. Es möge sein, dass die Behörde die Massnahmen zur Behebung der im Artikel geschilderten Missstände für gut befunden habe und dass sie kurz vor Erscheinen des Artikels abgeschlossen gewesen seien. Doch hätten die ehemaligen Mitarbeitenden, die sich in «work» über die seinerzeitigen Verhältnisse an ihrem Arbeitsplatz äusserten, keine Kenntnis vom Ergebnis der behördlichen Überprüfung der Situation bekommen. Der Artikel richte seine Optik auf die Vergangenheit.

Die Beschwerdeführerin hätte zu all diesen Punkten, soweit sie tatsächliche Vorwürfe betreffen, ihre Sicht darlegen können. Denn die Frageliste enthielt diese detailliert.

«Schikanen», «Demütigungen und Ungerechtigkeiten», «Anschreien»:
– «Schikanen»: Der Inhalt des Artikels decke diese Einschätzung des Autors ab.
– «Demütigungen und Ungerechtigkeiten»: Hier gehe es um eine wertende Zusammenfassung in der Bildlegende zu zwei Ex-Angestellten, dies sei den LeserInnen klar. Dass man es als ungerecht einschätze, wenn die Standortleiterin mehr als das Doppelte verdiene, sei durchaus nachvollziehbar.

– «Schäbige Löhne» im Titel sei als Einschätzung ebenfalls durch den Inhalt des Artikels gedeckt.

– «Unterbieten des Mindestlohnes von 18.27 Franken»: Es sei nicht nachvollziehbar, wie die BF zur Behauptung komme, «work» hätte Netto- mit Bruttolöhnen verglichen.

b) Zum Vorwurf der mangelnden Wahrheitssuche:
Beim «work»-Artikel handle es sich für die Leserinnen erkennbar um die Wiedergabe der Erfahrungsberichte und Einschränkungen aus der Sicht von neun ehemaligen Angestellten von MS Direct. Jede ihrer Aussagen sei persönlich zuzuordnen.

c) Zum Vorwurf, wichtige Informationen unterschlagen zu haben:
Die Spitzmarke laute «Ex-Mitarbeitende der Firma MS Direct packen aus», die Aussagen bezögen sich somit auf die Vergangenheit. Hätte MS Direct Stellung genommen, hätte «work» berichten können, manche Missstände seien behoben.

d) Zum Vorwurf sachlich nicht gerechtfertigter Anschuldigungen (Ziffer 7):
«Skandalfirma», «gruusige Zustände» und «schäbige Löhne» befänden sich im Lead bzw. Haupttitel und seien als Zuspitzungen erlaubt. Sie seien als Werturteile erkennbar. Die Warnung einer Ex-Mitarbeiterin «Hände weg von dieser Firma!» sei weder ein allgemeiner Boykottaufruf noch Hetze, vielmehr stehe diese Aussage im Zusammenhang mit der Einführung eines neuen Lohnsystems bei MS Direct, welches diese Mitarbeiterin letztlich zur Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses veranlasst hatte.

D. Das Präsidium schloss den Schriftenwechsel am 27. März 2020 und wies die Beschwerde der 3. Kammer des Presserates zu, bestehend aus Max Trossmann (Präsident), Annika Bangerter, Marianne Biber, Jan Grüebler, Markus Locher, Simone Rau und Hilary von Arx. Simone Rau trat von sich aus in den Ausstand.

F. Die 3. Kammer hat die Beschwerde in ihrer Sitzung vom 4. Juni 2020 und auf dem Korrespondenzweg behandelt.

II. Erwägungen

1. Der gewichtigste Vorwurf der Beschwerde von MS Direct ist, sie sei zu schweren Vorwürfen nicht angehört worden, die zur «Erklärung» gehörende Richtlinie 3.8 sei verletzt. Zunächst fragt sich, ob «work» schwere Vorwürfe publiziert hat. Das ist nach Einschätzung des Presserats zweifellos der Fall. Denn die Vorwürfe sind geeignet, die Reputation der Beschwerdeführerin nachhaltig in Mitleidenschaft zu ziehen. Die MS Direct AG musste somit angehört werden.

Daraus folgt die nächste Frage: Wurde der Anhörungspflicht Genüge getan mit dem Zustellen eines detaillierten Fragenkatalogs und dem Einräumen einer Frist zu deren Beantwortung von knapp einem Tag? Dazu ist es nützlich, die Chronologie dieser Anfrage nachzuzeichnen:

Montag, 11. November 2019, 15.08 Uhr: «work» lässt der MS Direct via Kontaktformular 16 umfassende, kritische Fragen zu den Arbeitsbedingungen der Beschwerdeführerin vornehmlich an ihrem Standort in Muttenz zukommen; Frist zur Beantwortung bis am Dienstag, 12. November 2019, 13 Uhr.

12. November 2019, 8.00 Uhr, Antwort von MS Direct-Kadermann Rolf Kobelt mit cc. Giorgio Pardini an «work»-Journalist Christian Egg:
«Sehr geehrter Herr Egg
Vielen Dank für Ihre umfassenden Fragen. Wir haben diese intern besprochen und unserem Sozialpartner ebenfalls zur Verfügung gestellt.
Giorgio Pardini von der Gewerkschaft Syndicom wird sich in diesen Fragen direkt mit Ihnen in Verbindung setzen. Damit Sie künftig rasch Antworten in diesen und ähnlichen Fragen erhalten, dürfen Sie immer auch gerne auf Herrn Pardini zugehen.
Gerne laden wir Sie bei Gelegenheit einmal ein, bei uns vorbei zu kommen und sich selbst persönlich ein Bild zu machen.
Mit besten Grüssen
Rolf Kobelt»

12. November 2019, 12.04 Uhr, schreibt Pardini an Egg:
«Lieber Christian
Danke für die Zustellung deiner Fragen. In Anbetracht der aufgeworfenen Vorwürfe werden wir die Sache als zuständige Branchengewerkschaft mit der Firma MS Direct prüfen. Dies ist aber nicht in ein paar Stunden möglich. Hoffe auf dein Verständnis.
Herzlich, Giorgio»

Freitag, 15. November: Der Artikel erscheint mit folgender Aussage in einem Infokasten: «MS Direct nimmt zu der Kritik keine Stellung. Stattdessen verweist die Firma auf die Gewerkschaft Syndicom, ‹unseren Sozialpartner›. Giorgio Pardini ist in der Syndicom-Geschäftsleitung. Er sagt auf Anfrage: ‹Als zuständige Branchengewerkschaft werden wir diese Sache mit MS Direct prüfen.›»

Der Presserat stuft dieses Anhörungs-Pingpong so ein: Eine Antwortfrist von einem Tag ist angesichts des umfassenden Fragenkatalogs knapp genügend. Der Katalog der 16 Fragen enthielt die Gesamtheit aller Vorwürfe; der Journalist beschrieb sie konkret und detailliert. MS Direct AG hat fünf Stunden vor Ablauf der Frist reagiert, jedoch nicht inhaltlich. Vielmehr hat die Firma den Ball weitergespielt. Warum dies geschieht, ist nicht klar. MS Direct ergänzt zudem, dass sich der Journalist künftig immer auch an Giorgio Pardini wenden könne, um rasch Antworten zu erhalten.

Wie ist die Antwort des Gewerkschaftsfunktionärs zu deuten? Er will zwar die Fragen klären, fühlt sich aber offenbar nicht in der Lage, dem Journalisten ohne Rücksprache eine Antwort zukommen zu lassen. Weshalb er dem Journalisten antwortete, eine Klärung der Fragen mit MS Direct vornehmen zu wollen. Durfte der Journalist daraus schliessen, dass Pardini allenfalls als Sprecher der Arbeitnehmenden antworten würde, jedoch nicht als Sprecher der MS Direct AG fungieren würde? Der Presserat meint Ja: Es erscheint abwegig, dass die Branchengewerkschaft anstelle der kritisierten Firma antworten soll. Ausserdem macht die Beschwerdegegnerin zu Recht darauf aufmerksam, dass wohl Wochen, wenn nicht Monate ins Land gezogen wären, bis Syndicom ein fundiertes Urteil hätte abgeben können. Die Firma MS Direct AG ist für eine interne Organisation verantwortlich, die es ermöglicht, innert nützlicher Frist Auskunft geben zu können. Wenn ihr die eingeräumte Frist nicht reicht, so muss sie das klar und deutlich kommunizieren. Das ist nicht geschehen, weshalb «work» auch kein Verstoss gegen Richtlinie 3.8 angelastet werden kann.

Auch wenn der Presserat keinen Verstoss feststellt, so hat er die Frage, ob der «work»-Journalist alles getan hat, um zu seinen Antworten zu kommen, doch kontrovers diskutiert. Und er konstatiert, dass der Journalist im Interesse der Exaktheit seines Artikels gut daran getan hätte, noch einmal nachzufragen: Wann kann ich mit einer Antwort rechnen? Brauchen Sie mehr Zeit? Warum antwortet mir die Gewerkschaft? Mit solchen Nachfragen hätte sich der Journalist nichts vergeben, denn er hatte die Informationen exklusiv, es bestand kein Zeitdruck.

2. Weiter stellt sich die Frage: Wurde die Wahrheit redlich gesucht? Oder hat «work» –wie von der Beschwerdeführerin vorgeworfen – die Ziffer 1 der «Erklärung» verletzt? Der Presserat kommt zum Schluss, dass der Wahrheitssuche mit der Vorlage der detaillierten Vorwürfe der ehemaligen MitarbeiterInnen Genüge getan wurde. Dass die Firma nicht antwortete, ist nicht «work» anzulasten. Positiv fällt ins Gewicht, dass die Zeitung nur jene Vorwürfe publizierte, die der Autor durch mindestens zwei Quellen für belegt hielt.

Stossend ist andererseits, dass es sich allesamt um Vorkommnisse aus der Vergangenheit handelt. Schimmel und das Leck in der Decke waren inzwischen behoben. Das erfährt die Leserin nicht. Das hätte sie aber erfahren, wenn MS Direct Stellung genommen hätte.

Der Lead lautet: «Die Skandalfirma MS Direct betreibt für Coop ein Callcenter in Muttenz BL. Dort herrschen gruusige Zustände – aber die Chefin garniert ein Traumsalär.» Dieser Lead suggeriert, dass die gruusigen Zustände nach wie vor anhalten. Er steht im Präsens. Liegt darin ein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht, wo die Firma den Vorwurf doch einfach hätte entkräften können? Der Presserat hat auch diesen Aspekt kontrovers diskutiert und sieht hier einen Grenzfall. Entlastend ist ins Feld zu führen, dass zum einen die Spitzmarke «Ex-Mitarbeitende der Firma MS Direct packen aus:» auf die Vergangenheit verweist, zum anderen im Lauftext der Satz «Und ein Jahr lang sei das Dach undicht gewesen» in der Vergangenheitsform steht. Im Ergebnis erkennt er knapp auf keine Verletzung der Wahrheitspflicht.

Handelt es sich bei den Aussagen «Schimmel, Schikane, schäbige Löhne, Skandalfirma, gruusige Zustände» um Zuspitzungen? Sie finden sich in Titel und Lead. Eine Relativierung findet nicht statt. Eben auch, weil sich die Firma zu keiner Antwort bemüssigt sah und Gegenargumente erst durch ihren Anwalt in der Beschwerdeschrift liefert. Am problematischsten erachtet der Presserat den Ausdruck «Skandalfirma». Er wertet ihn als für eine Gewerkschaftszeitung gerade noch zulässige Zuspitzung, angesichts des übrigen Textes aber hart an der Grenze zur Überspitzung.

Zuletzt rügt die Beschwerde den Satz «Damit unterbietet der GAV [zwischen Syndicom und MS Direct] sogar den umstrittenen Mindestlohn von 18.27 Franken» als unwahr und äusserst tendenziös. Denn hier vergleiche die Unia-Zeitung «work» einen Bruttomindestlohn mit Nettolöhnen des Syndicom-GAVs. Ein genaues Prüfen und Nachrechnen ergibt jedoch, dass bei den Beispielen im Zweittext durchaus Brutto- mit Bruttolöhnen verglichen werden. Im Detail:

Gemäss Art. 5.13 und Art. 5.14 des GAV 2020 (Gesamtarbeitsvertrag Fulfillment, Beilage 5 der Beschwerde) liegen alle, je nach Region verschiedenen, Bruttolöhne über dem gesetzlichen Mindestlohn von 18.27 CHF. Art. 5.13 (Lohn) lautet: «Stundenlohn inkl. Ferien- (Basis 20 Tage: 8.33%) und Feiertagsentschädigung (Basis 10 Feiertage: 4%) in Franken». Die Redaktion macht zu Recht geltend, dass es sich bei den von der BF aus dem GAV übernommenen Ansätzen nicht um Bruttolöhne handle, da vor der Tabelle klar stehe, dass diese Stundenansätze sich unter Einrechnung einer Ferienentschädigung von 8,33 Prozent und einer Feiertagsentschädigung von 4 Prozent verstehen. Die im GAV aufgeführten Stundenansätze seien mithin um 12,33 Prozent zu kürzen, um zum effektiven Brutto-Stundenlohn zu gelangen. So gerechnet unterbiete der GAV 2020 mit den im Zweittext erwähnten Beispielen den Mindestlohn von 18.27 brutto. Der Presserat befindet: Die Aussage in «work» ist richtig, es liegt auch hier kein Verstoss gegen Ziffer 1 der «Erklärung» vor.

3. Hat «work» wesentliche Informationselemente unterschlagen? Die Antwort ist lapidar: In Bezug auf die von der Beschwerdeschrift als behoben behaupteten Hygienemängel trifft das zu. Aber das hat sich MS Direct selbst zuzuschreiben, indem es die Verbesserungen «work» nicht zur Kenntnis gebracht hat. Jedenfalls begründet sich damit keine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung».

4. Hat «work» sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen erhoben und damit Ziffer 7 der «Erklärung» verletzt? MS Direct nennt hier den Ausdruck «Skandalfirma», bei der «gruusige Zustände» herrschten und die «schäbige Löhne» bezahle sowie den Aufruf «Hände weg von dieser Firma!». Der Presserat beurteilt Ziffer 7 mit diesen Ausdrücken als nicht verletzt, da sie einerseits als Wertung des Journalisten in einer Gewerkschaftszeitung erkennbar sind. Und der Aufruf das Zitat einer Ex-Mitarbeiterin ist.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. «work» hat mit dem Artikel «Schimmel, Schikane und schäbige Löhne» vom 15. November 2019 die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Unterschlagen wichtiger Elemente von Informationen; Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 7 (Unterlassen sachlich nicht gerechtfertigter Anschuldigungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.