Nr. 46/2019
Wahrheitspflicht / Unterschlagen wichtiger Informationen

(Amstutz c. «Blick»)

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I. Sachverhalt

A. Am 9. November 2018 erschien im «Blick» ein von Nicolas Lurati und Georg Nopper verfasster Artikel, welcher der Frage nachging, welche politischen Parteien sich für ein Obligatorium von Rückfahr-Kameras an Lastwagen einsetzen. Dieser Text erschien unterhalb eines grösseren Beitrags zu einem tödlichen Unfall, bei dem ein Arbeiter von einem rückwärtsfahrenden Lastwagen erdrückt worden war. Titel «Heckkamera hätte Andi [dem Opfer] wohl das Leben gerettet». Der kürzere Beitrag von Lurati und Nopper trug den Titel: «Diese Politiker verschliessen die Augen vor der Gefahr». Im Text wird darauf hingewiesen, dass es in der Schweiz keine Heckkamera-Pflicht für Lastwagen gebe und es werden fünf Politiker verschiedener Parteien sowie zwei Verbände zitiert, die alle eine gesetzliche Regelung nicht oder noch nicht für erforderlich halten. Unter ihnen SVP-Nationalrat Adrian Amstutz, der ein Obligatorium ebenfalls ablehne. Er wird mit zwei Sätzen zitiert: «Mit Röhrenblick nur auf diese Heckkamera-Pflicht sieht man das ganze Bild der Lastwagen-Sicherheit und der Sicherheit beim Rückwärtsfahren nicht.» Und, mit dem Hinweis, dass Amstutz Präsident des Schweizerischen Nutzfahrzeugverbandes Astag ist, «Heckkameras sind nur so gut, wie sie funktionieren. Im Zentrum stehen immer noch die Chauffeure.»

Zwischen Schlagzeile und Text sind vier Fotos von vier Nationalräten abgebildet, am grössten Adrian Amstutz, SVP-Nationalrat mit dem Zitat in der Bildlegende «Heckkameras sind nur so gut, wie sie funktionieren». Neben den vier Köpfen der «Blick-Käfer», der sinniert: «Bei denen liegt das Herz im toten Winkel.»

B. Nationalrat Adrian Amstutz hat am 9. November 2018 eine handschriftliche, als «Beschwerde» bezeichnete Notiz betreffend möglicher Verstösse eingereicht, notiert auf einem E-Mail, welches seinerseits seine Antworten auf die Fragen des «Blick»-Autors Lurati vom Vortag enthielt. Er machte keine Verletzung von spezifischen Bestimmungen der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») geltend, sondern schrieb, er «mache Beschwerde, weil m. E. der Artikel meine Stellungnahme zu den Fragen des Journalisten Lurati – insbesondere auch mit dem Titel verdreht». Amstutz stellte die Frage «Wie beurteilt der Presserat den Artikel inkl. Titel im Vergleich zu meiner Stellungnahme?». Als mögliche Verstösse zählte er auf: «Öffentlichkeit täuschen, wahrheitswidrige Verkürzung, Titelei, persönlicher Angriff».

C. Am 4. Dezember 2018 antwortete der anwaltlich vertretene «Blick» auf die Beschwerde mit dem Antrag, diese als unbegründet abzuweisen. Er verweist zunächst darauf, dass die vom Geschäftsreglement des Presserates in Art. 9 Abs. 2 formulierten Anforderungen an die Begründung einer Beschwerde nicht gegeben seien. Er verbindet das mit der Kritik, wonach der Presserat auf eine formal und inhaltlich derart unvollständige Eingabe sofort mit Nichteintreten hätte reagieren müssen, er fordert aber nicht, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten. Vielmehr nimmt er «um nicht blossem Formalismus zu verfallen» inhaltlich Stellung zu dem, «was er als ungefähren Beschwerdeinhalt zu erkennen glaubt».

Dabei macht die Redaktion erstens geltend, die beiden Zitate im Text seien wörtlich der Stellungnahme von Nationalrat Amstutz entnommen. Es sei unbestreitbar und auch nicht bestritten, dass der Beschwerdeführer Amstutz mit diesen Äusserungen korrekt zitiert worden sei. Natürlich sei dessen Stellungnahme gekürzt worden, das sei so üblich, aber die Zitate seien kongruent mit der Gesamtheit seiner Äusserungen, es seien keine falschen Akzente gesetzt worden. Es habe keine «wahrheitswidrige Verkürzung» gegeben.

Auch die übrigen Kritikpunkte seien nicht berechtigt:
«Öffentlichkeit täuschen»: Unklar sei, was Amstutz damit konkret meine, die Öffentlichkeit werde in keinem Teil des Textes getäuscht.
«Titelei»: Der Titel fasse den Sachverhalt richtig zusammen: Alle Befragten lehnten eine Heckkamerapflicht ab. Angesichts der Tatsache, dass der Beschwerdeführer nicht beschreibe, was an diesem Titel falsch sein soll, sei es nicht Aufgabe des Beschwerdegegners, Hypothesen in dieser Richtung aufzustellen.
«Persönlicher Angriff»: Auch hier sei nicht ersichtlich, was der Beschwerdeführer meine, von einem persönlichen Angriff auf ihn könne keine Rede sein.

D. Am 19. Dezember 2018 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 2. September 2019 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Auf die Beschwerde wird eingetreten. Der Beschwerdegegner «Blick» hat zwar durchaus recht, wenn er feststellt, dass die Eingabe des Beschwerdeführers die Anforderungen an eine Beschwerde an den Presserat gemäss Art. 9 des Geschäftsreglements nicht erfüllt. Der Beschwerdeführer nennt weder eine Ziffer der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten», welche verletzt sein soll, noch nennt er (ausser dem Titel) konkrete Textpassagen, welche gegen bestimmte Regelungen verstossen sollen. Er stellt denn auch nur die Frage «Wie beurteilt der Presserat den Artikel inkl. Titel im Vergleich zu meiner Stellungnahme?».

Es liegt also eine inhaltlich und formal nicht genügende Beschwerde vor. Dennoch tritt der Presserat auf die Beschwerde ein, weil er das Anliegen des Beschwerdeführers als klar genug erachtet. Eine solche Haltung hat der Presserat schon früher bei Bürgerbeschwerden an den Tag gelegt. Der Presserat stellt zudem fest, dass der Beschwerdegegner selber aus denselben Gründen eine ähnliche Haltung einnimmt, und nicht ausdrücklich auf Nichteintreten plädiert.

2. Amstutz’ Hauptvorwurf lautet, der Artikel verdrehe seine Stellungnahme gegenüber dem «Blick», welche ihrerseits Teil der Beschwerdeschrift war. Was damit faktisch geltend gemacht wird, ist ein Verstoss gegen die Ziffer 3 der «Erklärung» (Umgang mit Quellen, Unterschlagen wichtiger Informationselemente). Was den Text des Artikels betrifft, kann der Presserat dem nicht zustimmen. Zwar gibt «Blick» mit den zwei Zitaten nur einen Teil der Stellungnahme des Beschwerdeführers wieder, aber dies zum einen wörtlich und zum anderen sind wichtige Elemente seiner gesamten Aussage darin enthalten. Er wird nicht etwa nur mit seiner Ablehnung eines Rückfahr-Kamera-Obligatoriums zitiert, sondern er sagt im Artikel «Mit Röhrenblick nur auf diese Heckkamera-Pflicht sieht man das ganze Bild der Lastwagen-Sicherheit und der Sicherheit beim Rückwärtsfahren nicht» und «Im Zentrum stehen immer noch die Chauffeure». Dass weitere Aussagen nicht erwähnt wurden, liegt am kurzen Format des Artikels, in welchem immerhin sieben Positionen angetönt werden, fünf Politiker und zwei Verbände. Solch enge Rahmenbedingungen sind aber für einen medienerfahrenen Politiker nichts Unerwartetes.

3. Deutlich problematischer ist die Überschrift des Artikels: «Diese Politiker verschliessen die Augen vor der Gefahr»: Der «Blick» weist in seiner Beschwerdeantwort darauf hin, dass man die Weigerung der Politiker, in dieser Angelegenheit aktiv zu werden, durchaus mit einem «Verschliessen der Augen» zusammenfassen könne.

Richtig ist, dass keiner der fünf befragten Politiker zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine gesetzliche Regelung befürwortet. Man kann aber sehr wohl eine Gefahr sehen und dennoch nicht für eine gesetzliche Regelung plädieren, aus welchen Gründen auch immer. Der Beschwerdeführer Amstutz hatte in seiner schriftlichen Stellungnahme gegenüber dem Autor ausdrücklich betont, dass Sicherheit für ihn und die Astag erste Priorität habe und dass er den Unfall im Hinblick auf mögliche Verbesserungen untersuchen lasse. Diese Position, keine gesetzlichen Massnahmen, aber Untersuchung der Ursachen, ist aus Sicht des Presserats mit «Verschliessen der Augen vor der Gefahr» mindestens äusserst scharf interpretiert.

Das für den Presserat in ständiger Praxis massgebende Kriterium für die Formulierung von Schlagzeilen lautet: Eine Täuschung liegt vor, wenn die Leserschaft aufgrund von überspitzter Schlagzeile und Titel (ohne den Artikel zu lesen) von Tatsachen ausgeht, die nicht belegt sind (so die Entscheide 54/2018, 4/2011, 58/2007). Die Aussage, die abgebildeten Politiker schlössen die Augen vor der Gefahr, beinhaltet für diejenigen, welche nur Schlagzeile und Lead lesen, im Kontext der gesamten Seite (oben gross «Heckkamera hätte Andi wohl das Leben gerettet», Bilder von Unfallort und Gedenkkerzen) primär die Aussage, dass die Politik trotz dieses Vorfalles tatenlos bleibe. Der Presserat sieht diese – allerdings sehr zugespitzte – Formulierung als noch knapp zulässig; Ziffer 1 der «Erklärung» ist nicht verletzt.

4. Worin ein «persönlicher Angriff» auf den Beschwerdeführer bestanden haben soll, wurde nicht ersichtlich.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. «Blick» hat mit dem Titel «Diese Politiker verschliessen die Augen vor der Gefahr» knapp nicht gegen die Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.

3. Der Text des Artikels verstösst nicht gegen Ziffer 3 der «Erklärung» (Unterschlagen wichtiger Informationselemente).