Nr. 40/2020
Nichteintreten wegen Parallelverfahren

(Blumen Maarsen AG c. «20 Minuten»)

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I. Sachverhalt

A. Am 20. November 2019 veröffentlichte «20 Minuten» in Print und online einen Bericht über ein Blumengeschäft in Bern, das eine Webcam installiert hat und Bilder über YouTube live sendet. Der Beitrag erwähnt dabei Kritik seitens des Berufsverbandes «Grüne Berufe Schweiz» sowie des Sprechers des Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten hinsichtlich des Persönlichkeitsschutzes der Mitarbeiterinnen. Die Inhaberin wird mit der Aussage zitiert «Ich bin mir zwar bewusst, dass ich mich hier in einem Graubereich bewege, doch die Aktion ist wichtig für unseren Internetverkauf.»

B. Am 23. November 2019 reichte die anwaltlich vertretene Blumenhandlung Maarsen Beschwerde gegen die Berichterstattung ein. Die Beschwerdeführerin (im Folgenden BF) sieht die Ziffern 1, 3, 4 und 5 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») sowie die zur «Erklärung» gehörenden Richtlinien 3.7, 4.6, 5.1 und 5.2 verletzt. Zur Hauptsache argumentiert sie, die Journalistin habe mit ihrer Recherche «medialen Druck» aufbauen wollen, um einen Folgebericht über die Abschaltung der Kamera publizieren zu können. Dies sei eine «unlautere Berichterstattung zum Erzwingen von Handlungen». Die BF informierte den Presserat im Weiteren darüber, dass sie zudem eine Strafanzeige wegen Nötigung eingereicht hat. Sie macht dabei geltend, die beiden Verfahren beträfen nicht die identischen Sachverhalte, weswegen der Presserat auf die Beschwerde eintreten müsse, Art. 11 Abs. 1 des Geschäftsreglements schliesse ein Eintreten nur aus, wenn der identische Sachverhalt in zwei verschiedenen Verfahren anhängig gemacht werde.

C. Der Rechtsdienst der TX Group wies im Namen der Redaktion von «20 Minuten» die Kritik am 25. Januar 2020 summarisch sowie am 15. April detailliert zurück. Die Beschwerdegegnerin (BG) beantragt in erster Linie, der Presserat möge auf die Beschwerde nicht eintreten, sie verweist dabei auf das laufende Strafverfahren, den Art. 11 des Geschäftsreglements, der in einem solchen Falle das Eintreten auf eine Beschwerde verneint und macht geltend, es stehe dabei sehr wohl der genau gleiche Sachverhalt zur Diskussion. Es gehe der BF letztlich in beiden Fällen um eine behauptete Nötigung zum Handeln. Im Falle des Eintretens auf die Beschwerde wird deren Ablehnung aus einer ganzen Reihe von Gründen beantragt.

D. Das Präsidium schloss den Schriftenwechsel am 29. April 2020 und wies die Beschwerde der 1. Kammer des Presserates zu, bestehend aus Casper Selg (Präsident), Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka, Klaus Lange und Francesca Luvini.

E. Am 9. Mai 2020 gelangte die BF mit einer weiteren Eingabe an den Presserat und informierte dabei unter anderem darüber, dass das strafrechtliche Verfahren jetzt beim Obergericht Zürich hängig sei.

F. Die 1. Kammer hat die Beschwerde in ihrer Sitzung vom 14. Mai 2020 und auf dem Korrespondenzweg behandelt.

II. Erwägungen

1. Der Presserat geht auf die nach Abschluss des Schriftenwechsels erfolgte Eingabe der BF nicht ein, weil sie keine erheblichen neuen Aspekte enthielt, ausser dem Hinweis, dass das Strafverfahren der BF gegen die BG weitergeführt werde.

2. Zunächst ist die Frage zu klären, ob auf die Beschwerde einzutreten sei. Gemäss Geschäftsreglement (Artikel 11, Absatz 1) wird auf eine Beschwerde nicht eingetreten, wenn ein Parallelverfahren bei einem Gericht oder der UBI eingeleitet wurde. Im vorliegenden Fall ist eine Strafanzeige eingereicht worden, das Verfahren ist in zweiter Instanz hängig. Auch wenn die beiden Rechtsbegehren nicht identisch sind: In der Substanz geht es nach Ansicht des Presserats aus medienethischer Sicht um die gleiche Fragestellung, nämlich darum, ob die BF mit unlauteren Mitteln habe dazu gebracht werden sollen, ihr Verhalten zu ändern, die Videoübertragung aus dem Laden zu unterlassen. In der Beschwerde beim Presserat werden in diesem Sinne auf medienethischer Ebene die gleichen Sachverhalte gerügt, die unter dem Begriff der «Nötigung» auch Gegenstand der Strafanzeige sind. Entsprechend ist unter diesem Aspekt – Parallelverfahren in gleicher Angelegenheit – nicht auf die Beschwerde einzutreten.

3. Als Zweites ist gemäss Art. 11 Abs. 2 des Geschäftsreglements zu prüfen, ob eine medienethische Grundsatzfrage zur Diskussion steht, die es gebietet, allenfalls dennoch auf den Fall einzutreten. Für den Presserat stellen sich im vorliegenden Fall aber keine Grundsatzfragen, die einen solchen Schritt rechtfertigen würden. Im Vordergrund stehen zum einen Fragen des Vorgehens der Journalistin (Recherchegespräch, Richtlinie 4.6), des Unterschlagens wichtiger Informationen (Ziffer 3 der «Erklärung»), es geht allenfalls auch um Fragen der Identifizierung (Schutz der Privatsphäre, Ziffer 7 der «Erklärung», Richtlinie 7.2: Identifizierung) und es geht insbesondere um die Verantwortlichkeit der Redaktion hinsichtlich der LeserInnen-Kommentare unter der Online-Ausgabe des Artikels (Ziffer 5 der «Erklärung», Richtlinie 5.2 Leserbriefe und Online-Kommentare; vgl. Stellungnahme 9/2000). Zu all diesen Fragen liegen klare Bestimmungen und eine dazugehörige Praxis des Presserats vor. Entsprechend besteht kein Grund, dennoch auf die Beschwerde einzutreten.

III. Feststellung

Auf die Beschwerde wird gestützt auf Art. 11 Abs. 1 des Geschäftsreglements nicht eingetreten, weil ein strafrechtliches Parallelverfahren im Gange ist.