Zusammenfassung
Der Schweizer Presserat rügt die Zentralredaktion des Verlags CH Media, weil sie es unterliess, mit schweren Vorwürfen belastete Personen zu konfrontieren. Es ging um ein Interview mit einem ehemaligen Sektionsleiter der Gewerkschaft Unia. Zusätzlich zu den verlagseigenen Zeitungen erschien das Interview am 1. Mai 2019 auch im «Bote der Urschweiz», in «Der Rheintaler» und auf dem Onlineportal «Watson».
Im Interview zeichnete der im Unfrieden aus seinem Amt geschiedene ehemalige Unia-Sektionsleiter das Bild einer undemokratisch geführten Gewerkschaft, die Mitglieder-beiträge versickern lasse und Kritiker der eigenen Basis «kaltstelle» und «wegmobbe». Die CH-Media-Zentralredaktion unterliess es, die Unia und deren Präsidentin Vania Alleva mit diesen schweren Vorwürfen zu konfrontieren.
Die dafür von CH Media vorgebrachte Begründung, Alleva habe bereits zwei Wochen zuvor in einem Interview ausführlich Stellung nehmen können, zielt aus zwei Gründen ins Leere. Erstens erschien dieses Interview bloss in der «Zentralschweiz am Sonntag» und der «Ostschweiz am Sonntag» und erreichte somit nicht dasselbe Publikum wie das Interview mit dem Sektionsleiter; zweitens entbindet die frühere Thematisierung der Positionen einer Streitpartei die Redaktion nicht von der Pflicht, den Blickwinkel von attackierten natürlichen und juristischen Personen in einem neuen Interview mit der anderen Streitpartei wenigstens kursorisch wiederzugeben. Dies kann etwa in den Fragen oder in einem Begleittext passieren.
Nicht verletzt hat die CH-Media-Zentralredaktion mit dem Interview hingegen die Wahrheitspflicht gemäss Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten».
Résumé
Le Conseil suisse de la presse blâme la rédaction centrale des éditions CH Media, parce qu’elle a omis d’entendre des personnes auxquelles de graves reproches étaient faits. Il en va de l’interview d’un ancien responsable de section du syndicat Unia. L’interview en question est parue non seulement dans les journaux appartenant aux éditions CH Media, mais aussi, le 1er mai 2019, dans le «Bote der Urschweiz», dans «Der Rheintaler» et sur le portail «Watson».
L’ancien responsable de section du syndicat Unia y dressait le tableau d’un syndicat dirigé de manière peu démocratique, dispersant les cotisations des membres d’une part et mettant au placard ou poussant vers la sortie les esprits critiques de la base. La rédaction centrale de CH Media a omis d’entendre Unia et sa présidente, Vania Alleva, au sujet des graves reproches qui leur étaient faits.
Pour se justifier, CH Media a invoqué l’argument selon lequel Vania Alleva avait déjà pu prendre position de manière circonstanciée dans une interview publiée deux semaines plus tôt, un argument vain pour deux raisons. D’abord, cette interview n’est parue que dans les journaux «Zentralschweiz am Sonntag» et «Ostschweiz am Sonntag» et n’a donc pas été lue par le même public que l’interview du chef de section; ensuite, le fait que les positions d’une des parties au conflit aient déjà été abordées auparavant ne libère pas la rédaction de son obligation de reproduire au moins brièvement le point de vue des personnes physiques et morales attaquées dans la nouvelle interview de l’autre partie. Elle peut le faire dans la formulation des questions ou dans un texte d’accompagnement.
La rédaction centrale de CH Media n’a en revanche pas violé son obligation de dire la vérité conformément au chiffre 1 de la «Déclaration des devoirs et des droits du/de la journaliste».
Riassunto
Il Consiglio svizzero della stampa ha accolto un reclamo contro la redazione centrale di CH-Media per aver mancato di raccogliere l’opinione di una persona oggetto di una dura critica. La critica era contenuta in un’intervista a un ex-responsabile settoriale del sindacato Unia, pubblicata inoltre su «Bote der Urschweiz», «Der Rheintaler» e sul portale «watson» il 1. maggio 2019.
Nell’intervista si criticava la condotta «antidemocratica» del sindacato, accusato di cattiva gestione delle quote sociali e di ignorare le critiche della base. La redazione centrale di CH-Media aveva però omesso di ascoltare, sui punti criticati, il parere di Unia e della sua presidente Vania Alleva.
CH-Media argomenta che Alleva aveva potuto ampiamente esprimersi due settimane prima in un’intervista. Il Consiglio della stampa respinge tale argomentazione: in primo luogo perché l’intervista era uscita soltanto su «Zentralschweiz am Sonntag» e «Ostschweiz am Sonntag»: non aveva perciò raggiunto lo stesso pubblico di quello oggetto del reclamo. Lo spazio concesso alla persona criticata nei primi due servizi non esimeva la redazione dal dovere di raccogliere di nuovo il parere della dirigente, almeno in breve o in un riquadro a parte.
Il Consiglio della stampa non ha accolto, invece, l’altro addebito sostenuto dalla parte reclamante, di «mancato rispetto della verità» secondo la Cifra 1 della «Dichiarazione dei doveri e dei diritti del giornalista».
I. Sachverhalt
A. Am 1. Mai 2019 publizierten mehrere Zeitungen des Medienkonzerns CH Media ein Interview mit Ueli Balmer, dem ehemaligen Präsidenten der Unia-Sektion Berner Oberland. Übertitelt ist es mit der Aussage, die Unia sei «diktatorisch geführt». Das Interview erscheint in der «Appenzeller Zeitung», in der «Luzerner Zeitung», in der «Nidwaldner Zeitung», in der «Obwaldner Zeitung», im «St. Galler Tagblatt», in der «Thurgauer Zeitung», in der «Toggenburger Zeitung», in der «Urner Zeitung», im «Werdenberger & Obertoggenburger», in der «Wiler Zeitung» und in der «Zuger Zeitung». Ferner wird es im «Bote der Urschweiz» und in «Der Rheintaler» publiziert, zwei Zeitungen, die zwar nicht zu CH Media gehören, jedoch deren überregionale Berichterstattung übernehmen. Gleichentags wird das Interview zudem auf dem Onlineportal «watson.ch» aufgeschaltet (dort unter dem Titel «Warum am 1. Mai Gewerkschafter gegen die Gewerkschaften demonstrieren»).
In der Einleitung zum Gespräch schreibt Journalist Andreas Maurer, der interviewte Balmer sei einen Monat zuvor «nach einem Machtkampf mit der nationalen Geschäftsleitung abgesetzt» worden. Nun schliesse er sich mit internen Kritikern zusammen und organisiere am 1. Mai eine Protestaktion. Im Interview sagt Balmer u.a.:
– «Wir wehren uns dagegen, dass die Organisation [die Unia] von einem Profi-Apparat geführt wird, der keine Rücksicht auf seine Mitglieder nimmt. Dieses Problem haben viele Gewerkschaften. Aber nirgends ist es so schlimm wie in der Unia. Die nationale Geschäftsleitung spricht immer davon, dass sie basisorientiert sei. Doch wenn sich jemand von der Basis gegen die nationale Geschäftsleitung auflehnt, wird er kaltgestellt und weggemobbt.»
– «Die nationale Führung ist noch nie so dreist gegen ihre eigene Basis vorgegangen wie bei uns im Berner Oberland. Die Mitglieder der Basis haben zwei Personen für eine neue Geschäftsleitung vorgeschlagen, die von einer Mehrheit gewählt wurden. Doch die nationale Geschäftsleitung hat das Resultat nicht anerkannt und einen eigenen Mann installiert. Wer sich dagegen gewehrt hat, wurde freigestellt oder rausgemobbt. Mehr als die halbe Belegschaft wurde ausgewechselt.»
– «Viele Mitglieder haben das Gefühl, sie zahlen nur Beiträge, aber wenn sie ein Anliegen haben, geht niemand darauf ein. Ihr Geld versickert im Apparat der Unia.»
– «Vania Alleva [die Unia-Präsidentin] spricht immer von Basisdemokratie, doch sie selber führt mit eiserner Hand. Deshalb stehe ich zu folgender Feststellung: Die Unia wird diktatorisch geführt.»
B. Am 1. August 2019 erhob die anwaltlich vertretene Gewerkschaft Unia beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen sämtliche oben unter Buchstabe A. genannten Redaktionen. Geltend macht sie Verletzungen der Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»), Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche), Ziffer 3 (Unterschlagung wichtiger Elemente von Informationen) der «Erklärung» und Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen).
Im Interview dürfe der «unzufriedene und abgewählte» Sektionspräsident Ueli Balmer «unwidersprochen» über verschiedene – «teils existierende, teils angebliche» – strittige Auseinandersetzungen in der Gewerkschaft erzählen, moniert die Unia. Dabei verbreite er «falsche Tatsachenbehauptungen» und erhebe «schwerwiegende Vorwürfe» gegenüber der Organisation und deren Präsidentin Vania Alleva.
Journalist Maurer habe es nicht für notwendig erachtet, die Unia und/oder Alleva mit den Vorwürfen zu konfrontieren. Ebenso wenig habe er ihren potenziellen Standpunkt zum Ausdruck gebracht, obwohl er diesen gekannt habe, weil er sie einige Wochen zuvor im Zusammenhang mit einem am 6. April 2019 in der «Schweiz am Wochenende» erschienenen Artikel um eine Stellungnahme gebeten hatte. In diesem Artikel habe Maurer seinem späteren Interviewpartner Balmer schon einmal eine Plattform geboten, habe er sich doch weitgehend auf dessen Aussagen gestützt. Da die Unia dort wenigstens rudimentär zu Wort gekommen sei, habe sie auf eine Presseratsbeschwerde verzichtet.
Aufgrund seines Vorwissens hätte Maurer die Interviewfragen so stellen können, dass diese den mutmasslichen Standpunkt der Betroffenen zum Ausdruck bringen, schreibt die Unia-Anwältin. Dies habe er aber bloss einmal mit folgender Entgegnung getan: «Alleva sagte in einem Interview, das Austragen von Konflikten gehöre zum Job von Gewerkschaftern. Deshalb würden interne Konflikte besonders heftig ausgetragen.» Dieses einzelne Zitat genüge nicht, «um als angemessene Stellungnahme der angegriffenen Gewerkschaft und Vania Alleva zu gelten», es sei im Gegenteil «absolut unzureichend».
Als tatsachenwidrig zurückgewiesen wird die Aussage Balmers, die nationale Unia-Geschäftsleitung habe zwei von der Basis vorgeschlagene und von einer Mehrheit in die Sektionsleitung gewählte Personen nicht akzeptiert und stattdessen einen eigenen Mann installiert. Vielmehr seien Beschwerden von Delegierten gegen das von Balmer durchgeführte Wahlprozedere eingegangen, wonach die für solche Fälle statutarisch vorgesehene Beschwerdekommission das Wahlresultat aufgehoben habe, da es unter mehrfacher Verletzung von statutarischen und reglementarischen Bestimmungen zustande gekommen sei. Die Beschwerdekommission treffe ihre Entscheidungen unabhängig von der nationalen Gewerkschaft Unia und sei überhaupt vor jeglicher Beeinflussung gefeit. Den Ausgang des nicht gerichtlich angefochtenen, rechtskräftigen Beschwerdeverfahrens habe Balmer gekannt.
Selbst wenn für die durchschnittlichen Leserinnen und Leser des Interviews klar sei, dass die Aussagen Balmers einseitig geprägt seien, könnten die erwähnten falsch dargestellten Tatsachen nicht erkannt werden. Hinzu komme, dass die Geschäftsleitung in der Folge der ungültigen Wahl keinen eigenen Mann installiert, sondern lediglich eine Interimsperson eingesetzt habe, bis die Wahlen ordentlich durchgeführt werden konnten.
Mit der Verbreitung der unwahren Tatsachen seien im Interview nicht nur wichtige Elemente von Informationen unterschlagen worden, was gegen Ziffer 3 der «Erklärung» verstosse. Verletzt sei damit auch Ziffer 1 der «Erklärung», namentlich Richtlinie 1.1, die Medienschaffende zur Wahrheitssuche anhält.
Ferner sei auch Richtlinie 3.8 verletzt, da die von Balmer erhobenen Vorwürfe schwer wögen. Der Unia und ihrer Präsidentin Alleva werde unterstellt, im Sinne einer Alleinherrschaft rücksichtslos und undemokratisch über die Geschicke zu bestimmen. Die Wortwahl – «kaltstellen», «wegmobben», «mit eiserner Hand» führen – weise in Richtung einer Diktatur und zeichne das Bild eines Regimes, in dem demokratische Prozesse keinen Platz hätten oder missachtet würden. Es werde behauptet, die Unia mache ihre Kritiker in den eigenen Reihen mundtot und verwende die Gelder ihrer Mitglieder sinnlos, indem sie sie versickern lasse. In den Augen aller Leserinnen und Leser des Interviews werde die Unia damit als Vertreterin der Arbeitnehmenden unglaubwürdig gemacht, da sie nun selbst mit dem Vorwurf rücksichtsloser und willkürlicher Machtausübung gegenüber Arbeitnehmenden konfrontiert sei – einem Vorwurf, den sie in gewissen Auseinandersetzungen gegenüber anderen Arbeitgebern erhebe. Gerade deshalb wiege Balmers Behauptung, die Unia werde diktatorisch geführt, schwer, auch wenn es sich dabei um eine ihm unbenommene subjektive Meinung handeln möge.
C. Am 18. März 2020 antwortete Patrik Müller, Chefredaktor der Zentralredaktion von CH Media, namens CH Media, «watson.ch», «Der Rheintaler» und «Bote der Urschweiz» auf die Beschwerde. Er beantragt, die Beschwerde abzuweisen.
Das beanstandete Interview mit dem ehemaligen Unia-Sektionspräsidenten Ueli Balmer sei Teil einer mehrwöchigen Berichterstattung, in der die Vertreter der Unia-Führung regelmässig zu Wort gekommen seien. Der Kern der Kritik sei dabei immer derselbe gewesen, womit sich auch die Entgegnungen wiederholt hätten. Beide Seiten seien stets erwähnt worden. Dies gelte auch für das Interview: Auch dort sei die Gegenposition erwähnt worden.
Das Interview mit Balmer habe eine Drittelseite gefüllt, während Unia-Präsidentin Alleva ihre Sichtweise in Zeitungen von CH Media am 14. April 2019 zuvor auf einer ganzen Seite habe darlegen können. «Dort wurde die Gegenposition ebenfalls lediglich in den Fragen erwähnt.»
Zudem, so Müller, habe sich die Unia im Anschluss an die Veröffentlichung des Balmer-Interviews nicht bei der Redaktion gemeldet, um ihre Sicht nochmals darzulegen. Mit vorliegender Presseratsbeschwerde höre CH Media erstmals, dass sich die Unia-Führung damals unkorrekt behandelt fühlte.
Am 16. Mai 2019 habe die Unia-Führung der Redaktion sodann auf eine weitere Anfrage hin mitgeteilt, dass sie sich bis zur nächsten Sitzung des Zentralvorstandes nicht mehr öffentlich zum Konflikt äussere. Somit ziele der Vorwurf, der Unia sei kein Gehör geschenkt worden, ins Absurde.
D. Der Presserat wies die Beschwerde seiner 1. Kammer zu, der Casper Selg (Kammerpräsident), Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka und Francesca Luvini angehören. Michael Herzka trat gestützt auf Artikel 14 Absatz 2 des Geschäftsreglements des Presserats von sich aus in den Ausstand.
E. Die 1. Kammer des Presserats beriet den Fall an ihrer Sitzung vom 14. Mai 2020 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Die Beschwerdeführerin Unia macht Verstösse gegen die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Unterschlagung wichtiger Elemente von Informationen) der «Erklärung» sowie der zur «Erklärung» gehörenden Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche) und 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) geltend.
Einen Verstoss gegen die «Erklärung» sieht die Beschwerdeführerin in der aus ihrer Sicht falschen Tatsachenbehauptung, die nationale Unia-Geschäftsleitung habe die Wahl zweier von der Basis vorgeschlagener und von einer Mehrheit gewählter Personen nicht akzeptiert und stattdessen einen eigenen Mann in der Sektionsleitung installiert.
Diese Darstellung findet sich allerdings bereits in einem am 6. April 2019 ebenfalls vom Journalisten Andreas Maurer in der «Schweiz am Wochenende» publizierten Artikel. Dort heisst es: «Der Konflikt im Berner Oberland eskalierte nach einer Kampfwahl um die Geschäftsleitung. Es gab zwei Kandidaturen, eine hatte die Unterstützung der regionalen Basis, die andere jene der nationalen Zentrale. Als sich die Basis durchsetzte, intervenierte Präsidentin Alleva und hievte einen Mann ihres Vertrauens ins Amt.» Im Vorfeld der Publikation dieses Artikels hatte Journalist Maurer die Unia-Spitze um eine Stellungnahme gebeten. Diese sei, schreibt die Unia in ihrer Presseratsbeschwerde gegen das am 1. Mai 2019 veröffentlichte Interview, im Artikel denn auch wiedergegeben worden – «wenn auch nicht angemessen». Ob Maurer die Unia mit den Vorgängen rund um die Wahl für die regionale Sektionsleitung konfrontierte, entzieht sich der Kenntnis des Presserats.
Auf Basis der ihm vorliegenden Dokumente vermag der Presserat nicht zum Schluss zu gelangen, dass Maurer die Interviewaussagen Balmers zur Wahl hätte anzweifeln müssen, auch wenn es ihm sicherlich gut angestanden wäre, das eine oder andere Mal kritisch nachzufragen. Im Grossen und Ganzen wiederholen die Aussagen Balmers bloss, was Maurer selbst bereits am 6. April 2019 als Tatsache geschildert hatte. Ob dem Journalisten der schriftliche Entscheid der Unia-Beschwerdekommission vom 20. August 2018 vorlag, den die Beschwerdeführerin dem Presserat zu den Akten gegeben hat, entzieht sich der Kenntnis des Presserats.
Im Ergebnis sieht der Presserat im Abdruck des Interviews weder eine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» noch von Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) oder der Ziffer 3 der «Erklärung» unter dem Aspekt der Unterschlagung wichtiger Elemente.
2. Anders sieht es mit Blick auf Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) aus. Im Interview erhebt Balmer schwere Vorwürfe gegen die Unia-Geschäftsleitung und deren Präsidentin Vania Alleva: Er zeichnet das Bild einer undemokratisch geführten Gewerkschaft, die Mitgliederbeiträge versickern lasse und Kritiker der eigenen Basis «kaltstelle» und «wegmobbe». Mit diesen Vorwürfen hätten die Redaktion Alleva und die nationale Unia-Geschäftsleitung vor der Publikation zwingend konfrontieren müssen, sofern sie gänzlich oder in ihrer Schwere neu waren. Falls dies nicht der Fall war – wenn also die Angegriffenen mit denselben Vorwürfen schon im Vorfeld der Publikation des Artikels vom 6. April 2019 konfrontiert worden waren –, hätten deren Standpunkte im Interview wenigstens kursorisch wiedergegeben werden müssen, sei es in den Fragen oder in einem Begleittext. Die eine – einzelne – Entgegnung des Journalisten («Alleva sagte in einem Interview, das Austragen von Konflikten gehöre zum Job von Gewerkschaftern. Deshalb würden interne Konflikte besonders heftig geführt») genügt nicht.
Nicht zu überzeugen vermag auch die Argumentation der Beschwerdegegnerin, Präsidentin Alleva habe ihren Standpunkt am 14. April 2019 auf einer ganzen Seite darlegen können, während Balmer bloss eine Drittelseite eingeräumt worden sei. Dieses Interview mit der Unia-Präsidentin erschien nämlich einzig in der «Zentralschweiz am Sonntag» und der «Ostschweiz am Sonntag» und richtete sich damit nicht an ein deckungsgleiches Publikum (erst recht nicht an jenes des Onlineportals «watson»).
Ebenso wenig stichhaltig ist das Argument der Beschwerdegegnerin, die Unia-Führung habe der Redaktion auf eine weitere Anfrage hin mitgeteilt, dass sie sich bis zur nächsten Sitzung des Zentralvorstandes nicht mehr öffentlich zum Konflikt äussere. Diese Auskunft erhielt die Redaktion nämlich erst am 16. Mai 2019. Die Redaktion konnte somit nicht wissen, ob sich die Unia und deren Präsidentin Alleva im Vorfeld der Publikation des Interviews mit Balmer am 1. Mai 2019 geäussert hätte oder nicht.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde gegen diverse Tageszeitungen des Medienkonzerns CH Media, den «Bote der Urschweiz», «Der Rheintaler» sowie das Onlineportal «watson.ch» wird teilweise gutgeheissen.
2. Die Redaktionen haben mit der Publikation des Interviews «Die Unia wird diktatorisch geführt» bzw. «Warum am 1. Mai Gewerkschafter gegen die Gewerkschaften demonstrieren» vom 1. Mai 2019 die Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Anhörung bei schweren Vorwürfen) verletzt.
3. Nicht verstossen haben die Redaktionen hingegen gegen Ziffer 1 (Wahrheitssuche) sowie gegen Ziffer 3 der «Erklärung» unter dem Aspekt der Unterschlagung wichtiger Elemente von Informationen.