Nr. 38/2019
Diskriminierungsverbot / Menschenwürde / Leserbriefe

(X. c. «Wiler Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 17. März 2018 veröffentlichte die «Wiler Zeitung» einen Leserbrief mit dem Titel «Die Krux mit der ‹Taqiyya›». Darin befasst sich der Absender mit dem anstehenden Einbürgerungsverfahren eines muslimischen Geistlichen in der Gemeinde Wil. Im Hinblick auf die zu erwartenden Antworten dieses Imams auf Fragen, die ihm öffentlich gestellt worden waren, warnt der Leserbriefschreiber vor den Stellungnahmen des Geistlichen mit der Begründung, dessen Religion ermächtige ihn als Imam, gegenüber Ungläubigen zu lügen. Man nenne dies die «Taqiyya». «Täuschung, Hinterlist, Verschwörung, Betrug, Stehlen und Töten sind nichts als Mittel für die Sache Allahs» beschreibt der Leserbrief dieses Prinzip. Wenn der Imam dieses Prinzip leugne, dann handle er bereits im Sinn dieser «Taqiyya». Man dürfe daher den zu erwartenden Antworten, die der Schreiber im Vorneherein als «oberflächliches Gesülze» bezeichnet, nicht trauen.

B. Am 21. März 2018 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein und machte eine Verletzung von Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») geltend. Insbesondere verstosse die Veröffentlichung des Leserbriefes neben der Ziffer 8 der «Erklärung» (Menschenwürde) genauer gegen Richtlinie 8.1 (Achtung der Menschenwürde) sowie gegen Richtlinie 8.2 (Diskriminierungsverbot). Dass sich diese beiden Anforderungen nicht nur auf redaktionelle Artikel bezögen, sondern auch auf Leserbriefe, ergebe sich aus Richtlinie 5.2.

Der Beschwerdeführer weist in der Begründung darauf hin, dass der Vorwurf der Doppelzüngigkeit gegenüber Nichtmuslimen gemäss dem «Prinzip der Taqiyya» ein «altbekanntes islamfeindliches Vorurteil» sei. Er verweist auf drei verschiedene wissenschaftliche Autoren, die erläuterten, dass es gegen diese Argumentation keinen Ausweg gebe für die Betroffenen, weil alles, was sie sagten, immer als Lüge bezeichnet werden könne. Ein vierter Autor spreche davon, dass das Taqiyya-Argument den Muslimen eine strukturelle Verlogenheit unterstelle, die dazu diene, ihnen den Anspruch auf Mitsprache und Gehör im öffentlichen Diskurs pauschal abzusprechen. Mit diesem Leserbrief werde deshalb zum einen die Menschenwürde des Imams, und damit Richtlinie 8.1 verletzt, weil diesem allein aufgrund seiner Religionszugehörigkeit abgesprochen würde, dass er die Anforderungen für eine Einbürgerung erfüllen könne. Die Unterstellung der Doppelzüngigkeit allein aufgrund der Religionszugehörigkeit verstosse auch gegen Richtlinie 8.2. Diese sei verletzt, wenn «negative Vorurteile verallgemeinert und damit Vorurteile gegenüber Minderheiten verstärkt werden». Dies sei mit der Publikation des Leserbriefes geschehen. Und gemäss Richtlinie 5.2 unterständen Leserbriefe den gleichen berufsethischen Normen wie redaktionelle Inhalte. Zwar ergänze die Richtlinie, dass bei Leserbriefen auf einen grösstmöglichen Freiraum zu achten sei, die Redaktion müsse aber eingreifen, wenn «offensichtliche Verletzungen» vorlägen. Und eine offensichtliche Verletzung liege im konkreten Fall vor.

C. Mit Schreiben vom 4. Mai 2018 beantworteten der Chefredaktor des Hauptblattes «St. Galler Tagblatt», Stefan Schmid, und der Redaktionseiter von dessen Kopfblatt «Wiler Zeitung», Hans Suter, die Beschwerde und beantragten deren Abweisung.

Sie machen geltend, dass der Leserbrief im gesamten Rahmen der Berichterstattung über dieses Thema zu sehen sei und legen zwölf Artikel bei, welche sich über zwei Monate allesamt in differenzierter Weise mit der fraglichen Thematik «Einbürgerung des Imams» auseinandergesetzt hätten. Angesichts dieses Umfelds von zahlreichen Aspekten und Zugängen, welche der Leserschaft zu diesem Thema schon präsentiert worden seien, habe man sich nach gründlicher Überlegung entschlossen, diesen Leserbrief zu veröffentlichen. Dies insbesondere, weil er eine Argumentationsweise enthalte, welche in der Öffentlichkeit, speziell auch seitens von bestimmten PolitikerInnen immer wieder angesprochen werde. Selbst wenn man davon ausgehe, dass der Inhalt diskriminierend sei, müsse man unter der von Richtlinie 5.2 vorgegebenen Prämisse von «möglichst grossem Freiraum für die Meinungsfreiheit» zum Schluss kommen, dass man dieser politischen Haltung einen solchen Ausdruck habe zugestehen müssen.

D. Am 5. April 2018 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 26. August 2019 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Richtlinie 8.1 fordert, dass sich die Informationstätigkeit an der Achtung der Menschenwürde zu orientieren habe. Das gilt sowohl gegenüber den direkt betroffenen Personen als auch gegenüber der Öffentlichkeit. Der vorliegende Leserbrief enthält Kritik am Islam und in der Konsequenz pauschale Kritik am Verhalten, oder dem potenziellen Verhalten von muslimischen Geistlichen. Dem hier zur Diskussion stehenden Imam von Wil selber wird zwar unterstellt, er werde die Gemeinde mit «Gesülze einlullen», was eine respektlose Unterstellung ist, aber diese Formulierung allein erfüllt den Tatbestand einer herabwürdigenden Darstellung, welche die Menschenwürde des Imams missachtet, noch nicht. Richtlinie 8.1 ist nicht verletzt.

2. Richtlinie 8.2 besagt, die Nennung – unter anderem – der Religion könne diskriminierend wirken, insbesondere wenn sie negative Werturteile verallgemeinert und damit Vorurteile gegenüber Minderheiten verstärkt. Journalisten müssten deswegen den Informationswert gegen die Gefahr einer Diskriminierung abwägen und die Verhältnismässigkeit wahren.

Der Beschwerdeführer sieht negative Werturteile aufgrund religiöser Zugehörigkeit bestätigt und zitiert dafür verschiedene Quellen, welche diese Ansicht bekräftigten. Diese zeigten, dass der Vorwurf der Doppelzüngigkeit von Muslimen aufgrund des Prinzips der «Taqiyya» ein in der Forschung altbekanntes Vorurteil sei. Muslime könnten das Argument nicht entkräften, weil jeder Versuch in dieser Richtung mit dem gleichen Argument wieder als typisch islamisch gedeutet werde.

Die «Wiler Zeitung» umgekehrt macht geltend, dass man die von Richtlinie 8.2 geforderte Abwägung zwischen allfälliger Diskriminierung und öffentlichem Interesse sorgfältig vorgenommen habe. Einer möglichen Diskriminierung habe man mit einer ganzen Reihe von Texten entgegengewirkt, das öffentliche Interesse an einer Publikation sei umgekehrt gegeben, weil die Argumentation des Leserbriefschreibers einer Meinung entspreche, die weit verbreitet sei.

Dem stimmt der Presserat in der Summe der Argumente zu: Die «Wiler Zeitung» hat in der Tat erhebliche Anstrengungen unternommen, um diesem Thema «Einbürgerung des Imams» mit vielfältiger Information vorurteilsfrei gerecht zu werden. In diesem Kontext ist denn auch die Veröffentlichung eines einzelnen Leserbriefes mit problematischem Inhalt zu sehen.

Für die nach Richtlinie 8.2 erforderliche Abwägung des Informationsgehalts gegen die Gefahr einer Diskriminierung ist mit entscheidend, ob die Äusserungen im Leserbrief über die «Taqiyya» zutreffend sind oder nicht. Es ist also abzuwägen, ob mit dem Vermeiden einer möglichen Diskriminierung eine relevante Information verhindert würde, was Richtlinie 8.2 mit der «Abwägung» ausschliessen will Der Beschwerdeführer macht nun aber nicht geltend, es würden inhaltlich falsche Behauptungen aufgestellt. Beispielsweise, dass es die «Taqiyya» in der behaupteten Form nicht gebe. Er kritisiert nur, der Verweis auf die «Taqiyya» und die Folgerungen daraus seien diskriminierend. Angesichts dessen und der insgesamt sehr weitgehenden Einbettung der Thematik der «Wiler Zeitung» erscheint Richtlinie 8.2 knapp nicht verletzt. Dies gilt umso mehr angesichts der von der «Wiler Zeitung» angerufenen Bestimmung Richtlinie 5.2 (Leserbriefe und Online-Kommentare).

3. Richtlinie 5.2: Diese Bestimmung legt fest, dass die Veröffentlichung von Leserbriefen grundsätzlich den gleichen berufsethischen Normen unterliegt wie ein redaktioneller Text. Mit der wichtigen Ergänzung: «Der Meinungsfreiheit ist aber gerade auf der Leserbriefseite ein grösstmöglicher Freiraum zu gewähren.» Wenn der Text des hier zu beurteilenden Leserbriefs zwar durchaus problematisch war, so erscheint er – als eine ziemlich weit verbreitete politische Meinung – unter dem Titel des «grösstmöglichen Freiraums für die Meinungsfreiheit» als zulässig. Speziell in einem Blatt, das sich über Wochen um eine differenzierte Darstellung der Problematik bemüht hat.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Die «Wiler Zeitung» hat mit der Veröffentlichung des Leserbriefs «Die Krux mit der ‹Taqiyya›» vom 17. März 2018 die Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.