Zusammenfassung
Wer wichtige Informationen unterschlägt, verletzt die Wahrheitspflicht. Das gilt auch, wenn es sich um einen Drittbeitrag handelt. Der Sender «Radio LoRa» hat zum Jahrestag des Terrorangriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 kommentarlos einen Drittbeitrag des Portals «Working Class History» veröffentlicht, der die historischen Tatsachen stark entstellte. Der Beitrag stellte den Angriff der Hamas als legitime militärische Reaktion auf die israelische Politik dar. Auf die Einzelheiten des Terrorangriffs wurde an keiner Stelle eingegangen, dagegen werden angebliche oder tatsächliche Verfehlungen Israels detailliert aufgelistet. «Radio LoRa» hat mit dieser selektiven Darstellung nicht nur wichtige Tatsachen unterschlagen, sondern diese zusätzlich entstellt. Dies ist eine klare Verletzung der Wahrheitspflicht. Journalistinnen und Journalisten sind verpflichtet, Ereignisse wahrheitsgetreu darzustellen und relevante Informationen nicht zu unterschlagen. Das gilt uneingeschränkt auch für Drittbeiträge.
Résumé
Quiconque omet des informations importantes viole l’obligation de rechercher la vérité, même lorsqu’il s’agit d’une contribution de tiers. Le jour de la commémoration de l’attaque terroriste du Hamas sur Israël du 7 octobre 2023, « Radio LoRa » a republié sans commentaire une contribution figurant sur le portail « Working Class History » et déformant fortement les faits. Celle-ci présentait l’attaque du Hamas comme une réaction militaire légitime à la politique menée par Israël. Elle ne détaillait nullement l’attaque, mais présentait avec moult précisions les manquements prétendus ou effectifs d’Israël. Par cette présentation sélective, « Radio LoRa » a omis des faits importants et les a de plus déformés. Il est clair qu’elle ne s’est pas conformée à son obligation de rechercher la vérité. Les journalistes sont tenus de présenter les faits dans le respect de la vérité et de ne pas omettre des informations importantes. Il n’y a pas de limitation à cet égard lors de la republication de contributions de tiers.
Riassunto
Chi omette informazioni importanti, viola l’obbligo di veridicità. Ciò vale anche quando si tratta di un contributo di terzi.
In occasione dell’anniversario dell’attacco terroristico di Hamas contro Israele, il 7 ottobre 2023, l’emittente «Radio LoRa» ha pubblicato senza commenti un contributo di terzi del portale «Working Class History», che distorceva in modo significativo i fatti. Il servizio presentava l’attacco di Hamas come una legittima reazione militare alla politica di Israele. I dettagli dell’attacco terroristico non sono stati menzionati in alcun punto, mentre le presunte o effettive violazioni commesse da Israele vengono elencate con dovizia di particolari. Con questa presentazione selettiva, «Radio LoRa» non solo ha omesso fatti importanti, ma li ha anche distorti. Si tratta di una chiara violazione dell’obbligo di veridicità. Giornaliste e giornalisti sono tenuti a riportare gli eventi in modo fedele e a non omettere informazioni rilevanti. Questo vale senza eccezioni anche per i contributi di terzi.
I. Sachverhalt
A. Am 7. Oktober 2024 um 18 Uhr sendete «Radio LoRa» den Beitrag «Feministisches Info – Feministisches Nachrichtenmagazin auf Radio LoRa». Die Sprecherin kündigte unter anderem «die Gedenktage zum 7. Oktober 2023» an. Nach weiteren Informationen zum Programm wird ein Jingle eingespielt, in dem der nachfolgende Beitrag wie folgt angekündigt wird: «Radio LoRa – wir erinnern und gedenken kämpferischen, widerständigen, internationalistischen Menschen und Aktionen». Anschliessend kündigt die Sprecherin ein «Statement» von «Working Class History» zum 7. Oktober an. Danach verliest sie die folgende Textpassage:
«Am 7. Oktober 2023 brachen bewaffnete Palästinenser unter der Führung der Hamas, nach jahrzehntelanger ethnischer Säuberung, illegaler Besetzung und Apartheid, aus dem Gazastreifen aus und griffen Ziele in Israel an. Seit 2007 war der Gazastreifen von einer Blockade betroffen, die die Wirtschaft des Landes zerstörte und dazu führte, dass eine Million Einwohner:innen nicht genug zu essen hatten, während über 5000 Menschen bei israelischen Angriffen getötet wurden. Im gleichen Zeitraum wurden im Westjordanland und in Israel über 1500 Palästinenser:innen getötet und es gab Tausende von Terroranschlägen durch israelische Siedler. Während des Angriffs am 7. Oktober gab die israelische Armee die Hannibal-Direktive aus und wies die Truppen an, israelische Zivilist:innen und Soldaten zu töten, um zu verhindern, dass sie als Geiseln genommen werden. Als der Angriff beendet war, waren mindestens 314 israelische Soldaten und 809 Zivilist:innen getötet, und 252 wurden als Geiseln genommen, um sie gegen einige der 2500 palästinensischen Geiseln auszutauschen, die ohne Anklage in Israel festgehalten werden.»
B. Am 12. Oktober 2024 reichte X. (nachfolgend «Beschwerdeführerin») beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen obige Passage im Beitrag von «Radio LoRa» ein. Es sei festzustellen, dass die Passage Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»), d. h. die Wahrheitspflicht, verletze. Die Beschwerdeführerin begründet, «Radio LoRa» behaupte an der Stelle, die getöteten Israelis seien nicht durch die Hamas, sondern durch die israelische Armee getötet worden. Dies entspreche nicht der Wahrheit, die Israelis seien durch die Hamas getötet worden.
C. Am 20. März 2025 nahmen Juan Widmer, Verwaltungsrat von «Radio LoRa», und Damiana Rudolphi, Mitglied der Sendekommission von «Radio LoRa», Stellung zur Beschwerde. Sie weisen den Vorwurf zurück, «Radio LoRa» habe sich in dem Beitrag nicht an die Wahrheit gehalten. Im Beitrag werde klar gesagt, dass der Angriff vom 7. Oktober 2023 von der palästinensischen Hamas ausging. Weiter sei durch diverse Quellen belegt, dass die israelischen Streitkräfte die Hannibal-Direktive herausgegeben hätten. Die «LoRa»-Vertreter halten aber fest, dass der Beitrag redaktionsintern «zu vielen Diskussionen geführt» habe. Ebenfalls habe sich die Sendekommission an ihrer Sitzung vom 8. Oktober 2024 mit dem Beitrag befasst. Dabei sei beschlossen worden, dass die Darstellung der Ereignisse vom 7. Oktober 2023 inhaltlich zwar nicht falsch sei, das Thema «jedoch nicht umfassend genug behandelt» worden sei. Die Sendung werde deshalb den journalistischen Ansprüchen von «Radio LoRa» nicht gerecht. Aus diesem Grund habe die Sendekommission entschieden, die geplante Wiederholung der Sendung zu streichen und die Sendung von der Website zu nehmen.
D. Das Präsidium des Presserates wies die Beschwerde der 3. Kammer zu. Ihr gehören Jan Grüebler (Kammerpräsident), Annika Bangerter, Lena Berger, Dennis Bühler, Monika Dommann, Andri Rostetter und Hilary von Arx an.
E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 23. September 2025 und auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägung
Die Verantwortlichen von «Radio LoRa» sind selber zum Schluss gekommen, dass der Beitrag journalistischen Kriterien nicht genügt, wie sie mit der Löschung des Beitrags von der Internetseite des Senders gezeigt haben. Bei Fällen von geringer Relevanz kann dies eine Auswirkung auf die Beurteilung durch den Presserat haben (vgl. Geschäftsreglement, Art. 11). Aus Sicht des Presserats trifft dies auf den vorliegenden Fall nicht zu. Ohne Belang ist, dass es sich beim beanstandeten Beitrag um ein Zitat handelt. Die Redaktion ist verpflichtet, den Wahrheitsgehalt von Drittbeiträgen zu prüfen und sie entsprechend einzuordnen. Nicht ins Gewicht fällt zudem, dass es sich um einen Bericht über ein Ereignis handelt, das zum Ausstrahlungszeitpunkt der Sendung ein Jahr zurücklag. Auch wenn es sich nicht um ein aktuelles Ereignis handelt, sind Journalistinnen und Journalisten verpflichtet, Ereignisse wahrheitsgetreu darzustellen und relevante Informationen nicht zu unterschlagen.
Im vorliegenden Fall hat «Radio LoRa» eine Passage zitiert, in der die Ereignisse vom 7. Oktober 2023 als legitime militärische Reaktion von Palästinensern auf die israelische Politik dargestellt werden (« … nach jahrzehntelanger ethnischer Säuberung, illegaler Besetzung und Apartheid …», «… Tausende von Terroranschlägen durch israelische Siedler …»). Auf die Einzelheiten des Terroranschlags wird an keiner Stelle eingegangen; vielmehr wird dieser in unbestimmt-euphemistischer Weise als «Angriff» beschrieben, während angebliche oder tatsächliche Verfehlungen Israels prominent aufgelistet werden. Zentral für das Narrativ des Berichts ist die sogenannte Hannibal-Direktive («Während des Angriffs am 7. Oktober gab die israelische Armee die Hannibal-Direktive aus und wies die Truppen an, israelische Zivilist:innen und Soldaten zu töten, um zu verhindern, dass sie als Geiseln genommen werden.»). Bei der Hannibal-Direktive handelt es sich um einen Befehl, der in der israelischen Armee zur Anwendung kommen soll, um eine Gefangennahme zu verhindern, auch wenn dies den Tod des Gefangenen nach sich ziehen könnte. Die Hannibal-Direktive erlaubt der israelischen Armee, militärische und zivile Tote in den eigenen Reihen in Kauf zu nehmen. Im Bericht wird dagegen suggeriert, die Hannibal-Direktive fordere israelische Soldaten dazu auf, eigene Soldaten und Zivilisten aktiv bzw. gezielt zu töten. Unmittelbar nach der Erwähnung der Hannibal-Direktive werden zudem die Opferzahlen des Angriffs genannt, ohne zu klären, dass es sich dabei um die Opfer des Terroranschlags der Hamas handelt. Im Beitrag wird zwar nicht direkt behauptet, die Opfer seien durch die israelische Armee getötet worden. Durch diese dramaturgische Platzierung soll aber offensichtlich insinuiert werden, es handle sich hauptsächlich um Opfer der israelischen Armee. Der durchschnittliche Leser muss darin einen kausalen Zusammenhang erkennen, der nicht gegeben ist (vgl. z. B. Stellungnahme 44/2022). Damit wird die israelische Armee zum Hauptakteur der Ereignisse vom 7. Oktober umgedeutet. Der Terror der Hamas wird nicht nur relativiert, sondern ganz ausgeblendet. Der Beitrag verletzt damit Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung».
III. Feststellungen
1. Der Presserat heisst die Beschwerde gut.
2. «Radio LoRa» hat mit dem Beitrag «Feministisches Info – Feministisches Nachrichtenmagazin auf Radio LoRa» über den Terrorüberfall der Hamas in Israel vom 7. Oktober 2023 die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.