Zusammenfassung
Der Schweizer Presserat hat zwei Beschwerden gegen «20 Minuten» und den «Tages-Anzeiger» abgewiesen. Beide Beschwerden richteten sich gegen die Berichterstattung über einen Tweet, den die Redaktion «Megafon» der Berner Reitschule veröffentlicht hatte. Im Tweet enthalten ist die Zeichnung einer Hinrichtungsszene aus der Zeit der Französischen Revolution. Darin wird ein durch eine Guillotine abgetrennter Kopf präsentiert. Über den ursprünglich gezeichneten Kopf ist das Foto einer Journalistin des «Tages-Anzeiger» montiert.
Die beiden Beschwerden des Vereins Netzcourage kritisierten insbesondere, dass in der Berichterstattung von «20 Minuten» und «Tages-Anzeiger» diese Hinrichtungsszene aus dem Kontext gerissen und des satirischen Charakters beraubt werde. Die Leserschaft könne nicht auf den Kontext schliessen.
Der Presserat hat beide Beschwerden abgewiesen. Die beschriebene Köpfungsszene ist zentrales Element des Tweets. «20 Minuten» hat kurz und einfach den Hintergrund der Kontroverse zwischen der Reitschule Bern und der Journalistin dargestellt. Im Artikel des «Tages-Anzeiger», bei dem es sich um einen Kommentar handelt, wird der Hintergrund und der Anlass für den Kommentar sinngemäss wiedergegeben.
Résumé
Le Conseil suisse de la presse a rejeté deux plaintes visant «20 Minuten» et le «Tages-Anzeiger». Toutes deux concernaient le compte rendu d’un tweet publié par la rédaction «Megafon» de la Reitschule de Berne. Le tweet contenait le dessin d’une scène d’exécution datant de la Révolution française. On y voit une tête tranchée par une guillotine. La tête figurant sur le dessin original a été remplacée par la photo d’une journaliste du «Tages-Anzeiger».
Les deux plaintes de l’association Netzcourage critiquent notamment le fait que le compte rendu de «20 Minuten» et du «Tages-Anzeiger» a sorti cette scène de son contexte, la privant de son caractère satirique. Les lecteurs ne pouvaient établir de lien avec ledit contexte.
Le Conseil de la presse a rejeté les deux plaintes. La scène de guillotinage décrite est l’élément central du tweet. «20 Minuten» a illustré brièvement et simplement le contexte de la controverse entre la Reitschule de Berne et la journaliste. Dans l’article du «Tages-Anzeiger», qui est un commentaire, le contexte et le motif du commentaire sont indiqués en substance.
Riassunto
Il Consiglio svizzero della stampa ha respinto due reclami nei confronti di «20 Minuten» e «Tages-Anzeiger». Entrambi i reclami erano diretti contro la copertura di un tweet pubblicato dalla redazione «Megafon» del centro culturale bernese Reitschule. Nel tweet è inclusa l’immagine di un’esecuzione del periodo della Rivoluzione francese in cui viene mostrata una testa tagliata dalla ghigliottina. Al capo mozzato del disegno originale è sovrapposta la foto di una giornalista del «Tages-Anzeiger».
Le due lamentele dell’associazione Netzcourage criticano in particolare il fatto che nei servizi di «20 Minuten» e «Tages-Anzeiger» la scena dell’esecuzione sia stata estrapolata dal contesto, privandola così del suo carattere satirico e togliendo ai lettori la possibilità di trarre conclusioni dal testo a essa annesso.
Il Consiglio della stampa ha respinto entrambi i reclami. La scena della decapitazione descritta è l’elemento centrale del tweet. «20 Minuten» ha presentato in modo breve e semplice i retroscena della controversia tra la Reitschule di Berna e la giornalista interessata. Nell’articolo del «Tages-Anzeiger», che è un commento, il contesto e il motivo del commento sono riprodotti in modo analogo a quello di «20 Minuten».
I. Sachverhalt
A. Am 7. Juli 2021 veröffentlichte Tamedia-Chefredaktor Arthur Rutishauser auf der Seite «Meinungen» des «Tages-Anzeiger» (TA) unter dem Titel «Das ist eine Grenzüberschreitung» einen Kommentar zu einem Tweet der Onlineplattform «Megafon» der Reitschule Bern. Rutishausers Kommentar war am Vorabend online publiziert worden. Rutishauser nahm Bezug auf eine Karikatur von «Megafon» Reitschule Bern, die zeigte, wie der Tamedia-Journalistin Michèle Binswanger der Kopf («im Stile der Französischen Revolution») abgeschlagen wird. Diese Karikatur sei auf ein Interview zurückzuführen, das Binswanger mit dem langjährigen «Spiegel»-Chefredaktor Stefan Aust für die «SonntagsZeitung» führte. Im Interview äusserte Binswanger den Satz: «Der Vorwurf, rechts zu sein, kann ein gesellschaftliches Todesurteil sein.» Rutishauser hält fest, «Megafon» habe die Karikatur zwischenzeitlich entfernt und eine Art Entschuldigung nachgeliefert. Doch in einer Zeit, in der Journalistinnen und Journalisten auf der ganzen Welt an Leib und Leben gefährdet seien, sei eine solche Karikatur unverantwortlich. Der Chefredaktor kündigt an, Tamedia reiche Strafanzeige gegen «Megafon» ein.
Im Anschluss erklärt Rutishauser, er finde es beschämend, dass Jolanda Spiess-Hegglin, «ehemalige Politikerin, Journalistin und selbst ernannte Kämpferin gegen Hass im Netz» den Tweet der Reitschule Bern geliked habe. Das sei deshalb fragwürdig, weil die sogenannte #NetzAmbulanz des Vereins Netzcourage die nächsten zwei Jahre vom Bund finanziert werde. [Der Verein engagiert sich gemäss eigenen Angaben gegen Gewalt im Internet und unterstützt mit der #NetzAmbulanz Betroffene.] Zudem erwähnt Rutishauser, Michèle Binswanger und Jolanda Spiess-Hegglin befänden sich in einem Rechtsstreit, und offenbar sei Spiess-Hegglin jedes Mittel recht, um ihre Kontrahentin zu attackieren. Der Kommentar endet mit der Feststellung, es sei besorgniserregend, dass ein Teil der politischen Linken so intolerant geworden sei, dass er auf jeglichen Anstand verzichte und Volksverhetzung betreibe, «wie wir sie bei Rechtsextremen erwarten».
Rutishausers Kommentar war zunächst online veröffentlicht worden. Dabei endete der Kommentar noch mit dem Zusatz «… und wie wir sie eigentlich seit 1945 bei uns überwunden glaubten». Dieser Zusatz, der einen Vergleich mit dem Nationalsozialismus andeutet, wurde aber kurz darauf gestrichen und war auch in der am nächsten Tag veröffentlichten Printausgabe des «Tages-Anzeiger» nicht mehr enthalten.
B. Am 4. Oktober 2021 reichte der Verein Netzcourage eine Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, dass der Artikel «Das ist eine Grenzüberschreitung» von Arthur Rutishauser die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht) und 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») verletze.
Netzcourage macht geltend, Rutishausers Kommentar verletze die Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung»), weil er den Kontext des Tweets unzulänglich darstelle. Insbesondere werde verschwiegen, dass die Karikatur im Tweet «nur einen Teil eines satirischen Gesamtwerkes bildete». Die textliche Einbettung (die Verwendung von «überspitzten Sprachbildern» durch Michèle Binswanger) werde unterschlagen. Und Rutishauser weise nicht darauf hin, dass nicht bloss ein Sprachbild («Der Vorwurf, rechts zu sein, kann ein gesellschaftliches Todesurteil sein»), sondern im Tweet zwei weitere Hinrichtungsmetaphern aufgegriffen worden seien. Das Liken des Tweets durch die Geschäftsführerin des Vereins Netzcourage Jolanda Spiess-Hegglin sei nicht auf die bildliche Darstellung einer Hinrichtungsszene mit Michèle Binswangers Kopf bezogen gewesen, sondern auf das satirische Gesamtwerk des Memes. Mit der unvollständigen Darstellung des Auslösers des satirischen Werks sei auch Ziffer 3 der «Erklärung» verletzt, weil Rutishauser wichtige Elemente von Informationen unterschlagen habe.
Zudem erhebe Rutishauser einen schweren Vorwurf gegen Spiess-Hegglin, indem er alle, die den Tweet geliked hätten, «in die Nähe der Hetze von Nationalsozialisten und Kriegsverbrechern» rücke. Weil er Spiess-Hegglin damit nicht konfrontiert und dazu angehört habe, sei Ziffer 3 auch dadurch verletzt. Ausserdem unterschlage der Autor, dass sich Spiess-Hegglin vom Tweet öffentlich distanziert habe; ihre «Entschuldigung» hätte Rutishauser erwähnen sollen.
C. Am 3. Mai 2022 erfolgte die Beschwerdeantwort des «Tages-Anzeiger» durch den Rechtsdienst der TX Group mit dem Antrag, die Beschwerde abzuweisen. Die Antwort erläutert eingangs, dass das Köpfungsbild in den Redaktionen von Tamedia intensiv diskutiert worden sei, weil es eine Journalistin «quasi zum Abschuss freigegeben» habe. Dem habe man deutlich entgegentreten wollen.
Der TA macht geltend, der ursprüngliche Tweet von «Megafon» Reitschule Bern vom 4. Juli, 17.01 Uhr, habe sich zunächst klar auf den Satz «Der Vorwurf, rechts zu sein, kann ein gesellschaftliches Todesurteil sein» von Michèle Binswanger in der «SonntagsZeitung» bezogen. «Megafon» habe erst in einem späteren Tweet (4. Juli, 19.56 Uhr) zwei weitere Textstellen Binswangers veröffentlicht. Die Karikatur habe unmittelbar auf das Interview in der «SonntagsZeitung» reagiert und erst verzögert auf den metaphorischen Sprachgebrauch von Michèle Binswanger im Allgemeinen.
Die Redaktion geht auch auf das Argument des Beschwerdeführers ein, Arthur Rutishauser habe Jolanda Spiess-Hegglin vorgeworfen, sie hätte ein Bild geliked, das mit der Hetze der Nationalsozialisten vergleichbar sei. Da der Verweis auf «1945» zum Schluss des Kommentars historisch überladen gewesen sei, sei er kurz nach Aufschaltung wieder gelöscht worden und maximal 1 Stunde und 15 Minuten online gewesen. Dass Rutishauser in seinem Kommentar einem Teil der politischen Linke extreme Intoleranz vorwerfe, sei eine zulässige, von der Meinungsfreiheit gedeckte Wertung.
Dem Vorwurf von Netzcourage, der Tamedia-Chefredaktor habe unterschlagen, dass sich Spiess-Hegglin öffentlich vom Meme distanziert habe, entgegnet der TA, wenn man die «Distanzierung» genau analysiere, dann laufe sie im Gegenteil auf eine Rechtfertigung des Köpfungsbilds und des Tweets hinaus.
Dem Vorwurf von Netzcourage, Rutishauser habe den Kontext des Tweets nicht hinlänglich aufgegriffen, hält der TA entgegen, Rutishauser habe sehr wohl darauf hingewiesen, dass sich der Tweet der Reitschule Bern mit der kritisierten Karikatur auf eine Äusserung Binswangers in der «SonntagsZeitung» beziehe. Die Redaktion hält zudem fest, dass die Medienfreiheit den Medienschaffenden bei Kommentaren auch harte und provokative Kritik zugestehe. Für das Publikum sei klar erkennbar, dass die kritischen Äusserungen von Arthur Rutishauser eine Wertung darstellten, da sie in der Rubrik «Meinungen» publiziert worden seien.
D. Das Präsidium des Presserats wies die Beschwerde seiner 3. Kammer zu, bestehend aus Max Trossmann (Präsident), Annika Bangerter, Monika Dommann, Michael Furger, Jan Grüebler, Simone Rau und Hilary von Arx. Simone Rau trat von sich aus in den Ausstand.
E. Die 3. Kammer hat die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 6. Juli 2022 und auf dem Korrespondenzweg behandelt.
II. Erwägungen
1. Der Presserat hat zu prüfen, ob der «Tages-Anzeiger» im Kommentar von Arthur Rutishauser die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht) und 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) der «Erklärung» sowie die Richtlinie 3.8 (Anhören bei schweren Vorwürfen) verletzt hat.
2. Zu den Ziffern 1 und 3: Die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» hält fest, dass sich JournalistInnen an die Wahrheit zu halten haben, keine wichtigen Elemente von Informationen unterschlagen dürfen und keine Tatsachen entstellen.
Der Artikel von Arthur Rutishauser ist in der Rubrik «Meinungen» erschienen und für das Publikum als Kommentar gekennzeichnet und als solcher auch klar erkennbar. Für den Presserat geniessen Kommentare einen grossen Freiraum; kennzeichnend sind auch persönliche Wertungen. Rutishausers Kommentar bewegt sich in diesem durch den Journalistenkodex gesetzten Rahmen. Er ist zuspitzend und angriffig verfasst. Den Anlass für den Kommentar (ein Tweet der Reitschule Bern als Reaktion auf eine Aussage von Michèle Binswanger in einem Interview, das sie in der «SonntagsZeitung» publiziert hatte) gibt Rutishauser gleich zu Beginn sinngemäss wieder. Das Liken des Tweets durch Jolanda Spiess-Hegglin stellt der Beschwerdeführer nicht in Abrede. Der von Netzcourage ins Feld geführte Vorwurf, Rutishauser rücke alle, die den Tweet geliked hätten, «in die Nähe der Hetze von Nationalsozialisten und Kriegsverbrechern» ist für den Presserat nicht nachvollziehbar. Denn Rutishauser spricht viel allgemeiner von einem «Teil der politischen Linken». Der Presserat sieht im Kommentar weder Ziffer 1 noch Ziffer 3 der «Erklärung» verletzt.
3. Zu Richtlinie 3.8 (Anhören bei schweren Vorwürfen): Zunächst ist festzuhalten, dass auch heftige Kritik zulässig und durch den Kodex gedeckt ist. Da der Schlusssatz des Kommentars (es sei besorgniserregend, dass ein Teil der politischen Linken so intolerant geworden sei, dass er auf jeglichen Anstand verzichte und Volksverhetzung betreibe, «wie wir sie bei Rechtsextremen erwarten») sich ganz allgemein an die politische Linke und nicht an Jolanda Spiess-Hegglin richtet, kann von einer Anhörungspflicht sowieso nicht die Rede sein. Ziffer 3 der «Erklärung» respektive die Richtlinie 3.8 ist jedenfalls nicht verletzt.
Es trifft auch nicht zu, dass Rutishauser geschrieben hat, Spiess-Hegglin habe einen Tweet geliked, der mit der Hetze der Nationalsozialisten vergleichbar sei. Denn im Satz, der auf «1945» verwies, war die Netzcourage-Geschäftsführerin eben gar nicht angesprochen. Der problematische Zusatz, der auf einen Vergleich des Reitschule-Tweets mit dem Nationalsozialismus angespielt hatte, war durch die Redaktion zudem binnen einer Stunde wieder gelöscht worden. Es wäre allerdings gut gewesen, hätte der «Tages-Anzeiger» diese Löschung gegenüber der Leserschaft durch einen Kurzverweis transparent gemacht.
Der Presserat empfiehlt den Redaktionen ein solches Kenntlichmachen, wenn die Änderung eines Textes dessen Aussage wesentlich verändert beziehungsweise eine wichtige inhaltliche Änderung zur Folge hat.
III. Feststellungen
1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.
2. Der «Tages-Anzeiger» hat mit dem Kommentar «Das ist eine Grenzüberschreitung» vom 7. Juli 2021 die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen / Anhörung bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.
3. Der Presserat empfiehlt den Redaktionen, wesentliche nachträgliche Änderungen in einem publizierten Text oder journalistischen Beitrag jeweils kenntlich zu machen respektive offenzulegen. Dies gilt auch für Onlinepublikationen.