I. Sachverhalt
A. Am 28. Juni 2019 erschien auf der Frontseite der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) ein Leitartikel des Chefredaktors Eric Gujer zu den Spannungen im Nahen Osten, insbesondere zum Konflikt zwischen den USA und dem Iran. Titel: «Am Golf gibt es genügend Pulverfässer, um die ganze Region in die Luft zu sprengen. Warum es trotzdem zu keinem Krieg kommen wird». Der Lead lautete: «Die USA und Iran bedrohen sich mit Worten und Waffen. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass deswegen ein Krieg am Persischen Golf ausbricht. Trump neigt nicht zu militärischen Abenteuern, und die Machthaber in Teheran sind keine Hasardeure. Die Risiken lauern woanders.» Im Artikel erläutert Gujer unter vier hauptsächlichen Gesichtspunkten, weshalb er nicht von einer (damals diskutierten) grossen Eskalation der Lage ausgeht.
Im zweiten Abschnitt nach dem Zwischentitel «Das Atomabkommen wirkt» beschreibt der Autor den Grund für die neuen Spannungen. Er schreibt diese Donald Trump zu, dessen Kündigung des Atomabkommens mit dem Iran. Als es um die Ursachen für dieses amerikanische Ausscheren geht, schreibt Gujer unter anderem: «Zudem baut Iran moderne Raketen mit nuklearen oder konventionellen Gefechtsköpfen. Der Hizbullah richtet solche Projektile direkt auf Tel Aviv.» (Die Worte «nuklearen» und «Gefechtsköpfen» sind dabei halbfett ausgezeichnet.) In der Folge beleuchtet der Artikel kritisch die Rollen der USA, des Iran, Israels und Russlands.
B. Am 8. August 2019 erhob X. Beschwerde beim Schweizer Presserat gegen den Leitartikel mit der Begründung, dieser verstosse gegen die Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»), insbesondere gegen die zur «Erklärung» gehörende Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche). Der Satz «Zudem baut Iran moderne Raketen mit nuklearen oder konventionellen Gefechtsköpfen. Der Hizbullah richtet solche Projektile direkt auf Tel Aviv» widerspreche der allgemein bekannten Tatsache, wonach der Iran noch nicht über nukleare Sprengköpfe verfüge. Im Gegenteil attestierten dem Iran verschiedene Quellen, sich an das Atomabkommen gehalten zu haben, welches die USA aufgekündigt hätten. Der Beschwerdeführer zitiert eine Reihe von Quellen, welche diese Sicht der Dinge bestätigen.
C. Am 4. März 2020 beantragte Eric Gujer, Chefredaktor der NZZ und Autor des zur Diskussion stehenden Leitartikels, die Beschwerde sei vollumfänglich abzuweisen.
Zur Begründung macht er geltend, er habe nicht geschrieben, der Iran besitze Raketen mit nuklearen Gefechtsköpfen. Er habe geschrieben, der Iran baue solche. Es sei im Übrigen bekannt, dass der Iran bereits jetzt Gefechtsköpfe besitze, welche grundsätzlich nuklear genutzt werden könnten, wenn denn die entsprechende Atomtechnologie bereits verfügbar wäre. Das sei sie aber nicht. Er weise also lediglich darauf hin, dass der Hizbullah Raketen auf Tel Aviv richte, die grundsätzlich mit nuklearen Gefechtsköpfen versehen werden könnten. Er habe nirgends in diesem Text geschrieben, der Hizbullah sei bereits im Besitz nuklearer Gefechtsköpfe, im Gegenteil, er habe explizit geschrieben, der Iran [welcher den Hizbullah beliefert, Anm. Presserat] sei eben gerade noch keine Atommacht.
Im Weiteren sei zu bedenken, dass er nicht geschrieben habe, der Iran baue nukleare und konventionelle Gefechtsköpfe, sondern er habe mit dem «oder» angedeutet, dass es eben auch nur konventionelle sein könnten. Gujer räumt aber ein, dass die Formulierung «der Iran baue moderne Raketen mit nuklear oder konventionell nutzbaren Gefechtsköpfen» allenfalls noch etwas präziser gewesen wäre.
D. Der Presserat teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus Dominique von Burg, Präsident, Francesca Snider, Vizepräsidentin, und Max Trossmann, Vizepräsident.
E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 22. Mai 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägung
Bei der Frage, ob die zur Diskussion stehende Formulierung gegen die Wahrheitspflicht verstösst, ist darauf abzustellen, wie sie ein durchschnittlicher Leser, eine durchschnittliche Leserin versteht. Wenn zu lesen ist, «Zudem baut Iran moderne Raketen mit nuklearen oder konventionellen Gefechtsköpfen. Der Hizbullah richtet solche Projektile direkt auf Tel Aviv», dann geht die Leserschaft davon aus, dass Tel Aviv gegenwärtig (auch) nuklear bedroht ist. Das erweckt einen falschen Eindruck, es entspricht – auch nach Darstellung der Beschwerdegegnerin NZZ selber – nicht den Tatsachen, damit wäre an und für sich die Richtlinie 1.1 zur «Erklärung», welche zur Wahrheitssuche verpflichtet, grundsätzlich verletzt.
Der Presserat stellt aber fest, dass der Autor schon zwei Sätze später die Position des Beschwerdeführers bestätigt, wenn er schreibt, das Atomabkommen sei durchaus erfolgreich gewesen, «Iran ist noch keine echte Atommacht, aber es steht an der Schwelle dazu». Dieser Satz steht im Widerspruch zum eben angeführten, denn er schliesst faktisch wieder aus, dass der Iran als Noch-Nicht-Atommacht dem Hizbullah atomare Gefechtsköpfe geliefert haben könnte. Hinzu kommt, dass Gujer im drittletzten und im vorletzten Absatz seines Leitartikels die Raketenarsenale im Südlibanon und jene der Hamas im Gazastreifen noch etwas näher umschreibt. Auch hier spricht er nirgends von nuklearen Sprengköpfen.
Deshalb ist nach der Beurteilung des Presserates anzunehmen, dass die erste Formulierung effektiv anders gemeint war, als sie sich las. Dass sie in diesem Sinne nicht als Verstoss gegen die Wahrheitspflicht gewertet werden muss, sondern als Fehler beim Abfassen des Textes.
Im Ergebnis ist die Kritik an der missverständlichen Textstelle zwar berechtigt, denn diese entsprach nicht den Tatsachen. Der Presserat wertet sie aber nicht als Verstoss gegen die Wahrheitspflicht. Ziffer 1 der «Erklärung» wurde nicht verletzt.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat mit dem Beitrag «Am Golf gibt es genügend Pulverfässer, um die ganze Region in die Luft zu sprengen. Warum es trotzdem zu keinem Krieg kommen wird» vom 28. Juni 2019 die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.