I. Sachverhalt
A. Am 30. Juni 2019 erschienen in der «SonntagsZeitung» (SoZ) im Rahmen einer Tamedia-Artikelreihe über Probleme in der Landwirtschaft drei Texte, auf der Frontseite angekündigt mit «Tausende Bauern verstossen gegen den Tierschutz». Im Innern fand sich zunächst ein ausführlicher, bebilderter Artikel unter dem Titel «Skandalöse Zustände auf Schweizer Höfen». Gezeichnet war der Text mit den Namen Catherine Boss, Roland Gamp, Christian Brönnimann, Sven Cornehls und Dominique Botti respektive mit «recherchekollektiv@tamedia». In diesem Hauptartikel wird erläutert, dass eine erhebliche Anzahl von Bauern gegen die Vorschriften zum Tierschutz verstiessen. Zu Beginn wird der Fall eines Landwirts beschrieben, der 50’000 Franken Direktzahlungen vom Bund für besonders tierfreundliche Stallhaltung erhalte, der aber schon fünfmal vernachlässigte, sichtbar kranke und gequälte Schweine zur Metzgerei geführt habe. Das sei kein Einzelfall. Insgesamt seien 2017 total 7398 Betrieben Zuschüsse gekürzt worden, weil sie gesetzlich vorgeschriebene Anforderungen nicht erfüllt hätten. Daten aus dem Jahr 2018 zeigten, dass die häufigsten Verstösse wegen Mängeln beim Tierschutz bei Rindern hätten beanstandet werden müssen (3905 Fälle), deutlich weniger bei Schweinen, Pferden und Schafen. 613 Bauern seien 2018 wegen Verletzungen des Tierschutzgesetzes sogar strafrechtlich angezeigt worden. Die grosse Mehrheit der Bauern hingegen behandle ihre Tiere korrekt. Es folgt eine längere Schilderung von tierquälerischen Praktiken auf einzelnen Höfen, gegen Ende wird die Reaktion des Bauernverbandes zitiert, welcher die Behörden bei den Kontrollen unterstütze, damit Verstösse aufgedeckt werden könnten, diese «schwarzen Schafe» schadeten dem Ansehen der Bauern, die grosse Mehrheit von ihnen sorge aber gut für die Tiere. Weiter geht der Text darauf ein, mit welcher Gegenwehr und mit welchen zum Teil schwierigen sozialen Zuständen es die Kontrolleure auf den betreffenden Höfen zu tun bekommen. Es bestehe ein Zusammenhang zwischen schlechten sozialen Verhältnissen und schlimmer Tierhaltung.
In einem zweiten Artikel von vier der gleichen AutorInnen (Boss, Gamp, Cornehls, Brönnimann) wird unter dem Titel «Bundesgelder trotz schwerer Verstösse» erläutert, wie Widerhandlungen gegen das Tierschutzgesetz und andere Vorschriften kontrolliert und wie sie geahndet werden. Die Bussen, respektive die Abzüge bei den Subventionen seien häufig zu gering, um die Fehlbaren von ihrem Tun abzuhalten. In gewissen Fällen lohnten sich die wiederholten Verstösse finanziell trotz der Bussen und Subventionskürzungen.
Und als Drittes erschien ein Kommentar («Editorial») von Armin Müller, Mitglied der Chefredaktion, mit dem Titel «Das Gespür für die Stimmung in der Bevölkerung verloren», welcher davon ausging, dass zwischen 2014 und 2017 62’000 Betriebe Geld vom Bund erhalten hätten, davon hätten beinahe einem Drittel, rund 30 Prozent, wegen Verstössen gegen das Tierschutzgesetz Subventionen gekürzt werden müssen. Angesichts der 3,7 Milliarden Franken, die der Bund an Subventionen an die Landwirtschaft bezahle, angesichts der weiteren Beträge, welche die Konsumenten mit überhöhten Preisen beisteuerten, sei es an der Zeit, dass der Bauernverband seine Politik ändere und sich endlich daran orientiere, was die breite Öffentlichkeit von der Landwirtschaft erwarte. Die Blockadepolitik, die der Schweizer Bauernverband insbesondere jetzt auch beim Thema «Pestizid-Initiative» praktiziere, sei aufzugeben, der Verband habe das Gespür für die Stimmung in der Gesellschaft verloren.
Bebildert wurden die drei Artikel mit sechs Fotos von sichtbar misshandelten Tieren.
B. Am 3. Juli, mit vom Presserat angeforderter Ergänzung am 15. Juli 2019 erhob der Schweizer Bauernverband SBV Beschwerde wegen Verstössen gegen die Ziffern 1, 2 und 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (im Folgenden «Erklärung»).
Der Verband (Beschwerdeführer, BF) sieht die Ziffer 1 der «Erklärung» (Wahrheitspflicht) dadurch verletzt, dass die Branche der Landwirte keine Möglichkeit erhalten habe, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Sie sei im Zusammenhang mit den konkreten Vorwürfen nicht einmal kontaktiert worden. Die Darstellung der Sachlage stelle eine wahrheitswidrige Verkürzung dar, die Artikel und insbesondere auch die Titel erweckten den Eindruck, die ganze Branche habe ein Problem. Einzelfälle würden, in Verbindung mit den schockierenden Bildern, so dargestellt, als ob es hier ein flächendeckendes Problem gebe. Die Landwirtschaft werde pauschal verurteilt.
Zur Ziffer 2 der «Erklärung» (vom BF angerufen als «Meinungspluralismus»): Es seien schwere Vorwürfe erhoben worden ohne die Betroffenen anzuhören.
Ziffer 3 der «Erklärung» sei verletzt unter dem Titel «Entstellen von Tatsachen», weil die Tierhaltung in der Schweizer Landwirtschaft nicht nur einseitig, sondern auch verzerrt dargestellt werde. Breit angeführte Einzelfälle erweckten zusammen mit «hingeworfenen, nicht näher ausgeführten Zahlen» den Eindruck, dass es um die Tierhaltung in der Schweizer Landwirtschaft auf breiter Front miserabel stehe, Nutztiere flächendeckend schlecht gehalten würden.
Der BF konzediert, dass über 600 Strafanzeigen in einem Jahr eine hohe Zahl sei, dass aber bei 87 Prozent der 10’674 Kontrollen keinerlei Tierschutzmängel festgestellt worden seien. Die Landwirtschaft werde gesamthaft und bewusst in ein extrem schlechtes Licht gestellt. Der Presserat wird angehalten, die SoZ zu rügen und der Tamedia-Gruppe zu «empfehlen, den Grundsatz der Ausgewogenheit bei Artikeln über die Landwirtschaft einzuhalten und die Betroffenen anzuhören».
C. Am 16. September 2019 beantragte der Rechtsdienst der Tamedia namens der «SonntagsZeitung» Abweisung der Beschwerde. Weder Ziffer 1 noch Ziffer 3 der «Erklärung» seien verletzt, weder sei es richtig, dass die Betroffenen nicht angehört worden seien, noch sei eine ungebührliche Verkürzung oder Verzerrung vorgenommen worden.
Die SoZ macht geltend, der Präsident des SBV, Nationalrat Markus Ritter, sei zwei Tage vor Veröffentlichung des Artikels in einem langen Interview zu den einzelnen Rechercheergebnissen befragt worden. Dabei sei vereinbart worden, dass und wie Ritter im Artikel zitiert werde (mit der Formulierung sei er explizit einverstanden gewesen) und dass er mit einem langen Interview einige Tage später ausführlich zu Wort kommen werde. Diese Aussagen werden belegt mit dem Mailverkehr zwischen den Parteien, mit dem Artikel selber, mit dem am 3. Juli 2019 im «Tages-Anzeiger» veröffentlichten langen Interview mit Ritter und mit dem Front-Hinweis des «Tages-Anzeiger» auf das Interview. Entsprechend sei die Behauptung, die Seite der Bauern sei nicht angehört worden, haltlos.
Was die angeblichen Verkürzungen und Pauschalurteile angehe, insbesondere auch mit den Titeln, weist die Redaktion darauf hin, dass es richtig sei, festzustellen, dass «Skandalöse Zustände auf Schweizer Höfen» vorzufinden seien. Auch «Tausende Bauern verstossen gegen den Tierschutz» beschreibe die Sachlage korrekt. Wenn 2018 schon 3905 Verstösse gegen das Tierschutzgesetz allein bei Rindern festgestellt worden seien, dann sei der Sachverhalt richtig beschrieben, dies umso mehr, als eine vom BF selber als «hoch» bezeichnete Zahl von Strafanzeigen eingereicht worden sei. 613 Strafanzeigen seien nicht die vom Bauernverband behaupteten «Einzelfälle». 3905 Verstösse nur bei Rindern auch nicht. Es würden weder Einzelfälle aufgebauscht noch werde die Landwirtschaft pauschal verunglimpft. Es würden präzise Zahlen benannt und gleichzeitig werde darauf hingewiesen, dass «die grosse Mehrheit» der Bauern ihre Tiere gut versorgten.
Nicht nur werde im Artikel an verschiedenen Stellen darauf hingewiesen, dass die Mehrheit der Landwirte ihre Tiere gut behandle, sondern auch, dass in den Fällen von Verstössen häufig soziale Probleme den Hintergrund bildeten. In diesem Zusammenhang werden fünf Textpassagen aus zweien der Artikel zitiert.
Die Berichterstattung in dieser Sache liege klar im öffentlichen Interesse, die Sachverhalte seien sauber recherchiert worden.
D. Der Presserat teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus Dominique von Burg, Präsident, Francesca Snider, Vizepräsidentin, und Max Trossmann, Vizepräsident.
E. Das Presseratspräsidium verabschiedete die vorliegende Stellungnahme per 22. Mai 2020 auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Die Frage, ob die Berichterstattung der SoZ die Ziffern 1, 2 oder 3 der «Erklärung» verletzt hat, weil die Landwirtschaft und ihre Vertreter zu den schweren Vorwürfen nicht zu Wort gekommen seien, ist für den Presserat angesichts der eingereichten Belege klar zu verneinen. Offensichtlich haben zwei Mitglieder des Tamedia-Rechercheteams im Vorfeld des Artikels ausführlich mit dem Präsidenten des Bauernverbandes gesprochen. Mehr noch, sie haben sich mit ihm ausdrücklich auf die Formulierung seiner Stellungnahme im fraglichen Artikel geeinigt. Und sie haben das ausführliche und von ihm gegengelesene Interview – wie vorbesprochen – wenige Tage später publiziert. Der Bauernverband kam im gegenseitig vereinbarten Mass zu Wort. Damit ist der Pflicht, Beschuldigte anzuhören, Genüge getan, die Ziffer 3 der «Erklärung», insbesondere die zugehörige Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) ist nicht verletzt. Ebensowenig ist die vom Bauernverband mit dem Hinweis auf «Meinungspluralismus» angeführte Ziffer 2 der «Erklärung» tangiert. In dieser Bestimmung geht es darum, dass Journalistinnen und Journalisten die Freiheit der Information, die Unabhängigkeit des Berufes verteidigen sollen; sie ist auf den vorliegenden Zusammenhang nicht anwendbar..
2. Das heisst noch nicht, dass die beanstandeten Artikel deswegen korrekt waren. Hier moniert der BF, Sachverhalte seien in Schlagzeilen und Text «verzerrt» und «einseitig» dargestellt worden, die Landwirtschaft werde «flächendeckend» verunglimpft, die Berichterstattung sei nicht «ausgewogen».
Um dies vorweg zu nehmen: Die Berichterstattung muss laut «Erklärung» und Praxis des Presserates nicht «ausgewogen» sein, es müssen nicht zu jedem Thema immer alle Standpunkte gleichwertig abgebildet werden. Aber sie muss wahr und fair sein.
3. Was die Inhalte und deren Darstellungsweise angeht, so ist zunächst festzustellen, dass es hier um ein Thema von erheblichem öffentlichem Interesse geht. Der Staat, und mit ihm die Steuerzahler, unterstützen die Landwirtschaft mit Milliardenbeträgen. Dies immer verbunden mit Forderungen wie jener nach einer tiergerechten Haltung. Wenn sich herausstellt, dass Betriebe finanziell erheblich unterstützt werden, welche diese Anforderungen nicht erfüllen, dann ist das ein legitimes Thema für die Öffentlichkeit. Dazu muss nicht die ganze Landwirtschaft alle Tiere misshandeln. Das behaupten die beiden Artikel auch nicht. Es wird an drei Stellen darauf hingewiesen, dass die meisten Bauern ihre Tiere gut behandeln. In diesem Zusammenhang werden nicht wie behauptet Tatsachen unterschlagen. Die SoZ legt aber dar, dass pro Jahr über 10’000 Verstösse gegen Tierhaltungsrichtlinien festgestellt werden, dass darüber hinaus über 600 Strafanzeigen eingereicht wurden. Das sind bedauerliche, damit aber auch relevante Zahlen. Sie zeigen einen Missstand auf, der – das belegen sowohl die Zahlen wie auch der Text – zwar sicher nicht flächendeckend ist, wohl aber nach Remedur fragen lässt. Wenn die Schlagzeilen von skandalösen Verhältnissen auf Schweizer Höfen sprechen, dann könnte das etwas zu pauschal klingen, dem folgt aber direkt die Unterzeile «… zeigen Missstände in Hunderten Betrieben». Damit ist klar, dass es um ein erhebliches, aber kein «flächendeckendes» Problem geht. Das darf man angesichts der gelieferten Fakten so beschreiben. Auch «Tausende Bauern verstossen gegen den Tierschutz» ist inhaltlich nicht falsch angesichts der vorgelegten Zahlen. Der Titel hebt zwar das Negative sehr stark hervor, aber angesichts der Anforderung an die Schlagzeilen, das Interessante an der Geschichte herauszustreichen, sich dabei aber an die Wahrheit zu halten, ist er nicht zu beanstanden. Die zitierten und vom BF nicht bestrittenen Zahlen rechtfertigen die Aussage. Diese Sachverhalte aufzubringen und die damit verbundenen Fragen aufzuwerfen bedeutet wohl Ärger für die Branche und ihr Image. Aber es bedeutet nicht, eine Branche pauschal zu verunglimpfen. Der Artikel hat nicht die ganze Branche beschrieben. Dazu wäre er zu negativ ausgefallen, sondern er hat einen kritischen, im öffentlichen Interesse liegenden Bereich davon beleuchtet. Das war in der vorliegenden Form legitim. Die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Unterschlagung von Tatsachen) der «Erklärung» sind nicht verletzt.
4. Für den im gleichen Zusammenhang kritisierten Kommentar gelten andere Regeln. Hier äussert der Autor deklariertermassen eine Meinung, er ist weitgehend frei in seiner Gewichtung und Wertung. Die zugrunde gelegten Fakten müssen stimmen, diese wurden vom BF aber nicht bestritten. Dieser vermutet in seiner Beschwerde, dass der SoZ die Politik des SBV bezüglich Pflanzenschutzmittel und Trinkwasserinitiative missfalle und dass sie deswegen bewusst auf eine Imageschädigung der Landwirtschaft hinarbeite. Dazu ist aus Sicht des Presserates anzumerken, dass die Kritik an der Politik des SBV hinsichtlich der Pestizid-Initiative im Kommentar sicher vorhanden ist, das wird im Kommentar ausdrücklich gesagt. Daraus den Schluss zu ziehen, es sei die Absicht der «SonntagsZeitung», der Landwirtschaft insgesamt Schaden zuzufügen, erscheint dem Presserat als Schlussfolgerung nicht nachvollziehbar. Er ist auch nicht belegt.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die «SonntagsZeitung» hat mit den Artikeln «Skandalöse Zustände auf Schweizer Höfen» und «Bundesgelder trotz schwerer Verstösse» vom 30. Juni 2019 die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 2 (Freiheit der Information) und 3 (Unterschlagen wichtiger Elemente von Informationen; Anhören bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.