I. Sachverhalt
A. Am 1. Februar 2022 veröffentlichte die «Limmattaler Zeitung» (LiZ) online einen Artikel von Virginia Kamm mit dem Titel «Wahlplakat-Zerstörer in flagranti erwischt: Ein Video der FDP Dietikon sorgt für Diskussionen». Der Lead: «Wiederholt soll ein Mann an der Oberdorfstrasse ein Wahlplakat von Stadtrat Philipp Müller (FDP) heruntergerissen haben. Die Ortspartei stellte ein anonymisiertes Video der Szenen auf Facebook und Instagram. Wer steckt hinter der Aktion?» Im Text heisst es, dass zerstörte und verschmierte Wahlplakate «leider zum Wahlkampf gehören». Die FDP Dietikon habe nun ein Video publiziert, welches einen Mann zeige, der ein Plakat von Philipp Müller FDP herunterreisse. Ein Video von 29 Sekunden Länge ist dem Artikel beigestellt, man sieht einen Mann, der sich einem Plakat in langsamem Gang nähert, es herunterreisst, danach zwei sehr kurze Sequenzen, welche eine weitere, gleiche Aktion zeigen. Das Gesicht des Mannes ist jeweils geschwärzt, die Partei gebe aber – so die LiZ, Hinweise auf seine Identität: «Er war lange Parteipräsident und Gemeinderat einer Mitte-Partei in Dietikon und noch heute ist er aktiv als Mitglied des Redaktionsteams der Parteizeitschrift seiner Partei» (Zitat FDP, gemäss Artikel der LiZ). Nachdem das Plakat immer wieder zerstört worden sei, hätten in der Nähe wohnhafte Bekannte sich bereit erklärt, die Augen offen zu halten, so seien die drei Videoausschnitte entstanden. Als die Person hinter der Kamera den Herrn mit seiner Tat konfrontiert habe, habe sich dieser «gleichgültig gezeigt und sich geweigert, aufzuhören». Der auf dem Plakat abgebildete Kandidat Philipp Müller könne sich die Taten des Betreffenden nicht erklären, man kenne sich nicht. Die FDP betone, es gehe ihr nicht um die Person des Täters, sondern darum, einen Vorgang aufzudecken, der sich nicht gehöre. Schliesslich wird darauf hingewiesen, dass das FDP-Video auf Facebook kontrovers diskutiert werde, dass etwa seine Echtheit angezweifelt werde.
Am folgenden 2. Februar 2022 erschien der weitgehend gleiche Text – ohne Bilder – in der Printausgabe der LiZ unter dem Titel «Zerstörtes Wahlplakat: Ein Video sorgt für Diskussionen».
B. Am 15. Februar 2022 reichte X. eine sehr ausführliche Beschwerde gegen den Artikel beim Schweizer Presserat ein. Der Beschwerdeführer (BF) macht einen Verstoss gegen die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen), 7 (Schutz der Privatsphäre) und 8 (Schutz der Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend.
Zur Begründung führt er an, der im Video und im Text der LiZ beschriebene Mann, welcher Wahlplakate herunterriss, leide an Alzheimer und sei nicht mehr zurechnungsfähig. Darüber habe er, der Neffe des «Täters», den Chefredaktor der LiZ unverzüglich informiert und darum gebeten, den Artikel und das Video zu löschen, weil es hier in Tat und Wahrheit nicht um politischen Vandalismus gehe, sondern um das irrationale Verhalten eines unzurechnungsfähigen Demenzpatienten.
Dasselbe habe er der FDP Dietikon gegenüber geltend gemacht, diese habe das Video auf ihren Kanälen in der Folge sofort gelöscht, während die LiZ das gleiche Ansinnen in einem Mailwechsel zweimal ausdrücklich abgelehnt habe. Sowohl der Text wie auch das Video seien zum Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung nach wie vor abrufbar.
Mit dem Beibehalten von Text und Video im Wissen um die wahren Umstände verstosse die LiZ gegen die Ziffer 1 der «Erklärung», weil sie Informationen und Daten nicht berücksichtige, die ihr zur Verfügung standen. Es werde der Eindruck vermittelt, hier zerstöre jemand in böser Absicht systematisch Wahlplakate, während der Redaktion bekannt sei, dass der Mann nicht wisse was er tue. Das sei gleichzeitig auch ein Verstoss gegen die Ziffer 3 der «Erklärung», weil hier Informationen unterschlagen würden, die im vorliegenden Zusammenhang von Wichtigkeit wären.
Im Weiteren kritisiert der BF Verstösse gegen die Ziffern 7 und 8 der «Erklärung», weil der beschriebene Täter aufgrund all der enthaltenen Angaben (ehemaliger Präsident einer Mitte-Partei, ehemaliger Gemeinderat, Mitglied der Redaktion des Parteiblatts) für Teile der Leserschaft erkennbar geworden sei und diese faktische Identifizierung seine Privatsphäre verletze (Ziffer 7). Zudem verletze die wider besseres Wissen anhaltende Anprangerung eines dementen Menschen – zur Berichterstattung über ein damit in keiner Weise zusammenhängendes Thema – die Würde dieses Menschen (Ziffer 8).
C. Am 18. Mai 2022 nahm Chefredaktor David Egger für die «Limmattaler Zeitung» zur Beschwerde Stellung. Er stellt einleitend fest, dass die in der Bundesverfassung garantierte Pressefreiheit und die in der «Erklärung» deklarierte Pflicht der Journalistinnen und Journalisten, den gesellschaftlich notwendigen Diskurs zu gewährleisten, sowie die dort festgeschriebene Pflicht zur Wahrheit bereits Antwort genug seien auf die Vorwürfe des Beschwerdeführers. Im Sinne eines kulanten Vorgehens mache er aber doch Äusserungen zum vorliegenden Fall:
Entgegen der Behauptung des BF sei der Plakat-Zerstörer mit den Angaben «lange Parteipräsident», «Gemeinderat einer Mitte-Partei» und «Mitglied des Redaktionsteams der Parteizeitschrift» nicht identifiziert worden. Erstens sei er im Video unkenntlich gemacht worden. Zudem wüssten durchschnittliche Dietikerinnen und Dietiker schon gar nicht, wie das fragliche Parteiblatt heisse und sie wüssten erst recht nicht, wer früher Parteipräsident war. Aufgrund der tiefen Stimmbeteiligung und des hohen Ausländeranteils sei ohnehin festzustellen, dass die meisten Dietiker gar nicht politisch interessiert seien, entsprechend klein sei der Kreis derer, die den Betreffenden hätten erkennen können. Die allfällige Identifikation müsse aber über den Bekanntenkreis und das berufliche Umfeld hinaus erfolgen, um gegen die Ziffer 7 zu verstossen.
Die Berichterstattung über das Facebook-Video der FDP sei wichtig gewesen, weil zu jenem Zeitpunkt Wahlkampf geherrscht habe. Es sei wichtig, dass die lokale Zeitung über einen derartigen Vorgang berichtet, damit sich die Wählerschaft ein Bild machen könne. Alles andere würde Transparenz verhindern in einem Fall, der anschliessend auf den sozialen Medien rege diskutiert worden sei und damit öffentliches Interesse generiert habe. Hätte man bewusst darauf verzichtet zu erwähnen, dass der Zerstörer laut FDP ein «Mitte-Mann» gewesen sei, hätte man sich zum «langen Arm der Mitte gemacht». Und hätte man das Video gelöscht, nachdem es die FDP gelöscht hatte, hätte man sich «zum verlängerten Arm der FDP gemacht».
Schliesslich seien Gesundheitsdaten besonders schützenswert. Wenn also nicht auf die Demenz des Plakat-Zerstörers hingewiesen werde, könne das einem nicht zur Last gelegt werden. Diskriminierende Anspielungen enthalte der Text nicht.
D. Am 22. Juni 2022 reagierte der BF auf die ihm zugestellte Beschwerdeantwort der LiZ. Gemäss Art. 12 Abs. 2 des Geschäftsreglements des Presserates besteht kein Anspruch auf einen zweiten Schriftenwechsel, der Presserat geht auf die zusätzliche Stellungnahme des BF nicht ein.
E. Am 31. Mai 2022 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 des Geschäftsreglements vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Max Trossmann, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.
F. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 8. August 2022 verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Es sind zwei verschiedene Sachverhalte auseinanderzuhalten: Zum einen der Artikel, wie er am 1. Februar 2022 online erschienen ist. Und zum anderen der Artikel in der Print-Ausgabe, der nach Bekanntwerden neuer Elemente (Täter war dement) publiziert wurde und danach weiterhin online und in Print-Archiven zugänglich geblieben ist.
2. Der erste Artikel, online, vom 1. Februar 2022, enthielt nach dem damaligen Kenntnisstand keine falschen Fakten. Er berichtete über ein Video der FDP, zeigte dieses und stellte Erläuterungen dazu, welche die FDP online beigefügt hatte. Diese Darstellung des Sachverhalts allein verletzte nicht die Ziffer 1 (Wahrheit) und auch nicht die Ziffer 3 (Unterschlagen wichtiger Informationselemente) der «Erklärung».
Es stellt sich aber die Frage nach einer Verletzung der Ziffer 7, also, ob der «Täter» zu Unrecht identifiziert worden ist. Die Frage, ob und wie weit der Täter in einem Kreis, der über die persönlichen und beruflichen Bekannten hinausgeht, erkennbar war, kann der Presserat mit den ihm vorliegenden Informationen nicht beurteilen. Es fehlen Angaben darüber, seit wann die fragliche Person aus dem politischen Leben der Stadt ausgeschieden ist, wer ihn allenfalls noch kennt. Die Frage erübrigt sich aber im Zusammenhang dieses ersten Artikels: Wenn man – ausgehend vom damaligen Kenntnisstand – erfährt, dass ein ehemaliger Präsident einer grossen Partei, ein ehemaliges Mitglied des Gemeinderates und immer noch Redaktor eines Parteiblattes, regelmässig und vorsätzlich Plakate eines gegnerischen Kandidaten herunterreisst, dann wäre dies allenfalls ein Thema von öffentlichem Interesse. Die Abwägung zwischen privatem und öffentlichem Interesse fiele dann zugunsten des Letzteren aus, der Täter hätte allenfalls identifiziert werden dürfen. Der erste Artikel vom 1. Februar 2022 hat die Ziffern 1, 3, 7 und 8 der «Erklärung» nicht verletzt.
3. Anders stellt sich die Sachlage im zweiten Fall dar, nachdem der BF die «Limmattaler Zeitung» noch am 1. Februar 2022 um 20.48 Uhr darüber informiert hat, dass der «Täter» ein demenzkranker Alzheimer-Patient ist und darum bat, die entsprechenden Aussagen zu löschen. Dies hat der Chefredaktor der LiZ bereits am gleichen Abend um 23.20 Uhr negativ beantwortet.
Vermutlich hätte es zeitlich nicht gereicht, um den Artikel in der Printausgabe des Folgetages noch entsprechend zu korrigieren. Deswegen beschränkt sich der Presserat auf die Frage, ob das Beibehalten des Textes und des Videos auf den Internet-Zugängen, also die Weigerung, diese zu löschen, gegen die «Erklärung» verstösst.
Dies ist zu bejahen:
Die Ziffer 1 der «Erklärung» fordert die wahrheitsgetreue Berichterstattung, insbesondere sind alle verfügbaren relevanten Daten zu berücksichtigen. Wenn die LiZ online weiterhin berichtet, dass ein ehemaliger Parteipräsident einer grossen Partei, ehemaliges Gemeinderatsmitglied, immer noch Redaktor des Parteiblatts, hingeht und Plakate eines Gegners zerstört, obwohl ihr bekannt ist, dass dieser Mann an Alzheimer leidet, dann verletzt die Zeitung die Wahrheitspflicht. Das erstere wäre Vandalismus eines Parteioberen, ein politischer Skandal, das zweite ist etwas ganz anderes, nämlich das Verhalten eines dementen Menschen, der schutzbedürftig ist. Sowohl die Ziffer 1 (nicht berücksichtigen relevanter Daten) als auch die detailliertere Ziffer 3 (Unterschlagen wichtiger Elemente) sind verletzt, wenn diese sich als falsch erwiesene Darstellung nicht unverzüglich gelöscht wird.
4. Ob die Ziffer 7 der «Erklärung» verletzt ist, ob der Täter in einem Masse kenntlich gemacht wurde, das ihn über den engeren Kreis von privat und beruflich Bekannten hinaus hat erkennbar werden lassen, muss, wie oben erwähnt, offen bleiben. Dem Presserat liegen keine Angaben darüber vor, wie lange der Betreffende schon nicht mehr politisch aktiv ist, wie weit er in einer breiteren Öffentlichkeit in Vergessenheit geraten sein mag. Insofern erachtet der Presserat eine Verletzung der Ziffer 7 der «Erklärung» als nicht hinreichend nachgewiesen.
5. Anders verhält es sich mit der Ziffer 8, mit dem Schutz der Menschenwürde. Wenn man einen Menschen weiterhin als Missetäter darstellt, von dem man weiss, dass er im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit gehandelt hat, dann stellt man eine kranke Person an den Pranger, die sich nicht mehr wehren kann. Damit verletzt man deren Menschenwürde. Die Ziffer 8 der «Erklärung» ist mit der Weigerung, den Text und das Video überall zu löschen, verletzt. Dies gilt unabhängig davon, wie gross der Kreis derer ist, die den Mann erkennen.
Wenn die LiZ weiter geltend macht, das Weglassen der Parteizugehörigkeit hätte die LiZ zum verlängerten Arm der «Mitte» gemacht und die Löschung des Beitrags zum verlängerten Arm der FDP, dann greift das erheblich zu kurz: Redaktionen folgen der Verpflichtung zur Wahrheit, unabhängig davon, welcher Partei dies allenfalls gelegen kommen könnte.
Und wenn die LiZ erläutert, es dürfe aus Gründen des Patientenschutzes nicht über den Gesundheitszustand einer dementen Person berichtet werden, dann trifft das wohl zu. Nur geht es hier ja nicht darum, den Täter als dement zu bezeichnen, sondern darum, den Text ganz zu löschen.
Der Presserat empfiehlt der «Limmattaler Zeitung» dringend, den Text und das Video zu löschen, weil sie gegen die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.
III. Feststellungen
1. Der Presserat heisst die Beschwerde teilweise gut.
2. Die «Limmattaler Zeitung» verletzt mit der Weigerung, die Artikel «Wahlplakat-Zerstörer in flagranti erwischt: Ein Video der FDP Dietikon sorgt für Diskussionen» vom 1. Februar 2022 und «Zerstörtes Wahlplakat: Ein Video sorgt für Diskussionen» vom 2. Februar 2022 zu löschen die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) und 8 (Schutz der Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten».
3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.