I. Sachverhalt
A. Am 15. Juli 2019 erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) ein Artikel von Stefan Häberli mit dem Titel «Wer vom VW Golf auf einen Tesla umsteigt, tut seinem Gewissen einen Gefallen – nicht unbedingt dem Klima». Darin vertritt der Autor die These, dass der Ersatz von Atomstrom durch erneuerbare Energien, insbesondere Fotovoltaik, zu einer schlechteren und nicht zu einer besseren Klimabilanz führe. Ein Teil des Artikels dreht sich um die Einschätzung, dass Fotovoltaik deutlich klimaschädlicher sei als Atomstrom, wenn man nämlich die CO2-relevanten Belastungen einrechne, die anfallen, bis die Zellen effektiv Strom liefern. Diese Belastungen betragen laut der im Artikel in Text und Grafik zitierten Studie 81 g pro Kilowattstunde. Damit sei dieser Strom deutlich klimaschädlicher als die hierzulande vor allem aus Wasser und Kernspaltung erzeugte Elektrizität (30 g). Dieser «saubere» Strom werde allerdings zu erheblichen Teilen exportiert, während umgekehrt sehr viel «schmutziger» Strom (aus Kohle, Gas) aus dem Ausland importiert werde. Was bei uns aus der Steckdose komme, sei infolgedessen sogar mit 150 g CO2 pro Kilowattstunde belastet. Hier stelle sich deshalb die Frage, mit welchem Wert man erneuerbare Energien, insbesondere die Fotovoltaik vergleichen wolle, wenn man deren Vor- oder Nachteile für die Schweiz beurteile.
Der Artikel schliesst mit einer Kritik an der vom Volk beschlossenen Energiestrategie, welche den Ausstieg aus dem Atomstrom festlegte. Die Abhängigkeit von schmutzigem Strom aus dem Ausland werde damit noch grösser, selbst wenn der Anteil an Erneuerbaren wie erwünscht steigen sollte. Zum Schluss erwähnt der Autor, dass es durchaus Argumente für den Atomausstieg gebe, etwa die Gefahr eines Reaktorunfalls oder die ungelöste Frage der Lagerung radioaktiver Abfälle. Aber, so schliesst der Text, der Klimaschutz sei kein Argument gegen den Atomstrom, wer den Atomausstieg befürworte, stimme implizit der Aussage zu, dass es Wichtigeres als den Klimawandel gebe.
B. Am 19. Juli 2019 erhoben X. und Y. je eine gleichlautende Beschwerde an den Schweizer Presserat gegen den Bericht der NZZ mit der Begründung, er verstosse gegen die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht) und 9 (Unabhängigkeit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») und zwar im Einzelnen gegen die zur «Erklärung» gehörenden Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche) und 9.1 (Unabhängigkeit). Die Beschwerdeführer (BF) bestreiten die sachliche Richtigkeit der Analyse von Stefan Häberli. Die Angaben im Artikel, insbesondere die vergleichsweise schlechte kumulierte CO2-Bilanz von Fotovoltaik, beruhten auf einer veralteten Studie, die Daten seien neun Jahre alt, während auf diesem Gebiet ein rasanter technischer Wandel stattfinde, der im Artikel nicht berücksichtigt werde. Jahre später hätten die Zahlen für die Fotovoltaik schon ganz anders ausgesehen, heute erst recht, zudem sei schon kurz nach Veröffentlichung der Studie festgestellt worden, dass diese Fehler enthalten habe. Damit, dass der Autor für einen derartig grundsätzlichen Artikel in einem so wichtigen Gebiet ausschliesslich auf eine völlig überholte Studie abstelle, verletze er die Verpflichtung zur Wahrheitssuche. Um dieser zu genügen, hätte er nach anderen Quellen suchen müssen, er hätte erwähnen müssen, dass die CO2-Belastung von Fotovoltaik heute vermutlich bei 30 g liege und nicht bei 81 g und er hätte den Artikel gar nicht oder jedenfalls sachlicher schreiben müssen, denn die These, Solarstrom sei «dreckiger» als Atomstrom, sei mit aktuellen Daten nicht mehr zu halten.
Zudem machen die BF geltend, der Autor sei vermutlich nicht unabhängig gewesen beim Verfassen des Artikels. Darauf deute die Tatsache, dass das ganze Thema in Wort und vor allem Bild an Tesla-Fahrzeugen aufgezogen sei. Diese hätten aber mit dem später besprochenen Thema gar nichts zu tun, abgesehen davon, dass die in diesem Zusammenhang geäusserte These, wonach Elektroautos «dreckiger» seien als Benziner, auch längst mehrfach widerlegt sei. Es sei davon auszugehen, dass die NZZ, möglicherweise im Interesse Dritter, bewusst mit alten und falschen Daten Stimmung gegen die Elektromobilität schüren wollte. Sie mache sich mit diesem Artikel zur Botschafterin der Klimaleugner.
C. Am 2. September 2019 beantragte der Ressortleiter Wirtschaft der NZZ, Peter A. Fischer, für die NZZ eine vollumfängliche Abweisung der Beschwerde, soweit überhaupt auf sie einzutreten sei.
Die NZZ konzediert, dass die dem Artikel zugrundeliegende Studie auf «teilweise veralteten Daten» beruhe. Diese sei aber nicht die einzige Studie gewesen, welche der Autor zu Rate gezogen habe, er habe ein halbes Dutzend weiterer berücksichtigt. Er habe aber dennoch speziell diese eine Studie zitiert, weil diese neutraler sei als die anderen, qualitativ besser, «konsistenter», indem sie alle Technologien mit einem einheitlichen Ansatz vergleiche, sie habe im Gegensatz zu den anderen einen Bezug zur spezifischen Lage in der Schweiz und sie stehe sehr wohl im Einklang mit weiteren Arbeiten. Im Übrigen lege die von den BF zitierte andere Quelle, ein Bericht des Bundesamtes für Energie (BFE) aus dem Jahr 2017, nahe, dass sich an der Kernaussage des Artikels nichts geändert habe. Die «Neue Zürcher Zeitung» legt dazu eine Tabelle vor, hergeleitet aus den Zahlen des BFE, welche belege, dass sich an der Grundproblematik, wonach Fotovoltaik stärker klimabelastend sei als Kernenergie, nichts geändert habe. Wenn die BF auf eine Studie verwiesen, die der Fotovoltaik einen wesentlich günstigeren Wert attestiere, dann sei dies deswegen der Fall, weil dort der «Best Technology»-Ansatz verwendet werde. Das führe aber zu einem Vergleich von Äpfeln mit Birnen, denn verglichen werde die zu erhoffende beste Solarenergiegewinnung mit der gegenwärtig bestehenden alten Kernkrafttechnologie, und dies erst noch unter Ausschluss der Markteinflüsse. Es seien, zusammenfassend, alle erdenklichen Faktoren berücksichtigt worden, von einer mangelnden Wahrheitssuche könne nicht die Rede sein.
Ebensowenig von einer fehlenden Unabhängigkeit. Der Vergleich Tesla/Golf habe nur dazu gedient zu illustrieren, wie sehr der intuitive Zugang zu einem Thema einen täuschen könne. Das sei insbesondere bei diesem Thema der Fall, wo der Einfluss der «grauen Energie», also des Verbrauchs noch vor der Inbetriebsetzung, unterschätzt werde. Wenn die BF vermuten, es könnte hier im Interesse Dritter gehandelt worden sein, dann sei auch dies falsch. Die «Neue Zürcher Zeitung» habe weder irgendwelche Geschenke angenommen, noch stehe sie in sonst einer Abhängigkeit.
Und der Vorwurf der BF, die NZZ mache sich mit diesem Artikel zum «Botschafter der Klimaleugner» sei schon deswegen falsch, weil ja der ganze Artikel unter der Prämisse stehe, dass ein Zusammenhang bestehe zwischen CO2-Ausstoss und Klimawandel.
D. Der Presserat teilte den Parteien mit, die Beschwerden würden vereinigt und vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus Dominique von Burg, Präsident, Francesca Snider, Vizepräsidentin, und Max Trossmann, Vizepräsident.
E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 4. Mai 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Bei der Frage, ob der Wahrheitssuche mit diesem Artikel hinsichtlich – letztlich – wissenschaftlicher Einschätzungen Genüge getan worden sei, stösst der Presserat an Grenzen dessen, was er inhaltlich beurteilen kann. Unbestritten ist, dass die NZZ für einen sehr grundsätzlichen Artikel in einem sehr wichtigen, umstrittenen Gebiet eine Studie zugrunde legte, welche zum Teil veraltete Daten beinhaltete. Ob dies unter wissenschaftlich sachlichen Gesichtspunkten verfehlt ist, wie die BF behaupten, oder ob es dennoch angezeigt war, wie die NZZ geltend macht, weil es nach wie vor die beste Vergleichsbasis sei, kann der Presserat nicht beurteilen. Die NZZ macht geltend, ein halbes Dutzend weitere Studien berücksichtigt zu haben, nennt die meisten aber nicht beim Namen. Diese lieferten aber laut NZZ keine wesentlich anderen, neutralen, einwandfrei vergleichbaren, auf die Schweiz bezogenen Daten, so wie das die umstrittene aus dem Jahr 2010 gewährleistet habe, sonst wären sie zitiert worden. Die BF sehen das anders.
Gestützt auf die mit der Beschwerde und der Beschwerdeantwort entstandene Aktenlage – und nur die ist gemäss Geschäftsreglement für den Presserat massgebend – steht Aussage gegen Aussage, entsprechend kann der Presserat nicht entscheiden. Er stellt deshalb keine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» fest.
Dies gilt, obwohl die NZZ in ihrer Sonntagsausgabe vom 26. April 2020 selber eine neue Studie veröffentlichte («Elektroautos sind viel sauberer»), welche zu einem anderen Ergebnis kommt als der hier zur Diskussion stehende Artikel.
2. Die Frage, ob Richtlinie 9.1 (Unabhängigkeit) verletzt ist, kann jedoch explizit verneint werden. Die BF äussern diesbezüglich lediglich eine Vermutung, wonach es der NZZ darum gehe, im Interesse möglicherweise von Dritten die Elektromobilität schlecht zu schreiben. Dafür werden aber keine näheren Hinweise oder gar Belege erwähnt. Für eine Rüge wegen einer Verletzung der «Erklärung» braucht es aber mehr als eine vage, unbelegte Vermutung.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerden werden abgewiesen.
2. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat mit dem Artikel «Wer vom VW Golf auf einen Tesla umsteigt, tut seinem Gewissen einen Gefallen – nicht unbedingt dem Klima» vom 15. Juli 2019 die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht) und 9 (Unabhängigkeit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.