I. Sachverhalt
A. Am 23. Mai 2024 veröffentlichte die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ) einen Artikel von Meret Baumann mit dem Titel «Karim Khan bricht ein Tabu». Darin setzt sie sich damit auseinander, dass der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes ICC gegen drei Spitzenverantwortliche der palästinensischen Hamas und gleichzeitig auch gegen den israelischen Premierminister und dessen Verteidigungsminister Haftbefehle erlassen hat. Damit werde ein Tabu gebrochen, Mitglieder einer Terrororganisation und Vertreter einer demokratisch gewählten Regierung würden einander gleichgesetzt. In diesem sehr ausführlichen Text über verschiedene Aspekte dieses Vorganges steht über die Hamas: «Die Terroristen erklären nicht nur offen, das jüdische Volk auslöschen zu wollen, sondern haben dieses Ziel sogar in ihre Gründungscharta geschrieben.»
B. Am 27. Mai 2024 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, dieser Satz verletze die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») sowie die Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche) und 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) zur «Erklärung».
In einer sehr ausführlichen, mit viel Belegmaterial versehenen Begründung zu den geltend gemachten Verletzungen führt der Beschwerdeführer aus, die Behauptung «Die Terroristen erklären nicht nur offen, das jüdische Volk auslöschen zu wollen …» impliziere, dass es öffentlich zugängliche Behauptungen der Hamas gebe, das gesamte jüdische Volk auslöschen zu wollen. Eine solche Behauptung sei aber nirgends belegt. Die Behauptung, jemand verlange im Namen der Hamas die millionenfache Vernichtung von Menschen nach einem rassistischen Kriterium, müsste aber klar mit Quellen nachgewiesen sein, wenn sie erhoben werde. Das Fehlen eines Belegs bei einem dermassen schweren Vorwurf komme einem Verstoss gleich gegen die Pflicht, sich an die Wahrheit zu halten. Ebenso sei darin ein Verstoss gegen die Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) zu sehen, wonach unterschieden werden müsse zwischen dem Schildern von Fakten und dem Äussern von Meinungen.
Der Beschwerdeführer kritisiert auch den zweiten Teil des Zitats, wonach die Hamas das Ziel, das jüdische Volk auslöschen zu wollen, «sogar in ihre Gründungscharta geschrieben» habe. Man könne – so der Beschwerdeführer – fragen, was eigentlich die Gründungscharta sei, ob das so bezeichnete Papier aus dem Jahr 1988 überhaupt noch Geltung habe, nachdem ein Statement aus dem Jahr 2017 die fraglichen Formulierungen nicht mehr aufnehme. Der Beschwerdeführer setzt sich im Folgenden mit den Formulierungen dieses Statements von 2017 auseinander, um schliesslich auf das Gründungs-Papier aus dem Jahr 1988 zu sprechen zu kommen, insbesondere auf die immer wieder zitierte Stelle, welche einen Text, der «Hadith 6985», wiedergebe, der in der Tat «als judenfeindlich gelesen werden könne». Dieser Hadith stamme aus dem 7. Jahrhundert und müsse im Kontext der damaligen Zeit verstanden werden, als die Bewohner Palästinas Angriffen von verschiedensten Stämmen, auch jüdischen, insbesondere von Khaybaren, ausgesetzt gewesen seien.* Mit «Juden» seien in diesem Sinn vermutlich einfach die damaligen Gegner in der Schlacht gemeint. Mit dieser einen Passage im Text der 88er-Charta gehe es darum, «auf einen Paradefall aufmerksam zu machen, heute mit Israel, damals mit den Khaybaren, manchmal gibt es Schlachten zwischen Muslimen und Juden». Das belege aber in keiner Weise ein heutiges Ziel der Hamas, alle Juden umbringen zu wollen.
C. Am 10. Januar 2025 beantragte der Rechtsdienst der NZZ in seiner Antwort die vollumfängliche Abweisung der Beschwerde. Die NZZ begründet dies damit, dass die fragliche Passage im Grundlagendokument der Hamas unmissverständlich zur Tötung aller Juden aufrufe. Diese «Charta» bilde nach wie vor den politischen und religiösen Rahmen, aus dem heraus sich die Aktivitäten dieser Gruppe ableiten. Dass 2017 ein weiteres Papier verfasst worden sei, welches eine gemässigtere Tonalität aufweise, relativiere diese Aussagen der Charta nicht. Weder sei eine Distanzierung erfolgt, noch werde die ursprüngliche Charta für obsolet erklärt. Der Text bleibe gültig und erkläre das Ziel, Tötung der Juden, nicht nur als politische Forderung, sondern als religiöses, langfristiges Gebot, ohne dessen Erfüllung es keine Auferstehung gebe. Diese Lesart werde von zwei der Beschwerdeantwort beigelegten Analysen renommierter Institute, der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung und der Stiftung Wissenschaft und Politik, geteilt.
D. Am 28. März 2025 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.
E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 15. August 2025 bzw. 1. Dezember 2025 verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Der Presserat stellt einleitend einmal mehr fest, dass er wissenschaftliche, etwa historische Streitfragen weder entscheiden kann noch darf. Er beurteilt lediglich die Frage, ob ein redaktioneller Text den Vorgaben der «Erklärung» entspricht oder gegen sie verstösst.
2. Was die Frage betrifft, ob die Hamas das Ziel, «das jüdische Volk auslöschen zu wollen, (…) sogar in ihre Gründungscharta geschrieben» habe, wie die Autorin formulierte, ist der Redaktion zuzustimmen: Das steht so in der Charta von 1988. Der Beschwerdeführer führt umgekehrt zwar an, dass in dieser Charta sehr viele weitere, andere Aspekte enthalten sind, dass die Hamas in ihrem späteren «Statement» gemässigtere Töne angeschlagen hat, dass dort mehrfach betont werde, dass der Kampf den Besatzern, den Zionisten, gelte und nicht den Juden allgemein und dass das fragliche Zitat aus dem 7. Jahrhundert stammt und auch in diesem Zusammenhang verstanden werden müsse.
Entscheidend ist aber, dass die Hamas diese jahrhundertealte Aufforderung, die Juden zu töten, nicht im 7. Jahrhundert, sondern im Jahr 1988 in ihr Grundsatzpapier aufgenommen hat, dass dieser Text also nicht im Kontext des 7., sondern im sehr spannungsgeladenen Kontext des auslaufenden 20. Jahrhunderts zu verstehen ist. Wollte die Hamas den Eindruck definitiv beseitigen, dass sie alle Menschen einer bestimmten Glaubensrichtung töten wolle, hätte sie sich zwingend von diesem Passus distanzieren müssen. Das ist so nicht geschehen. Insofern verletzt die Feststellung, die Hamas habe die Vernichtung der Juden als Ziel in ihr Grundsatzpapier aufgenommen, nicht die Pflicht, sich an die Wahrheit zu halten (Ziffer 1 der «Erklärung)», diese Darstellung trifft zu.
3. Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, für die Behauptung, Hamas-Vertreter erklärten heute noch offen, alle Juden töten zu wollen, werde kein Beleg angeführt. Er moniert eine Verletzung der Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche) und 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar), die aber nicht von Belang sind, wenn es um die Frage geht, ob eine Aussage belegt werden kann. Die Frage des Belegs wird durch Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung) geregelt. Diese hält fest: «Eine genaue Bezeichnung der Quelle eines Beitrags liegt im Interesse des Publikums, sie ist vorbehältlich eines überwiegenden Interesses an der Geheimhaltung einer Quelle unerlässlich, wenn dies zum Verständnis der Information wichtig ist.» Eine Verletzung der massgeblichen Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung) wird vom Beschwerdeführer nicht moniert. Die NZZ hat in ihrer Beschwerdeantwort zu dieser Frage nicht Stellung genommen. Richtline 3.1 (Quellenbearbeitung) ist deshalb durch den Presserat nicht zu beurteilen.*
III. Feststellungen
1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.
2. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat mit dem Artikel «Karim Khan bricht ein Tabu» die Ziffern 1 (Wahrheit) und 2 (Trennung von Fakten und Kommentar) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.
* Korrektur vom 1. Dezember 2025: Der Presserat hat die vorliegende Stellungnahme wie folgt korrigiert: Ursprünglich lautete einer der die Beschwerde zusammenfassenden Sätze in I. Sachverhalt, Absatz 3 wie folgt: «Dieser Hadith stammt aus dem 7. Jahrhundert, er rufe zwar zur Ermordung aller Juden auf, müsse aber im Kontext der damaligen Zeit verstanden werden, als die Bewohner Palästinas Angriffen von verschiedensten Stämmen, auch jüdischen, insbesondere von Khaybaren, ausgesetzt gewesen seien.» Dieser Satz fasst die Ausführungen des Beschwerdeführers nicht korrekt zusammen, der Presserat hat ihn entsprechend korrigiert. Ebenfalls korrigiert hat er Erwägung 3. Darin hatte der Presserat eine Verletzung von Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung) festgestellt. Diese Bestimmung war vom Beschwerdeführer jedoch nicht geltend gemacht worden. Die Feststellungen lauten damit auf Abweisung der Beschwerde, nicht auf eine teilweise Gutheissung.