I. Sachverhalt
A. Am 24. September 2021 veröffentlichte das «St. Galler Tagblatt» online einen Artikel mit dem Titel «Viel zu früh von uns gegangen: Thurgauer Tierschützer Erwin Kessler ist tot». Darin wird auf die Erfolge von Kessler und seines Vereins gegen Tierfabriken (VgT) in deren langjährigem Kampf gegen den Missbrauch von Tieren hingewiesen sowie darauf, dass Kessler durchaus auch habe Niederlagen einstecken müssen. Der Text weiter: «So ist etwa ein Fall bekannt aus dem Jahr 2015: Der Aktivist Valentin Abgottspon teilte damals einen Artikel auf Facebook, in welchem Kessler als ‹verurteilter Antisemit› und der VgT als ‹antisemitische Organisation› bezeichnet wurden. Dies, weil sich der Thurgauer Tierschützer mehrfach negativ gegenüber dem jüdischen Schächten geäussert hatte.» Kessler habe deswegen Zivilklage gegen Abgottspon eingeleitet, schliesslich habe Abgottspon obsiegt: Kessler habe zum Tatzeitpunkt straflos als Antisemit bezeichnet werden dürfen, Kessler habe hingegen stets beteuert, es sei ihm immer nur um die Kritik am Schächten gegangen. Der Artikel führt dann weitere Aktivitäten des verstorbenen radikalen Tierschützers auf.
B. Am 24. Dezember 2021 reichte Valentin Abgottspon Beschwerde beim Schweizer Presserat ein gegen diesen Artikel sowie gegen alle weiteren Publikationen, online oder im Print, welche den gleichen Wortlaut enthielten, letzteres sei vom Presserat zu eruieren. Der Beschwerdeführer macht einen Verstoss gegen die Ziffer 1 (Verpflichtung zur Wahrheit) sowie Ziffer 3 (Entstellen von Tatsachen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend.
Zur Begründung führt er an, es sei vollkommen falsch, wenn im Artikel behauptet werde, er, der Beschwerdeführer, habe Kessler als Antisemit bezeichnet, weil dieser mehrfach das Schächten kritisiert habe. Richtig sei vielmehr, dass auch er, der Beschwerdeführer selber, das Schächten verurteile. Leute, die das Schächten verurteilten, seien nicht per se Antisemiten. Dass ihm unterstellt worden sei, jemanden als Antisemit zu bezeichnen, nur weil er das Schächten kritisiere, habe ihm als Person, als Religionskritiker, Menschenrechtsaktivist und Freidenker schweren Schaden zugefügt.
Er konzediert im Weiteren, dass der Text aufgrund seiner Intervention online umformuliert worden sei in: «Abgottspon wollte damit darauf hinweisen, dass sich Kessler und der VgT immer wieder Holocaustvergleiche und klassischer antisemitischer Stereotype bedienen würden.» Der Beschwerdeführer beantragt, dass der Presserat herausfinde, welche Medien den beanstandeten Wortlaut so veröffentlicht haben, diese auffordere, diesen richtigzustellen und zwar nicht nur stillschweigend, sondern mit ausdrücklichen redaktionellen Hinweisen, sonst werde dieser sehr schwere Makel immer an ihm als einem der bekanntesten Religionskritiker des Landes haften bleiben.
C. Am 25. Januar 2022 bat der Presserat das «St. Galler Tagblatt» um eine Stellungnahme zu den Vorwürfen des Beschwerdeführers. Diese Bitte wurde am 22. März 2022 wiederholt, nachdem zuvor keine Antwort eingegangen war. Am 29. März teilte der Chefredaktor des «St. Galler Tagblatt» dem Presserat mit, er verzichte darauf, sich zur Beschwerde von Valentin Abgottspon zu äussern.
D. Am 12. April 2022 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Max Trossmann, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.
E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 20. Juni 2022 verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Der Beschwerdeführer macht mit seiner Eingabe und den beigelegten Texten glaubhaft, dass sein Hinweis auf Kesslers angeblichen Antisemitismus nicht durch dessen Kritik an der Praxis des Schächtens motiviert war, dass der Beschwerdeführer diese Praxis im Gegenteil selber genauso kritisiere. Insofern ist der Text fehlerhaft. Zwar ist er fehlerhaft in einem Punkt, der im Gesamtzusammenhang des Artikels nicht von zentraler Relevanz ist, der aber im Rahmen der Auseinandersetzungen um die Person des radikalen Aktivisten Kessler und dessen umstrittener Einstellung sehr wohl von Bedeutung ist. Deshalb sieht der Presserat die Wahrheitspflicht gemäss Ziffer 1 der «Erklärung» als verletzt.
2. Umgekehrt ist ausdrücklich anzuerkennen, dass das «St. Galler Tagblatt» den Text – laut der Beschwerdeschrift – unverzüglich abgeändert und damit der Anforderung nach einer Berichtigung gemäss Ziffer 5 der «Erklärung» entsprochen hat. Da dies zu einem inhaltlichen Punkt erfolgte, welcher nach Ansicht des Presserates von Bedeutung ist (siehe oben) kann diese Richtigstellung allerdings den Mangel des Verstosses gegen die Ziffer 1 der «Erklärung» nicht gänzlich heilen.
3. Der Presserat recherchiert Sachverhalte nicht selber nach, etwa welche Medien welchen Artikel wann in welcher Form übernommen haben, wie der Beschwerdeführer dies wünscht. Das muss der Beschwerdeführer bei Bedarf selber abklären. Der Presserat kann Redaktionen auch keine Weisungen erteilen, er stellt nur fest, ob Medienerzeugnisse die Anforderungen der «Erklärung» erfüllen oder nicht. Entsprechend kann er den Redaktionen nicht vorschreiben, in welcher Form sie eine allfällige Richtigstellung zu veröffentlichen hätten.
III. Feststellungen
1. Der Presserat heisst die Beschwerde teilweise gut.
2. Das «St. Galler Tagblatt» hat mit der beanstandeten Formulierung im Artikel «Viel zu früh von uns gegangen: Thurgauer Tierschützer Erwin Kessler ist tot» vom 24. September 2021 die Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.
3. Darüber hinaus wird die Beschwerde abgewiesen.