Nr. 20/2025
Kommentarfreiheit / Wahrheit / Berichtigung / Unschuldsvermutung

(X. c. «watson.ch»)

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Zusammenfassung

Viele juristische Begriffe haben Eingang in die Alltags- und Umgangssprache gefunden. Sie verlieren dadurch häufig die juristische Eindeutigkeit. Dies zeigt sich am Beispiel eines Kommentars des Portals «watson». Darin hat die Autorin den ehemaligen CVP-Nationalrat Yannick Buttet als «Wiederholungssexualstraftäter» und als «zweifach verurteilter Sexualstraftäter» bezeichnet. Dagegen ging beim Schweizer Presserat eine Beschwerde ein. Der Beschwerdeführer machte geltend, die Bezeichnungen seien allesamt falsch. Buttet sei nur einmal wegen eines Sexualdelikts und ein weiteres Mal wegen Nötigung verurteilt worden.
Der Presserat hält in seinem Entscheid fest, dass der Kommentarfreiheit zwar berufsethische Grenzen gesetzt sind. Dazu gehört auch, dass mit juristischen Begriffen vorsichtig umgegangen wird. Schon in früheren Stellungnahmen hat er aber klargestellt, dass in Kommentaren auch polemische Werturteile zulässig sind. Die Autorin hat in diesem Fall die Grenzen zur Falschdarstellung zwar ausgereizt, den juristischen Sachverhalt aber an der entscheidenden Stelle korrekt dargestellt. Der Presserat hat die Beschwerde deshalb vollumfänglich abgewiesen.

Résumé

De nombreuses notions du droit ont fait leur entrée dans le langage courant et en ont perdu leur sens juridique strict. C’est ce que montre l’exemple du commentaire publié sur le portail “ Watson „. L’autrice y désigne l’ancien conseiller national PDC Yannick Buttet comme “ Wiederholungssexualstraftäter “ (récidiviste sexuel) et comme “ zweifach verurteilter Sexualstraftäter “ (auteur d’actes d’ordre sexuel condamné à deux reprises). Une plainte a été déposée contre ce commentaire auprès du Conseil suisse de la presse. Le plaignant a argué que l’ensemble de ces désignations étaient fausses, Yannick Buttet n’ayant été condamné qu’une seule fois pour un acte d’ordre sexuel et une fois pour contrainte. Il y a des limites éthiques à la liberté de commenter, et notamment une obligation de faire preuve de prudence dans l’emploi de notions juridiques. Dans plusieurs de ses prises de position précédentes, le Conseil suisse de la presse a cependant noté que les jugements de valeur à caractère polémique étaient permis dans les commentaires. L’autrice était certes à la limite de la représentation faussée, mais a restitué les faits de manière juridiquement correcte dans le passage déterminant, raison pour laquelle le Conseil suisse de la presse a rejeté la plainte intégralement.

Riassunto

Il linguaggio colloquiale quotidiano include attualmente molti termini giuridici, che di conseguenza perdono spesso il loro rigore giuridico, come illustra l’esempio del portale «Watson». Nel suo commento, l’autrice ha definito l’ex Consigliere nazionale Yannick Buttet come un «Wiederholungssexualstraftäter» (criminale sessuale recidivo) e «zweifach verurteilter Sexualstraftäter» (criminale sessuale condannato due volte). Al riguardo, il Consiglio della stampa ha ricevuto un reclamo. Il reclamante sostiene che tutti i termini usati sono errati: Buttet era stato condannato solo una volta per reati sessuali e una seconda per coercizione. La libertà di commento è soggetta a limiti di etica professionale. Ciò implica anche un uso attento dei termini giuridici. Tuttavia, il Consiglio della stampa ha già affermato in precedenti prese di posizione che nei commenti sono ammissibili anche giudizi di valore polemici. Nello specifico, l’autrice può aver utilizzato i termini giuridici in modo errato, ma in essenza ha presentato correttamente la situazione giuridica. Il Consiglio della stampa ha pertanto respinto integralmente il reclamo.

I. Sachverhalt

A. Am 3. August 2024 veröffentlichte «watson.ch» einen Kommentar von Aylin Erol mit dem Titel «An Yannick Buttets Karriere-Aus ist niemand anderes schuld als er selbst». Erol bezieht sich darin auf den Rücktritt des ehemaligen CVP-Nationalrats Yannick Buttet als Präsident von Wallis Tourismus. Darin schreibt sie: «Der ehemalige CVP-Nationalrat und zweifach verurteilte Sexualstraftäter wäre indirekt Chef seines ehemaligen Opfers geworden. Dagegen wehrten sich in den letzten Wochen im Wallis und in der ganzen Schweiz tausende Frauen. Erfolgreich.» Bei Buttet gebe es keine Zweifel an seiner Schuld, zumal er 2018 wegen Nötigung und 2021 wegen sexueller Belästigung verurteilt worden sei. «Yannick Buttet ist also nicht nur ganz offiziell und vom Gericht bestätigt ein Sexualstraftäter. Er ist Wiederholungssexualstraftäter.» Es sei zudem «wahrscheinlich, dass Buttet weitere Male die Grenzen von Frauen überschritten hat, ohne verurteilt zu werden». Dies liessen anonyme Berichte von Parlamentarierinnen nach Buttets Rücktritt aus dem Nationalrat vermuten. «Und es besteht das Risiko, dass er es wieder tun wird.» Weiter schreibt Erol: «Leuten wie Buttet keine Machtposition mehr zu geben, ist die einzig richtige und logische Konsequenz, die unsere Gesellschaft für Wiederholungssexualstraftäter zieht. Ziehen müsste.» Wallis Tourismus habe diesbezüglich versagt. Erol schreibt: «Lieber Walliser Tourismus-Boysclub. Ihr hättet euch nicht fragen sollen, ob Buttet nach Verbüssen einer Strafe das Recht hat, eine Machtposition inne zu haben. Ihr hättet euch fragen sollen, ob ihr euren Mitarbeiterinnen mit Buttet in dieser Position ein erhöhtes Risiko, am Arbeitsplatz sexuell belästigt zu werden, zumuten wollt! Indem ihr euch diese Frage nie gestellt habt, habt ihr sie indirekt mit ‹Ja› beantwortet. Deshalb hier ein letztes Mal zum Mitschreiben: Buttet ist Wiederholungssexualstraftäter.»

B. Am 28. Oktober 2024 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Kommentar von Aylin Erol ein. Es sei festzustellen, dass der Kommentar Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»), d. h. die Wahrheitspflicht, verletze. Zudem liege eine Verletzung von Richtlinie 5.1 (Berichtigungspflicht) vor. X. begründet seine Beschwerde wie folgt: Im Artikel werde gleich zweimal geschrieben, dass Buttet ein «zweifach verurteilter Sexualstraftäter» sei. Dazu falle der Begriff «Wiederholungssexualstraftäter» viermal. Weiter werde er einmal als «Wiederholungstäter» bezeichnet. Diese Bezeichnungen seien allesamt falsch. Buttet sei nur einmal wegen eines Sexualdelikts verurteilt worden. Nötigung sei hingegen kein Sexualdelikt. Dies sei keine journalistische Ungenauigkeit, da der Begriff «Wiederholungstäter» zentral sei für das Narrativ des Artikels. Es könne auch nicht ohne Belege davon ausgegangen werden, dass Buttet nach der Verurteilung wegen sexueller Belästigung weitere Sexualdelikte begangen habe. Zum Straftäter werde jemand nicht durch anonyme Anschuldigungen, sondern durch die gerichtliche Klärung des Sachverhalts. Insofern verletze der Kommentar auch Richtlinie 7.4 (Unschuldsvermutung) zur «Erklärung».

C. Am 7. Februar 2025 nahm Nadine Sommerhalder, Chefredaktorin Deutschschweiz von «watson.ch», Stellung zur Beschwerde. Die Anforderungen an die Wahrheitspflicht seien bei der journalistischen Gattung des Kommentars tiefer anzusetzen als in der Gattung der Berichterstattung. Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung» sei nicht verletzt, die Verurteilung von 2018 wegen Nötigung dürfe zwar nicht formaljuristisch, aber semiotisch als Sexualdelikt im Sinne «sexualisierter Gewalt» bezeichnet werden, ohne eine Unwahrheit zu verbreiten. Die sexualisierte Gewalt habe in Form von Übergriffigkeit gegen eine nichtkonsensuale, ehemalige Sexualpartnerin bestanden. Insofern könne auch Richtlinie 5.1 (Berichtigungspflicht) nicht verletzt worden sein, da es keine Unwahrheit zu berichtigen gebe. Die Richtlinie 7.4 (Unschuldsvermutung) sei ebenfalls nicht verletzt, da bei rechtskräftigen Verurteilungen nicht von «mutmasslichen» Taten gesprochen oder die Unschuldsvermutung explizit ausformuliert sein müsse. Die Beschwerde sei in allen Punkten abzuweisen.

D. Das Präsidium des Presserates wies die Beschwerde der 3. Kammer zu. Ihr gehören Jan Grüebler (Kammerpräsident), Annika Bangerter, Lena Berger, Dennis Bühler, Monika Dommann, Andri Rostetter und Hilary von Arx an.

E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 11. März 2025 und auf dem Korrespondenzweg.

 

II. Erwägungen

1. Journalistinnen und Journalisten sind aufgrund von Ziffer 2 der «Erklärung» dazu verpflichtet, die Freiheit des Kommentars zu verteidigen. Auch der Kommentarfreiheit sind berufsethische Grenzen gesetzt, die Fakten sind zu respektieren (vgl. die Stellungnahmen 27/2001 und 48/2022). Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) zur «Erklärung» verpflichtet den Berufsstand dazu, darauf zu achten, dass das Publikum zwischen Fakten und kommentierenden, kritisierenden Einschätzungen unterscheiden kann. Gemäss ständiger Praxis des Presserats ist dem Kommentar innerhalb dieser Schranken ein grosser Freiraum bezüglich Tonalität einzuräumen. Auch polemische, harsche Werturteile sind als Kommentare zulässig (vgl. Stellungnahme 22/2012). Im vorliegenden Fall geht es insbesondere um die Frage, ob und wie weit eine Autorin in einem Kommentar juristische Begriffe in einem polemischen Sinn verfremden und verfälschen darf.

Der Presserat rät grundsätzlich auch in Kommentaren zu besonderer Vorsicht im Umgang mit juristischen Begriffen. Der Spielraum für Interpretationen ist begrenzt. Die Autorin reizt mit ihrer Begriffswahl die Grenze zur Falschdarstellung aus. Sie benennt allerdings den juristischen Sachverhalt an der entscheidenden Stelle korrekt, d. h. die beiden Verurteilungen wegen Nötigung einerseits sowie sexueller Belästigung andererseits. Für das Publikum sind diese damit als einzelne, gegeneinander abgegrenzte Taten erkennbar. Somit wird deutlich, dass die Begriffe «Wiederholungstäter» und «Wiederholungssexualstraftäter» sowie die Begriffskombination «zweifach verurteilte[r] Sexualstraftäter» nicht in einem juristischen, sondern in einem umgangssprachlichen Sinn verwendet werden, zumal die Nötigung im Kontext einer Liebesbeziehung begangen wurde. Der Presserat stellt deshalb keine Verletzung der Wahrheitspflicht fest. Ziffer 1 der «Erklärung» ist damit nicht verletzt. Damit kommt auch Richtlinie 5.1 (Berichtigungspflicht) nicht zur Anwendung.

2. Durch die Verwendung der Begriffe «Wiederholungstäter» und «Wiederholungssexualstraftäter» wird die Unschuldsvermutung nicht verletzt. Der Wortteil «Wiederholungs-» bezieht sich nicht auf Taten, die Buttet allenfalls begangen hat, für die er jedoch nicht verurteilt wurde, sondern auf die beiden Taten, die gerichtlich festgestellt wurden (Nötigung und sexuelle Belästigung). Der Presserat stellt deshalb keine Verletzung von Richtlinie 7.4 (Unschuldsvermutung) fest.

 

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. «watson.ch» hat mit dem Kommentar vom 3. August 2024 «An Yannick Buttets Karriere-Aus ist niemand anderes schuld als er selbst» die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 5 (Berichtigungspflicht) und 7(Unschuldsvermutung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.