Nr. 16/2018
Fairness

Marty c. «Schweizerische Ärztezeitung» Stellungnahme des Schweizer Presserats vom 22. Mai 2018

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Zusammenfassung

Presserat für Fairness und Transparenz

Ärztezeitung behandelt Gastautor unfair
Der Leiter Gesundheitspolitik von Economie Suisse verfasste eine Gastkolumne in der «Schweizerische Ärztezeitung»; ihr Titel: «Wirtschaft bringt Gesundheit». Die Redaktion empfand den Beitrag als simplifizierend und konnte sich nur knapp dazu durchringen, ihn abzudrucken.
Deshalb beschloss die Redaktion, den Beitrag mit einem «Chapeau» zu versehen, also einem kurzen einführenden Text. Darin strich sie ihre Vorbehalte heraus und empfahl einen Gegenbeitrag in der gleichen Ausgabe zur Lektüre.
Das Problem beim Ganzen: Der Vertreter von Economie Suisse wurde über die Vorbehalte und flankierenden Massnahmen nicht informiert; ja er hatte das vorbehaltlose «Gut zum Druck» des Ärzteblatts erhalten.
Dies wertete der Schweizer Presserat als Verletzung des Fairnessprinzips im Journalistenkodex, nach dem sich Medienschaffende auszurichten haben. Deshalb hat er die Beschwerde des Gastautors gutgeheissen.

Résumé

Le Conseil de la presse défend l’équité et la transparence

Le Bulletin des médecins suisses manque d’équité envers un auteur invité
Le responsable de la politique de la santé chez economiesuisse a signé une tribune – en allemand – dans le «Bulletin des médecins suisses», intitulée: «Wirtschaft bringt Gesundheit» (l’économie et la santé vont de pair). La rédaction a jugé son texte simplificateur et ne s’est résolue qu’à grand-peine à le publier.
C’est pourquoi elle a accompagné la tribune d’un «chapeau», c’est-à-dire d’un bref texte introductif. Elle y évoquait ses réserves et recommandait la lecture d’un commentaire critique publié dans le même numéro.
Problème: le représentant d’economiesuisse n’a été informé ni des réserves ni des mesures prises en parallèle; il a reçu le «bon à tirer» du bulletin sans réserve.
Le Conseil suisse de la presse estime qu’il y a là une atteinte au principe d’équité du code de déontologie des journalistes, auquel toute personne travaillant pour un média doit se tenir. Il accepte donc la plainte de l’auteur invité.

Riassunto

Il Consiglio della stampa per rapporti corretti

Trattar bene chi scrive al giornale!
Il responsabile della politica sanitaria di «Economie Suisse» aveva mandato alla «Schweizerische Ärztezeitung» un testo intitolato «L’economia produce salute» (Wirtschaft bringt Gesundheit). Ritenendolo eccessivamente semplificatorio, la redazione accettò a malapena di pubblicarlo. Inoltre, ci mise un cappello redazionale e alla fine indicò all’pubblico un testo di riferimento. Di tutti questi interventi l’autore non fu informato, neanche quando gli fu mandata una bozza per il «buono stampa». Il Consiglio della stampa ha accolto un reclamo dell’autore dello scritto, ritenendo il modo di agire della redazione contrario al principio di correttezza («fairness»).

I. Sachverhalt

A. Am 27. September 2017 veröffentlichte die «Schweizerische Ärztezeitung» (SÄZ) einen Artikel von Fridolin Marty, Leiter Gesundheitspolitik von economiesuisse zum Thema «Wirtschaft bringt Gesundheit». Der Chefredaktor der SÄZ, Bruno Kesseli, stellte diesem Artikel einen «Chapeau» voran, in dem er betont, die SÄZ verstehe sich als Diskussionsforum «unter der Prämisse grösstmöglicher Offenheit»; allerdings habe sich die Redaktion nach intensiver Diskussion nur knapp dazu durchringen können, den Text zu publizieren. Denn er enthalte Simplifizierungen, die «einer vertieften Analyse» nicht standhielten. Zudem werde im Artikel nicht zwischen «Assoziation und Kausalität» unterschieden, was falsche Schlussfolgerungen begünstige. Darum habe man in der gleichen Ausgabe auch noch einen kommentierenden Beitrag abgedruckt, dessen Lektüre der Leserschaft «wärmstens empfohlen» werde.

B. Am 22. November 2017 reichte Fridolin Marty dem Schweizer Presserat eine Beschwerde gegen die SÄZ ein; Hauptbegründung: der angefügte Chapeau, von dem er ebenso wenig etwas erfahren habe wie von den grundsätzlichen Vorbehalten der Redaktion gegen seinen Text. Wenn er vom Chapeau gewusst hätte, hätte er seinen Text nicht publizieren lassen. Er fühle sich von der Redaktion hintergangen; dass beim «Gut zum Druck» der Chapeau gefehlt habe, finde er besonders perfid.

Der Beschwerdeführer weist darauf hin, dass das Vorgehen der SÄZ keine Bestimmung der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» bzw. der zugehörigen Richtlinien verletze; hingegen stütze sich seine Beschwerde auf den Grundsatz der Fairness, wie er in der Präambel des Kodex für Journalisten festgeschrieben sei.

C. Am 2. Januar 2018 antwortete SÄZ-Chefredaktor Bruno Kesseli auf die Beschwerde von Fridolin Marty. Er erläutert einleitend einige zentrale Punkte des publizistischen Konzepts und der redaktionellen Arbeitsweise der Ärztezeitung. Er weist darauf hin, dass Marty mit seinem Beitrag auf einen Artikel reagiert habe, in dem die «Wirtschaft frontal angegriffen» worden sei. Dabei habe er gewünscht, dass sein Artikel nicht als Leserbrief erscheine, sondern im Ressort «Tribüne» abgedruckt werde.

Den Redaktionsmitgliedern würden die «Tribüne»-Artikel jeweils zur Stellungnahme unterbreitet, ohne dass sie verpflichtet wären, zu jedem Artikel Stellung zu beziehen. Dabei sei es wichtig zu wissen, dass ein Grossteil der Artikel in der Zeitschrift durch «Spontaneinreichungen» zustande komme. Um angesichts dieser Heterogenität trotzdem eine gewisse Linie bewahren zu können, habe man die Möglichkeit, zum Beispiel in der redaktionellen Kolumne «Zu guter Letzt», angenommene Artikel zu kommentieren.

Im Falle von Martys Artikel habe die Redaktion «übereinstimmend kritisch» reagiert. Die wesentlichen Kritikpunkte seien im «Chapeau» aufgeführt und auch im Beitrag von Redaktorin Anna Sax – ebenfalls zum Thema Wirtschaft und Gesundheit. Dass man Martys Artikel überhaupt publiziert habe, sei einerseits dadurch zu erklären, dass man eine offene Diskussionskultur pflege und Marty ein führender Vertreter eines wichtigen Wirtschaftsverbandes sei; andererseits ermögliche er Leserinnen und Lesern «Zugang zu verschiedenen Optiken auf eine unbestrittenermassen wichtige Thematik». Weil der Artikel von Anna Sax am Schluss der Ausgabe stehe, habe man mit dem «Chapeau» vor dem umstrittenen Marty-Text den Zusammenhang herstellen müssen.

Die Redaktion habe Marty über den Chapeau nicht informiert, weil es sich bei diesem nicht um einen Bestandteil seines Artikels handle. Er habe ihn folglich «weder gutzuheissen noch zu korrigieren» gehabt. Er, Kesseli, verstehe zwar Martys harsche Reaktion; dennoch bleibe er bei seiner Meinung, eine Redaktion dürfe Artikel kommentieren, ohne die Autoren vorgängig darüber zu informieren.

D. Das Präsidium des Presserates wies den Fall der 3. Kammer zu, der Max Trossmann (Präsident), Marianne Biber, Jan Grüebler, Barbara Hintermann, Seraina Kobler und Markus Locher angehören.

E. Die 3. Kammer des Presserates behandelt die Beschwerde in ihrer Sitzung vom 19. April 2018 und auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Der Presserat hat im vorliegenden Fall nicht die Aufgabe, auf den Artikel von Fridolin Marty und den Text von Anna Sax einzugehen. Gegenstand der Auseinandersetzung ist lediglich die Frage, ob die Redaktion der Ärztezeitung unfair gehandelt hat, indem sie den Autor darüber im Unklaren liess, in welchem Setting sein Artikel erscheinen würde. Insbesondere muss sich der Presserat fragen, ob hier medienethische Grundsätze tangiert oder verletzt worden sind.

2. Der Presserat hat sich immer wieder dafür ausgesprochen, dass – sowohl im Printbereich wie Online – Leserinnen und Leser ihre Meinung zum Ausdruck bringen können. Er hat dabei eine möglichst grosse Freiheit der Schreibenden angemahnt (zuletzt in den Entscheiden 50/2017 und 52/2017).

3. Die Rubrik «Tribüne Standpunkt» in der SÄZ ist ebenfalls als ein offenes Forum mit Gastbeiträgen zu verstehen; Gastbeiträge müssen sich ausdrücklich nicht mit der Meinung der Redaktion decken. Eine Bevormundung der Leserinnen und Leser, wie sie im «Chapeau» zum Artikel von Marty zum Ausdruck kommt, ist darum wohl überflüssig.

4. Entsprechend ihren «Autorenrichtlinien» hat die SÄZ dem Autor bestätigt, sein Artikel sei «Gut zum Druck». Spätestens jetzt hätte die Ärztezeitung ihren Gastautor über ihre im «Chapeau» formulierten generellen Vorbehalte gegenüber seinem Beitrag orientieren müssen. Indem die Redaktion das unterliess, hat sie das Fairnessprinzip verletzt, wie es in der Präambel der «Erklärung» postuliert wird.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. Die «Schweizerische Ärztezeitung» hat mit dem «Chapeau» zum Artikel «Wirtschaft bringt Gesundheit» von Fridolin Marty das in der Präambel zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» stipulierte Fairnessgebot verletzt.