Nr. 15/2025
Wahrheit / Quellenbearbeitung / Anhörung bei schweren Vorwürfen

(Verein Demokratie und Dialog c. «20 minuti» und «tio.ch»)

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I. Sachverhalt

A. Am 27. Dezember 2023 erschien auf dem Online-Newsportal «tio.ch» ein kurzer Text mit dem Titel «‹Israele ha rubato organi da 80 cadaveri palestinesi›» (Israel hat Organe von achtzig Palästinensern gestohlen). Als Quelle wird die SDA genannt («Fonte Ats ans»), weiter: «Elaborata da Redazione». Der Untertitel erklärt, laut palästinensischen Behörden sei dies nicht das erste Mal, dass Israel ein derartiges Verbrechen begangen habe. Die Pressestelle der Hamas wird im Lauftext zitiert: «Die Untersuchung der Leichen zeigt deutlich, dass die israelische Besatzung (die Leichen) ihrer lebenswichtigen Organe beraubt hat.» Weiter behaupte die gleiche Quelle, dies sei nicht das erste Mal, dass Israel Leichen von Palästinensern verstümmle, sie verlange eine internationale Untersuchung. Israelische Medien sprächen umgekehrt von achtzig im Gazastreifen getöteten Palästinensern, die zurückgebracht und in einem Massengrab in Rafah beigesetzt worden seien. Diese seien zuvor nach Israel gebracht worden, um zu überprüfen, dass sich keine Geiseln unter ihnen befänden.

Am 28. Dezember 2023 veröffentlichte «20 minuti» einen Text, gezeichnet von «ES», mit dem Titel «Hamas accusa Israele di traffico di organi» (Hamas beschuldigt Israel des Organhandels). Darin wird berichtet, laut der Hamas habe eine Untersuchung von Leichen, die am Vortag von den Israelis an die Palästinenser übergeben worden seien, ergeben, dass ihnen Organe entnommen worden seien. Damit seien die Toten ihrer Würde beraubt worden. Die Vorwürfe seien – so der Artikel weiter wörtlich – «beschrieben in einem Bericht, der vor einem Monat von einem ‹Euro-Med Human Rights Monitor› veröffentlicht worden ist, einer unabhängigen Organisation mit Sitz in Genf, welche die israelische Praxis gegenüber der palästinensischen Bevölkerung seit Jahren anprangert». Diese habe dokumentiert, dass die israelische Armee Dutzende Leichen aus dem Al-Shifa-Krankenhaus und anderen Spitälern beschlagnahmt habe. Auch seien zehn Leichen einem Massengrab entnommen worden. Weiter heisst es, die Vorwürfe stützten sich vor allem auf Berichte von Ärzten, die nach der Entgegennahme der Leichen festgestellt hätten, dass bei diesen Herzen, Lungen, Lebern und Hörorgane gefehlt hätten. Die Ärzte hätten angegeben, sie hätten die Leichen nicht genauer analysieren können, da ihre Krankenhäuser unter ständigem Beschuss durch die Israelis gelegen hätten. In einem früheren Bericht von «Euro-Med Human Rights Monitor» sei darauf hingewiesen worden, dass Israel Dutzende Leichen in speziellen Kühllagern aufbewahrt habe, um ihre Körper intakt zu halten.


B.
Am 15. Februar 2024 reichte der anwaltlich vertretene «Verein Demokratie und Dialog» Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, die beiden Artikel verletzten die Ziffern 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen, Anhören bei schweren Vorwürfen) und allenfalls 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»).

Zur Begründung verweist der Verein auf den Wortlaut von Ziffer 1 der «Erklärung», welche Medienschaffende auf die Wahrheit verpflichtet, sowie auf denjenigen von Ziffer 3 der «Erklärung», welche sie verpflichtet, nur Informationen, Dokumente, Bilder und Töne zu verwenden, deren Quellen ihnen bekannt sind. Weiter dürfen sie keine wichtigen Elemente unterschlagen. Im Weiteren verweist der Beschwerdeführer auf die zur «Erklärung» gehörende Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung), welche die Überprüfung einer Information auf ihre Glaubwürdigkeit voraussetzt sowie auf Richtlinie 3.8, welche verlangt, dass bei schweren Vorwürfen die Gegenseite angehört werden muss.

Im vorliegenden Fall werde Israel die Entnahme von Organen vorgeworfen, dies von der fragwürdigen Quelle «Hamas», welche in verschiedenen Ländern als Terrororganisation eingestuft werde. Der Beschwerdeführer weist darauf hin, dass diese Quelle im Artikel von «tio.ch» zweimal, von «20 minuti» ebenfalls zweimal erwähnt worden sei. Bei «tio.ch» sei von den vier Absätzen erst im vierten von der israelischen Seite die Rede, nicht von der offiziellen, der Regierungsseite, sondern nur von israelischen Medien und auch dort nur von achtzig in Gaza getöteten Palästinensern, die darauf untersucht worden seien, ob es sich um israelische Geiseln handle. Das offizielle Israel hätte – so die Beschwerde – zu verschiedenen Vorwürfen Stellung nehmen können müssen. Etwa zu den Themen Entnahme von Organen, Organhandel, Opfer der Würde berauben und weiteren. Zu den Elementen bei «20 minuti», welche sich auf die Nicht-Regierungsorganisation «Euro-Med Human Rights» beziehen, erklärt der Beschwerdeführer, hier handle es sich um die Organisation eines führenden Antisemiten und führt dazu verschiedene Verweise an.

Abschliessend wird festgehalten, dass kein anderes Schweizer Medium auf diese Kriegspropaganda der Hamas hereingefallen sei. Der Vorwurf der illegalen Organentnahme als Legende tauche schon seit Jahren immer wieder auf, er gehe zurück auf mittelalterliche antisemitische Stereotype von Juden, welche das Blut von Christen für rituelle Zwecke benutzt haben sollen.

C.
Mit Beschwerdeantwort vom 25. April 2024 beantragten der Direktor und der Chefredaktor von «tio.ch» und «20 minuti», die Beschwerde sei abzuweisen. Zur Begründung verweisen sie darauf, dass der Artikel von der Nachrichtenagentur SDA gekommen sei, also von einer seriösen und vertrauenswürdigen Quelle, auf die sich alle Schweizer Medien verliessen. Die von dieser im Text zitierten Quellen seien alle im eigenen Artikel ebenfalls erwähnt worden. Im Text der SDA sei nichts als wahr dargestellt worden, sondern es seien sowohl die Pressestelle der Regierung im Gaza-Streifen, als auch diejenige auf israelischer Seite, sowie israelische Medien zitiert worden.

Im Übrigen sei bekannt, dass die Medien in derartigen Kriegssituationen mit Informationen regelrecht bombardiert würden. Dabei sei es das Anliegen der Redaktion, allen Quellen Platz zu bieten und auch über das zu berichten, was lokale Nachrichtenagenturen, lokale Medien, Nichtregierungsorganisationen vermelden, wobei immer darauf geachtet werde, dass ein unparteiischer und objektiver Zugang bei der Ausarbeitung des Artikels gewählt werde. Man berichte durchaus über offizielle Stellungnahmen und vermeide suggestive Meinungen. Es sei im Übrigen nicht das Bestreben, alle Facetten eines Konflikts abzubilden.

Weiter weisen die Beschwerdegegner den Vorwurf zurück, sie seien die Einzigen gewesen, welche die Meldung der SDA übernommen hätten. Dies hätten verschiedene nationale und internationale Informationsmedien getan. Als Beleg reichen sie eine Liste von Links ein, welche vom «Corriere del Ticino» über «Swissinfo» und «Euronews» bis zum «Corriere della Sera», dem «Spiegel» und zur «Frankfurter Rundschau» reicht. In diesem Sinne hätte die Beschwerde weitere Medien einbeziehen sollen, neben der SDA auch alle Schweizer Medien, welche die Nachricht verbreitet hätten.

D.
Am 16. Mai 2024 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.


E.
Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 27. April 2025 verabschiedet.

II. Erwägungen


1.
Zum Eintreten: Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein. «tio.ch» und «20 minuti» machen zwar geltend, eigentlich müssten auch Keystone-SDA und alle Schweizer Medien einbezogen werden, welche gestützt auf den gleichen Text von Keystone-SDA berichtet hätten. Nur kann der Presserat die Keystone-SDA ebenso wenig wie andere Medien einbeziehen, weil sie in der Beschwerde nicht angeführt wurden. Sie sind nicht Partei im vorliegenden Verfahren. Hinzu kommt, dass die Stellungnahme von «tio.ch/20 minuti» immer nur zu einem Text argumentiert, es hier aber um zwei in wesentlichen Teilen unterschiedliche Texte geht. Das spielt insofern eine Rolle, als im Text von «20 minuti» in zwei Passagen von Verlautbarungen des «Euro-Med Human Rights Monitor» die Rede ist, welche aber zeitlich und inhaltlich nicht in den Ablauf der beschriebenen Ereignisse zu passen scheinen (Übergabe der Leichen und Entdeckung der Verstümmelung am Vortag der Veröffentlichung des Textes, dann aber: diese Organentnahme sei bereits beschrieben in einer Dokumentation von «Euro-Med Human Rights Monitor» vor einem halben Jahr).

2. a) Zum Inhaltlichen: Was den Vorwurf der mangelnden Quellenprüfung (Ziffer 3 der «Erklärung», Richtlinie 3.1) betrifft, weist die Beschwerdegegnerin «tio.ch» darauf hin, sie habe sich in ihrer Arbeit auf den Text einer allseits anerkannten Nachrichtenagentur gestützt. Die von der Keystone-SDA benannten Quellen seien auch in ihrem Artikel allesamt erwähnt worden.

Es entspricht konstanter Praxis des Presserats, dass Texte professioneller Nachrichtenagenturen übernommen werden dürfen, ohne dass man sie nachprüfen muss. Zitat aus Stellungnahme 18/2019: «Richtlinie 3.1 verlangt als Teil der journalistischen Sorgfaltspflicht die Überprüfung der Quelle und ihrer Glaubwürdigkeit. Diese Überprüfung entfällt laut ständiger Praxis des Presserats, wenn es sich um eine anerkannte, professionell arbeitende Nachrichtenagentur handelt.» Dasselbe hat in diesem Fall zu gelten: «tio.ch» hat sich explizit auf die «SDA/ats» als Quelle bezogen. Dieser Text verletzt die Richtlinie 3.1 nicht.

b)
Der Text von «20 minuti» hingegen nennt nur «ES» als verantwortlich für den Inhalt. Der Beschwerdeführer macht geltend, «20 minuti» beziehe sich darin – neben der Hamas als Quelle – auf die Nicht-Regierungsorganisation «Euro-Med Human Rights». Diese Organisation werde von einem führenden Antisemiten angeführt, was die verschiedenen Verweise auf kritische Beurteilungen belegen würden. Jeder Journalist und jede Journalistin müsse sich die Frage stellen, wer diese Nichtregierungsorganisation sei und wer dahinterstehe.

Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung) verlangt als Teil der journalistischen Sorgfaltspflicht die Überprüfung der Quelle einer Information und ihrer Glaubwürdigkeit. Die Quelle wird seitens der Redaktion «20 minuti» als glaubwürdig eingeordnet mit der Umschreibung «nichtstaatliche, unabhängige Organisation». Zusätzlich wird erwähnt, dass diese Organisation schon «seit Jahren die gegen die palästinensische Bevölkerung gerichtete israelische Praxis anprangert». Ihre Haltung in diesem Konflikt wird damit grob transparent gemacht. Ob die ganze Organisation «Euro-Med Human Rights», wie vom Beschwerdeführer geltend gemacht, als antisemitisch einzustufen ist, weil deren führender Kopf von verschiedenen Medien so eingestuft wird, ist für den Presserat nicht schlüssig zu beantworten, er muss diese Frage offenlassen. Eine Verletzung von Richtlinie 3.1 ist nicht festgestellt.

3.
Der Beschwerdeführer führt weiter aus, dass es hier um «schwere Vorwürfe» im Sinne der Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) gehe, welche eine Stellungnahme der betroffenen Partei erfordert hätten. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Zwar hat «tio.ch» die Intention der israelischen Seite beim fraglichen Leichenaustausch durchaus angeführt. Israel habe die Leichen beschlagnahmt, um festzustellen, ob es sich allenfalls um ermordete israelische Geiseln gehandelt habe. Die Haltung der israelischen Seite zum schweren Vorwurf der Organentnahme fehlt aber. Und im Text von «20 minuti» fehlt beides. Zwar muss nicht in jedem Bericht über einen Konflikt in jedem Fall jeder schwere Vorwurf wieder mit der Gegenposition versehen werden. Wo die Positionen allgemein bekannt sind, ist dies nicht erforderlich. Hier aber geht es um neue, schwere Vorwürfe, zu welchen die israelische Haltung, egal ob seitens der Regierung oder anderer Quellen, hätte angeführt werden müssen.

Im Falle von «tio.ch», welches die SDA-Meldung übernommen hat, wäre dies allenfalls der Agentur vorzuwerfen, aber nicht ihrer Kundin, «tio.ch». Im Falle von «20 minuti», welches sich nicht auf die Agentur bezieht und den Text weitgehend oder ganz selber verfasst hat, liegt die Verantwortung bei der Redaktion. Diese hat die Richtlinie 3.8 verletzt.

4.
Zum Thema Wahrheit (Ziffer 1 der «Erklärung», Richtlinie 1.1): Grundsätzlich erfüllt die Übernahme des Textes einer professionellen Agentur die Anforderung an die Richtigkeit, die Wahrheit eines Inhalts. Allerdings nur bezogen auf die übernommenen Teile. Der Titel von «20 minuti»: «Hamas accusa Israele di traffico di organi» war inhaltlich insofern korrekt gesetzt, als er gleich zu Anfang die wenig glaubwürdige Quelle, Hamas, für die folgenden Behauptungen genannt hat. Die Wahrheitspflicht ist somit nicht verletzt.

Der Titel von «tio.ch»: «‹Israele ha rubato organi da 80 cadaveri palestinesi›» nennt hingegen die notorisch unzuverlässige Quelle «Hamas» nicht. Er stellt den Vorgang als reine Tatsache dar. Er ist zwar mit Anführungs- und Schlusszeichen versehen. Und die Quelle «Hamas» wird gleich im nachfolgenden Lead nachgeliefert. Der Presserat lässt dies dann gelten, wenn ein Titel zwar zugespitzt ist, im Lead dann jedoch gleich relativiert wird. Das ist hier nicht der Fall: Im Wortlaut lautet der Lead: «Stando alle autorità palestinesi non è la prima volta che lsraele commette un crimine del genere». Hier wird also die Quelle genannt und hinzugefügt, dass es nicht das erste Mal sei, dass Israel ein solches Verbrechen begehe. Damit wird die Schlagzeile nicht relativiert, wie das erforderlich wäre, sondern es wird – aufbauend auf der Schlagzeile – eine weitere, ergänzende belastende Information angeführt. Die Pflicht, sich an die Wahrheit zu halten (Ziffer 1 der «Erklärung»), ist damit verletzt. Hinzu kommt: Auch einem flüchtig Lesenden müsste auffallen, dass Organe von Menschen, die schon begraben waren, nicht gehandelt werden können.

5.
Das Ergebnis der Prüfung dieser Beschwerde ist nicht in allen Punkten befriedigend. Das liegt daran, dass die Hauptbeteiligte Keystone-SDA und der genaue Text der zugrundeliegenden Meldung(en) nicht Teil des Verfahrens sind. Weiter daran, dass der Presserat etwa die im zeitlichen Ablauf unerklärlichen Einschübe im Text von «20minuti», wonach Einzelheiten zu den am Vortag übergebenen Leichen in einem einen Monat früher veröffentlichten Bericht einer Nichtregierungsorganisation enthalten gewesen sein sollen, nicht nachvollziehen kann, weil die Beschwerdegegnerin gar nicht auf die entsprechenden Vorhaltungen eingeht.


III. Feststellungen

1. Der Presserat heisst die Beschwerde gegen «tio.ch» teilweise gut.

2.
«tio.ch» hat mit dem Titel «‹Israele ha rubato organi da 80 cadaveri palestinesi›» vom 27. Dezember 2023 die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.

3.
Der Presserat heisst die Beschwerde gegen «20minuti» teilweise gut.

4. «20minuti» hat mit dem Beitrag «Hamas accusa Israele di traffico di organi» vom 28. Dezember 2023 die Ziffer 3 der «Erklärung» (Anhörung bei schweren Vorwürfen) verletzt. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.