Nr. 15/2020
Wahrheitspflicht / Kommentar

(X. c. «Berner Zeitung»)

Drucken

I. Sachverhalt

A. Am 7. April 2019 veröffentlichte die «Berner Zeitung» (BZ) den Onlinebeitrag «Verschont mich bitte mit Michael Jackson» von Andreas Kunz. Der Lead lautet «Unser Autor kann die Musik des Superstars nicht hören, ohne die Bilder der missbrauchten Kinder zu sehen». Der Artikel setzt sich mit einer tags zuvor auch auf Fernsehen SRF ausgestrahlten Dokumentation über den Kindsmissbrauch von Michael Jackson auseinander. Es sei die ewige Frage, die sich immer dann stelle, wenn ein Grosser als Pädophiler, Vergewaltiger, Antisemit oder als anderweitig verachtenswerter Mensch entlarvt werde. Kunz nennt neben Michael Jackson unter anderem als weitere Personen Woody Allen, Roman Polanski und Roger Waters und führt aus, solche Debatten seien meistens ebenso end- wie sinnlos, da Hardcore-Fans ihrem Idol auch einen Massenmord verzeihen würden. Die Frage nach der Trennung von Kunst und Künstler im Fall Jackson stelle sich gar nicht. Wer den Film gesehen habe, die grosse Glaubwürdigkeit der Opfer und ihrer Familien anerkenne und dabei selber mit einem einigermassen stabilen sexual-moralischen Koordinatensystem ausgestattet sei, werde nie wieder in seinem Leben ein Lied von Michael Jackson hören können, ohne dabei an die Bilder des Missbrauchs denken zu müssen. Der Autor macht sodann weitere Ausführungen zu den konkreten Anschuldigungen gegen Michael Jackson und erklärt in einem letzten Satz, dass Radios weiterhin Jackson spielen dürften, jedoch damit rechnen müssten, dass die Hörer dies als Zumutung empfänden und den Sender wechselten.

Der Meinungsbeitrag war gleichentags und ursprünglich auf der Seite «Standpunkte» der «SonntagsZeitung» erschienen, deren Redaktionsleiter Autor Andreas Kunz ist. Die Seite versammelt jeweils Kommentare von Redaktorinnen und Redaktoren des Sonntagsblatts, externen Autoren und Kolumnen.

B. Am 14. April 2019 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel vom 7. April 2019 ein. Der Artikel verletze die Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche), 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen), 3.9 (Ausnahmen der Anhörungspflicht), 8.1 (Achtung der Menschenwürde) und 8.2 (Diskriminierungsverbot) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»). Die Wahrheitssuche und Informationstätigkeit stünden für den Autor offensichtlich nicht im Vordergrund. Fakten ignoriere er und suggeriere der Leserschaft, dass Michael Jackson nachweislich Kindsmissbrauch begangen habe. Der Autor missachte bewusst verfügbare und zugängliche Daten in diesem Zusammenhang und verletze dabei die Integrität von öffentlichen Dokumenten wie den Gerichtsbeschluss und den Ermittlungsbericht des FBI. Michael Jackson sei vom Vorwurf des Kindsmissbrauchs freigesprochen, Bill Cosby hingegen verurteilt worden. Andreas Kunz reihe «Freigesprochene» und «Verurteilte» in einem Satz auf, ohne dies für die Leserschaft zu unterscheiden und vermittle damit, Jackson und Cosby seien gleichzusetzen. Es werde keine differenzierte informative Berichterstattung angestrebt, da die Verurteilung und Verunglimpfung von Jackson im Vordergrund stehe.

Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, das Fairnessprinzip und das ethische Gebot der Anhörung beider Seiten seien missachtet worden. Die Ausnahmen gemäss Richtlinie 3.9 seien nicht anwendbar. Zudem sei die postmortale Menschenwürde von Michael Jackson verletzt, da er zu Lebzeiten vom Vorwurf des Kindsmissbrauchs freigesprochen worden sei. Weiter seien Fakten und Kommentar nicht getrennt; der Autor verbreite seine persönliche Meinung, der Kommentar sei als solcher nicht eindeutig erkennbar.

Gemäss X. werden alle Hardcore-Fans Jacksons eindeutig verleumdet. Kunz fälle ein negatives Werturteil, das führe zu Vorurteilen gegenüber Jacksons Fangemeinschaft. Seine Hardcore-Fans würden bewusst diskriminiert.

C. Am 14. Oktober 2019 nahm die Rechtskonsulentin der Tamedia namens der «Berner Zeitung» zur Beschwerde Stellung. Sie schliesst auf Abweisung. Zur Wahrheitspflicht führt sie aus, beim Kommentar habe es sich offensichtlich um einen Meinungsbeitrag des Journalisten gehandelt. Dieser habe sich auf die sehr ausführlichen und glaubwürdigen Zeugenaussagen im besagten Dokumentarfilm über Michael Jackson gestützt. Bereits der Titel «Verschont mich bitte mit Michael Jackson» zeige, dass der Artikel die Meinung des Autors wiedergebe. Ausserdem sei der Artikel in der BZ-Rubrik «Meinung» unter «Kommentare» erschienen und diese Einordnung sei für jeden Leser offensichtlich. Folglich sei es für den Leser bereits aufgrund dieser Einordnung offensichtlich, dass es sich um einen Kommentar und somit um die Meinung des Autors handle. Im Weiteren zeige die Tonalität des Artikels, dass es sich zweifellos um eine Meinungsäusserung handle, welche anlässlich des neu erschienenen Dokumentarfilms zu Jackson publiziert worden sei. Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) sei deshalb offensichtlich nicht verletzt. Der Vorwurf, dies sei nicht erkennbar, entbehre jeglicher Grundlage und der Beschwerdeführer begründe ihn zudem nicht weiter.

Zu den Vorwürfen gemäss den Richtlinien 3.8 und 3.9 zur «Erklärung» legt die BZ dar, Autor Kunz habe keine eigenen Vorwürfe erhoben, sondern lediglich den neuen Dokumentarfilm kommentiert und seine Meinung dazu abgegeben. Die Menschenwürde gemäss Richtlinie 8.1 sei ebenfalls nicht verletzt, da der Meinungsbeitrag des Autors deren hohe Hürde nicht annähernd erreiche. Selbst wenn sie erreicht wäre, wäre der Eingriff durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt. Die Dokumentation zu Michael Jackson sei nach der Ausstrahlung in aller Munde gewesen. Dass sich die «Berner Zeitung» dazu geäussert habe, habe zum öffentlichen Diskurs beigetragen. Auch den Vorwurf, Richtlinie 8.2 (Diskriminierungsverbot) sei verletzt, weist die BZ entschieden von sich, da bei Fans eines Musikers nicht von einer diskriminierten Minderheit gesprochen werden könne. Es sei absolut haltlos, in diesem Zusammenhang von einer Verletzung des Diskriminierungsverbots zu sprechen.

D. Am 1. November 2019 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 27. März 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Ziffer 1 der «Erklärung» verlangt von Journalistinnen und Journalisten, dass sie sich an die Wahrheit halten. Sie lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren. Journalisten achten darauf, dass das Publikum zwischen Fakten und kommentierenden, kritisierenden Einschätzungen unterscheiden kann (Richtlinie 2.3). Beschwerdeführer X. ist der Ansicht, die Wahrheitspflicht sei verletzt, weil der Artikel der Leserschaft suggeriere, es sei erwiesen, dass Michael Jackson nachweislich Kindsmissbrauch begangen habe. Dies, obwohl die amerikanische Justiz ihn freigesprochen habe. Die «Berner Zeitung» weist den Vorwurf zurück. Beim Kommentar handle es sich offensichtlich um einen Meinungsbeitrag des Autors, der in der Rubrik «Meinung» als «Kommentar» erschienen sei. Aus Sicht des Presserats ist weder die Wahrheitspflicht noch die Trennung von Fakten und Kommentaren verletzt, da klar ersichtlich ist, dass es sich beim Beitrag «Verschont mich bitte mit Michael Jackson» um einen Kommentar des Autors Andreas Kunz handelt. Der kurz zuvor erschienene Dokumentarfilm zu Jacksons Kindsmissbrauch erlaubt es Kunz, die Aussagen der Dokumentation als «wahr» zu beurteilen und dies als seine Meinung kundzutun und entsprechend zu kommentieren. Allerdings wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Autor in seinem Kommentar darauf hingewiesen hätte, dass Jackson nie von einem Gericht wegen Kindsmissbrauchs verurteilt worden ist.

2. Zweitens rügt der Beschwerdeführer, dass keine Anhörung bei schweren Vorwürfen stattgefunden habe. Aus dem Fairnessprinzip und dem ethischen Gebot der Anhörung beider Seiten leitet sich die Pflicht der Journalistinnen und Journalisten ab, Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören. Die zur Publikation vorgesehenen schweren Vorwürfe sind dabei präzis zu benennen. Den von den Vorwürfen Betroffenen muss nicht derselbe Umfang im Bericht zugestanden werden wie der Kritik. Aber ihre Stellungnahme ist im gleichen Medienbericht fair wiederzugeben (Richtlinie 3.8). Gemäss Richtlinie 3.9 ist die Anhörung ausnahmsweise verzichtbar bei schweren Vorwürfen, die sich auf öffentlich zugängliche amtliche Quellen stützen; wenn ein Vorwurf und die zugehörige Stellungnahme bereits früher öffentlich gemacht worden sind und zuletzt, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse dies rechtfertigt. Da es sich um einen Kommentar zu einem Dokumentarfilm handelt und der Autor keine eigenen Vorwürfe erhebt, sieht der Presserat weder Richtlinie 3.8 noch 3.9 zur «Erklärung» verletzt.

3. Die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Verletzungen von Richtlinie 8.1 (Menschenwürde) und 8.2 (Diskriminierung) entbehren jeglicher Grundlage, weshalb der Presserat nicht weiter darauf eingeht.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «Berner Zeitung» hat mit dem Kommentar «Verschont mich bitte mit Michael Jackson» vom 7. April 2019 weder die Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) noch 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen), 3.9 (Ausnahmen der Anhörungspflicht), 8.1 (Achtung der Menschenwürde) noch 8.2 (Diskriminierungsverbot) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.