I. Sachverhalt
A. Am 18. November 2023 veröffentlichte die «Appenzeller Zeitung» einen ausführlichen Leitartikel ihres Redaktionsleiters David Scarano mit dem Titel «Die Gemeindestrukturen gehen uns alle an». Darin setzt er sich mit dem auseinander, was er einleitend als «Ausserrhoder Jahrhundertabstimmung» bezeichnete. Er bezog sich damit auf den am folgenden Wochenende bevorstehenden Volksentscheid über die Möglichkeit, die Gemeindestrukturen im Kanton zu verändern, einzelne Dörfer und Weiler zusammenzulegen. Der Autor beschreibt die Probleme, welche sich den einzelnen Gemeinden derzeit stellen, wägt das Für und Wider der zur Abstimmung stehenden Varianten ab, betont, dass sich die «Appenzeller Zeitung» schon seit langem für die Reduktion der Zahl von Gemeinden eingesetzt habe und plädiert dafür, am folgenden Sonntag in diesem Sinne abzustimmen.
B. Am 29. Januar 2024 reichten X. und Y. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Sie machen geltend, der Artikel verletze die Richtlinie 9.1 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»). Sie begründen dies damit, dass die «Appenzeller Zeitung seit langem einseitig über diese Thematik berichtet habe. Angesichts eines Leitartikels müsse die Leserschaft aber davon ausgehen können, dass der Text unabhängig und frei von Interessenbindungen verfasst worden sei. Nur drei Tage nach der Abstimmung sei jedoch von der Ausserrhoder Regierung bekanntgegeben worden, dass der Autor als zukünftiger Leiter der kantonalen Kommunikation angestellt werde. Für die Leserschaft des Kommentars sei nicht transparent gewesen, dass zwischen dem Autor des Artikels und der Regierung des Kantons ein zukünftiges Arbeitsverhältnis im Raum gestanden habe. Damit sei die von Richtlinie 9.1 geforderte, für die Verteidigung der Pressefreiheit unabdingbare Unabhängigkeit in der Berichterstattung über ein wichtiges, von der Regierung propagiertes Anliegen nicht gewährleistet gewesen. Das habe gegen die «Erklärung» verstossen.
Im Weiteren äussern sich die Beschwerdeführer über den Umgang der «Appenzeller Zeitung» mit Leserbriefen, allerdings ohne eine verletzte Bestimmung zu nennen, oder einen Antrag zu stellen.
C. Mit Beschwerdeantwort vom 5. Juni 2024 nahm der Chefredaktor des «St. Galler Tagblatts», Stefan Schmid, der innerhalb der CH Regionalmedien AG für die «Appenzeller Zeitung» verantwortlich ist, zur Beschwerde Stellung. Er macht geltend, die eigentliche Wahl des Autors zum Kommunikationschef sei mit dem 28. November 2023 erst nach der Publikation des fraglichen Artikels erfolgt. Ab diesem Zeitpunkt sei Scarano zu Themen, welche die Regierung betrafen, immer in den Ausstand getreten. Im Bewerbungsverfahren für die Stelle als Kommunikationschef des Kantons sei die Berichterstattung über diese Abstimmung nie ein Thema gewesen. Die Position zum Thema Gemeindefusion, welche Scarano im Leitartikel vertreten habe, sei identisch mit derjenigen, für die er sich schon seit zehn Jahren eingesetzt habe, er habe in dieser Beziehung niemandem nachgegeben. Im Gegenteil sei es die Regierung gewesen, die sich im Laufe der Zeit der Position der «Appenzeller Zeitung» angeschlossen habe. Im Übrigen sei die Kritik unbegründet, wonach die «Appenzeller Zeitung» einseitig über dieses Thema informiert habe, man habe in der Abstimmungskampagne beiden Seiten viel Platz eingeräumt.
Was die Kritik der Beschwerdeführer am Umgang mit Leserbriefen angeht, verweist die Chefredaktion darauf, dass es keine Publikationspflicht bei Leserbriefen gebe, insbesondere nicht, wenn diese «inhaltlich unwürdig» abgefasst seien.
D. Das Präsidium des Presserats, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident und Ursina Wey, Geschäftsführerin, hat die vorliegende Stellungnahme am 27. April 2025 verabschiedet.
II. Erwägung
Es ist davon auszugehen, dass die Verhandlungen des Kantons mit dem Autor über die Stelle des Kommunikationschefs schon vor dem Verfassen des Leitartikels im Gang gewesen sein müssen. Wer aber weiss, dass er Kommunikationschef des Kantons wird, oder gerne werden würde, kann nicht gegen dessen wichtigstes («Jahrhundertabstimmung») Anliegen anschreiben. Es steht ausser Frage, dass die unabhängige Berichterstattung in dieser Situation nicht mehr möglich war. Die Richtlinie 9.1 der «Erklärung» ist damit verletzt. Dies gilt auch in diesem Fall, wo der Autor nichts anderes vertreten hat als die Position, die er schon seit zehn Jahren innehatte. Und dabei sogar einen durchaus regierungskritischen Aspekt ansprach. Diesbezüglich erscheint der Fall in seiner Auswirkung als nicht gravierend. Aber die Frage der Unabhängigkeit bemisst sich nicht danach, ob jemand unter Rücksichtnahme auf ein bestimmtes Interesse dessen Position übernimmt, sondern danach, ob der Text frei von Rücksichtnahmen hat entstehen können. Es geht also konkret nicht darum, ob der Autor auf einen Regierungskurs eingeschwenkt ist, sondern darum, ob er die Freiheit gehabt hätte, sich in dieser Frage gegen die Regierung zu stellen. Das wäre für den künftigen Kommunikationschef der Regierung nicht, oder jedenfalls kaum denkbar gewesen.
Dass der Autor ab dem Zeitpunkt der Wahl, 28. November 2023, in Fragen, welche die Regierung betrafen, in den Ausstand trat, war zweifellos richtig. Der angemessene Zeitpunkt wäre nach Auffassung des Presserates aber der Tag gewesen, da Autor und Regierung ernsthaft ins Gespräch über den allfälligen Stellenwechsel gekommen sind.
Dass der bevorstehende Stellenwechsel dem Publikum nicht bekannt war, wie die Beschwerdeführer kritisieren, ist im vorliegenden Zusammenhang nicht von entscheidender Bedeutung. Entscheidend ist vielmehr, dass ein Autor, eine Autorin, nicht publiziert auf Gebieten, in denen die Unabhängigkeit nicht, oder nicht mehr, gewährleistet ist.
Auf die Bemerkungen zu den Leserbriefen tritt der Presserat mangels Antrags nicht ein.
III. Feststellungen
1. Der Presserat heisst die Beschwerde gut.
2. Die «Appenzeller Zeitung» hat mit dem Leitartikel «Die Gemeindestrukturen gehen uns alle an» die Ziffer 9 (Unabhängigkeit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.