I. Sachverhalt
A. Am 28. März 2019 erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) ein Artikel gezeichnet von Joseph Croitoru unter dem Titel «Ein solches Geschichtsbild dulden wir nicht – eine polnische Kampagne gegen die Holocaust-Forschung». Darin schildert der Autor den Ablauf einer wissenschaftlichen Veranstaltung an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris. Diese hatte Aspekte des Holocaust in Polen zum Thema, insbesondere auch die Frage, welche Rolle polnische Bürger und Organisationen bei der Ermordung von Juden laut neuen historischen Erkenntnissen gespielt haben. Die Veranstaltung soll laut dem Artikel durch polnische Nationalisten im Vorfeld und während der Debatten massiv gestört worden sein.
B. Namens und im Auftrag von Botschafter Jakub Kumoch reichte der Chargé d’Affaires der Botschaft der Republik Polen in der Schweiz am 9. April eine als persönliche Eingabe gehaltene Beschwerde des Botschafters beim Schweizer Presserat ein und machte eine Verletzung der Ziffern 3 und 5 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») geltend. Die NZZ verstiess laut Beschwerdeführer Kumoch (im Folgenden BF) insbesondere gegen die zur «Erklärung» gehörenden Richtlinien 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 5.2 (Leserbriefe und Online-Kommentare).
Der BF macht geltend, die NZZ habe im fraglichen Artikel die Unwahrheit über ihn geschrieben und den Inhalt eines Buches über die Haltung Polens im Holocaust falsch zitiert. Darauf habe er in der NZZ replizieren wollen, was die Zeitung abgelehnt habe. Sie habe aber die Veröffentlichung eines Leserbriefes angeboten. Bei dessen Ausarbeitung habe man sich nicht über den Titel der Zuschrift einigen können. Da es schliesslich nicht zu einer Veröffentlichung gekommen sei, müsse eine «Verletzung des Rechtes auf Gegendarstellung/Replik, sowie das Recht, von der NZZ angehört zu werden» gerügt werden.
C. Am 27. Juni 2019 nahm Peter Rásonyi, Ressortleiter Ausland, namens der NZZ zur Beschwerde Stellung. Er beantragt eine vollumfängliche Ablehnung, soweit auf die Beschwerde überhaupt einzutreten sei.
Die NZZ macht geltend, es gebe kein Recht auf Replik und generell kein Recht auf den Abdruck von zugesandten Texten. Ein Gegendarstellungsbegehren gemäss Art. 28 ZGB sei nicht eingereicht worden.
Was die Behauptung angehe, die NZZ habe die Unwahrheit über den BF geschrieben, so sei dies in beiden angesprochenen Fällen nicht zutreffend, dies lasse sich mit den vom BF selber angerufenen Tweets belegen. Auch die Behauptung, der Autor des Artikels habe ein Buch falsch zitiert, sei nicht wahr.
Was die Veröffentlichung des Leserbriefes angeht, auf den man sich geeinigt hatte, habe die Redaktion das Recht, den Titel zu wählen. Abgesehen davon sage Richtlinie 5.2, dass die Redaktion auch das Recht habe, Leserbriefe zu kürzen, ausser der Autor bestehe auf der Veröffentlichung des integralen Textes. Dann sei es ihr aber erlaubt, eine Veröffentlichung abzulehnen. Genau das sei hier geschehen: Die Redaktion habe auf ihrem Titel beharrt, worauf der BF auf die Veröffentlichung des Leserbriefes von sich aus verzichtet habe.
Was den Vorwurf betreffe, von der NZZ nicht angehört worden zu sein, belege der beigelegte ausführliche Schriftwechsel zwischen der Botschaft und der NZZ, dass der BF sehr wohl gehört wurde. Dass dieser letztendlich auf die Veröffentlichung seiner Zuschrift verzichtet habe, sei seine eigene Entscheidung gewesen. Soweit der BF eine Verletzung von Richtlinie 3.8 rüge (Anhörung bei schweren Vorwürfen), sei er einerseits nicht Betroffener und damit nicht autorisiert und zum anderen gehe es bei den beiden Passagen nicht um einen «schweren» Vorwurf im Sinne der Praxis des Presserats.
D. Am 12. Juli 2019 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.
E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 27. März 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Die Beschwerde wurde fristgerecht eingereicht, auf sie ist einzutreten.
2. Zur Vorhaltung von Botschafter Kumoch, wonach die NZZ die Unwahrheit über ihn und über den Inhalt eines Buches geschrieben habe, steht zum einen Aussage gegen Aussage. Keine der beiden Seiten hat einen Beleg für ihre Position beigebracht. Der Presserat kann aufgrund der Aktenlage nicht darüber entscheiden. Er muss das – zum anderen – auch nicht, denn der Beschwerdeführer hat keinen Antrag in dieser Richtung (Verstoss gegen die Wahrheitspflicht, Ziffer 1 der «Erklärung») gestellt, er rügt nur Verletzungen der Richtlinien 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 5.2 (Leserbriefe und Online-Kommentare).
3. Was eine Verletzung von Richtlinie 3.8 (Pflicht zur Anhörung bei schweren Vorwürfen) betrifft, so ist der NZZ zuzustimmen: Selbst wenn man davon ausgeht, dass der BF mit einer Passage im Artikel betroffen war, kann von einem «schweren» Vorwurf im Sinne der Presseratspraxis (illegales oder vergleichbares Handeln) nicht die Rede sein. Eine Anhörungspflicht bestand nicht, Richtlinie 3.8 ist nicht verletzt.
4. Der Mailwechsel zwischen den Parteien zeigt, dass der BF insistiert hat, dass sein von ihm gewählter Titel über dem Leserbrief stehe, ansonsten er auf eine Veröffentlichung verzichte. Die NZZ hat ihn beim Wort genommen, ihrerseits auf ihrem Titel bestanden (was sie darf und was sie auch plausibel begründet hat) und ist auf weitere Begehren des BF nicht mehr eingetreten. Sie handelte damit im Rahmen der von Richtlinie 5.2 umschriebenen Befugnis. Sie muss einen Leserbrief nicht veröffentlichen, wenn der Autor auf der integralen Publikation beharrt. Anders als der Beschwerdeführer meint, gibt es in der «Erklärung» kein Recht auf Replik. Richtlinie 5.2 ist nicht verletzt.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen
2. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat mit dem Artikel «Ein solches Geschichtsbild dulden wir nicht …» vom 28. März 2019 und der Behandlung eines diesbezüglichen Leserbriefes die Ziffern 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 5 (Leserbriefe) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.