I. Sachverhalt
A. Am 11. April 2019 veröffentlichte die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ) einen Artikel mit dem Titel «Wie ich für drei Stunden zur Rassistin wurde». Der Lead lautet: «In Social-Justice-Seminaren sollen Menschen lernen, mit Alltagsrassismus umzugehen. Die Methoden für diesen Lernprozess sind mehr als fragwürdig.» Die Autorin Judith Basad reflektiert in diesem Artikel ihre Teilnahme an einem Social-Justice-Seminar im Helmhaus Zürich und nennt die beiden Leiterinnen, Jovita und Rahel, beim Vornamen. «Selbst wenn eine weisse Person keine rassistische Intention habe, könne sie sich trotzdem rassistisch verhalten», zitiert die Autorin Jovita in indirekter Rede. Durch das, was im Seminar gesagt werde, fühle sie, Judith Basad, sich wie ein Verbrecher, obwohl sie gar nichts verbrochen habe. Ihre eigene Vernunft, ihr Gewissen und ihre Argumente würden in diesem Raum für sie selbst nicht mehr zählen. Hier sei sie nur eines – weiss und deswegen verdächtig – sprich eine Rassistin. Wenn sich ein weisser Patient nicht gegen den Rassismus eines anderen Patienten einsetze, sei der weisse Patient selber rassistisch. In diesem Seminar sei Rassismus keine objektive Tatsache, sondern vom Schmerz der Leiterin Rahel abhängig. Deren Gefühle wögen mehr als jede Vernunft. Je nach Sensibilität könne also alles Mögliche rassistisch sein. Rahel allein habe die Definitionsmacht über diesen Begriff, weil sie als Schwarze zu den strukturell Unterdrückten zähle. Im Alltag käme es Judith Basad nie in den Sinn, schwarze Menschen anders zu behandeln. Durch das Seminar fange sie jedoch an, schwarzen Menschen aus dem Weg zu gehen. Als das Seminar vorbei gewesen sei, habe sie auf ein Blatt geschrieben «Ich habe gelernt, dass Nichtstun Rassismus ist».
B. Am 16. April 2019 wandte sich X. an den Schweizer Presserat und reichte Beschwerde ein. Sie sieht Ziffer 2 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») und die dazu gehörende Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) verletzt. Es handle sich um einen Rundumschlag, der nicht darauf bedacht sei, Vorgänge wiederzugeben und die Kritik daran klar auszuweisen. Nicht nachvollziehbar sei, weshalb die Leiterinnen des Workshops nur mit Vornamen zitiert würden, ohne jegliche Verweise auf ihre Expertise als Fachpersonen aufzuzeigen. Begriffe aus der Anti-Diskriminierungspraxis würden als Modewörter abgetan, ohne diese einzuführen. Es gebe keine Unterscheidung zwischen Fakt und Kritik. Auch sehe sie Ziffer 3 der «Erklärung» sowie Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) verletzt, da die im Artikel gemachten Vorwürfe gegen die beiden Workshop-Leiterinnen äusserst heftig seien. Sie hätten über die Anschuldigungen zumindest informiert werden müssen und dann dazu angehört.
Die Beschwerdeführerin sieht weiter Ziffer 4 der «Erklärung» sowie Richtlinie 4.1 (Verschleierung des Berufs) verletzt, da es im Artikel keinen Hinweis darauf gebe, dass die Workshop-Leiterinnen oder die anderen Teilnehmer gewusst hätten, dass sich unter ihnen eine Journalistin befinde. Gemäss einer weiteren Teilnehmerin seien Medienvertreter explizit aufgefordert worden, sich zu melden und personenschützend zu berichten. Dass Judith Basad ihre Identität als Journalistin geheim gehalten habe, scheine weder durch den Rahmen eines öffentlichen Workshops in einem städtischen Museum noch durch den Inhalt des Textes begründet und sei somit eine unlautere Form der Informationsbeschaffung. Schliesslich sieht X. auch die Ziffer 7 (Identifizierung) und Ziffer 8 (Diskriminierungsverbot) der «Erklärung» verletzt.
C. Mit Schreiben vom 26. April 2019 forderte der Presserat die «Neue Zürcher Zeitung» auf, zur Beschwerde Stellung zu nehmen. Unter Hinweis auf Art. 17 Abs. 2 des Geschäftsreglements teilte er der NZZ mit, er beschränke sich auf die geltend gemachte Verletzung von Ziffer 4 der «Erklärung» bzw. Richtlinie 4.1 (Verschleierung des Berufs).
D. Am 27. Mai 2019 antwortete René Scheu, Ressortleiter Feuilleton bei der «Neuen Zürcher Zeitung». Judith Basad schildere die Versuchsanordnung des Seminars in nachvollziehbarer Weise und mache in den einleitenden Passagen transparent, worin das Ziel des Workshops bestehe. Sie habe dies ohne alle Polemik getan und sachadäquat berichtet. Der Text sei die ruhige, reflektierende Auseinandersetzung mit einem wichtigen Thema. Niemand werde im Text angeklagt. Vielmehr beschreibe die Autorin, was in ihrem Inneren vorgegangen sei, weshalb es keinen Bedarf gegeben habe, eine Stellungnahme des Organisators oder der Workshop-Leiterinnen einzuholen. Im Übrigen bestreite die NZZ, Medien seien explizit aufgefordert worden, sich zu melden, auch wenn dies am vorliegenden Sachverhalt nichts geändert hätte.
Die NZZ führt zu Richtlinie 4.1 aus, Judith Basad beschäftige sich seit Jahren mit dem Thema Rassismus. Deshalb habe sie auch den Kurs besucht. Sie sei hingegangen, um mehr über das Thema zu erfahren. Erst im Nachhinein habe sie sich entschieden, darüber zu schreiben. Das Anti-Rassismus-Seminar habe eine merkwürdige Wendung genommen. In ihrer Wahrnehmung seien aus zunächst wohlwollenden Workshop-Teilnehmern misstrauische Menschen geworden, die sich wechselseitig beargwöhnten. Die Stimmung sei aufgeheizt gewesen und eine Teilnehmerin habe sogar den Workshop verlassen. Es liege keine Verletzung von Richtlinie 4.1 vor, da die Autorin zum Zeitpunkt des Besuchs des Seminars noch nicht gewusst habe, dass sie darüber schreiben würde. Hinzu komme, dass das Seminar öffentlich und von allgemeinem Interesse gewesen sei. Nach ständiger Rechtsprechung des Presserats beziehe sich Richtlinie 4.1 primär auf Diskussionen privater Angelegenheiten, was dem öffentlichen Charakter der Veranstaltung widerspreche. Gemäss Stellungnahme 63/2009 seien «Medienschaffende nicht verpflichtet, ihren Beruf zu nennen, um Informationen zu beschaffen, die allen zugänglich sind». Der Workshop sei jedoch allen Personen offen gestanden und die Informationen hätten jedermann zur Verfügung gestanden. Auch sei die Berichterstattung anonym erfolgt und die NZZ habe nur die Vornamen der Kursleiterinnen genannt.
E. Am 7. Juni 2019 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.
F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 27. März 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Kernpunkt der Beschwerde bildet die Frage, ob Judith Basad sich als Journalistin hätte zu erkennen geben müssen. Laut Richtlinie 4.1 zur «Erklärung» ist es unlauter, bei der Beschaffung von Informationen, Tönen, Bildern und Dokumenten, die zur Veröffentlichung vorgesehen sind, den Beruf als Journalistin zu verschleiern.
2. In Stellungnahme 63/2009 hielt der Presserat fest, dass Richtlinie 4.1 nicht anwendbar ist, wenn es um die Einholung einer grundsätzlich für jedermann zugänglichen Information geht. Der Presserat erachtete es als unverhältnismässig, die Regeln über die Verschleierung des Berufs und die verdeckte Recherche in einem solchen Fall anzuwenden. Die Pflicht der Journalisten, bei Recherchen ihren Beruf bekannt zu geben, diene primär dazu, Gesprächspartner von Medienschaffenden zu schützen. Interviewte sollen wissen, dass sie sich gegenüber einer Journalistin, einem Journalisten äussern. Und sie sollen darauf vertrauen können, dass Medien ihre persönlichen Äusserungen nicht ohne ihr Wissen und ihren Willen veröffentlichen.
Unbestritten ist, dass sich Judith Basad im Workshop nicht als Journalistin zu erkennen gegeben hat. Sie erklärt dies damit, dass sie sich erst danach dazu entschieden habe, einen Artikel über den Workshop zu schreiben, da dieser eine merkwürdige Wendung genommen habe und sie im Artikel ihre Gedanken niedergeschrieben habe.
Das Social-Justice-Seminar fand im städtischen Museum Helmhaus in Zürich als öffentliche Veranstaltung statt. Teilnehmen konnte jeder, der sich dafür interessierte. Judith Basad hat die Informationen, die als Grundlage für ihren Artikel dienten, somit anlässlich einer öffentlichen Veranstaltung erlangt. Von Verschleiern des Berufs kann nicht gesprochen werden, da die Informationen, die Basad sich dort beschuf, für jedermann zugänglich waren. Der Presserat kommt zum Schluss, dass Ziffer 4 der «Erklärung» und damit Richtlinie 4.1 (Verschleierung des Berufs) nicht verletzt wurde.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat mit dem Artikel «Wie ich für drei Stunden zur Rassistin wurde» vom 16. April 2019 die Ziffer 4 (Verschleierung des Berufs) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.