Nr. 10/2022
Wahrheit

(X. c. «watson.ch»)

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I. Sachverhalt

A. Am 6. Dezember 2021 veröffentlichte das Online-Magazin «watson.ch» die Ergebnisse einer Studie des «Covid-19 Überwachungssystems des Bundesamtes für Gesundheit» unter dem Titel «Seit Impfbeginn sind in der Schweiz 14 Geimpfte verstorben – und 437 Ungeimpfte». In der Folge wird erläutert, es seien nur wenige doppelt Geimpfte gestorben, das Meldesystem, an welchem 20 Spitäler beteiligt seien, zeige auf, dass in diesen Spitälern zwischen Dezember 2020 und August 2021 5928 Hospitalisierungen von Covid-PatientInnen erfolgt seien, von diesen seien 495 gestorben. Unter dem Zwischentitel «437 Ungeimpfte sind tot» wird weiter berichtet, nur 14 der Verstorbenen seien doppelt geimpft gewesen, 44 einmal. Der mit Abstand grösste Teil der Todesfälle sei jedoch bei Ungeimpften festzustellen, nämlich 437, das entspreche 88 Prozent. Noch höher sei der Prozentsatz der Ungeimpften (93 Prozent) bei den Hospitalisierungen. Es wird weiter verwiesen auf die (damals) wieder steigende Belastung der Intensivstationen mit Corona-PatientInnen, weiter wird erläutert, welche Spitäler am fraglichen Überwachungssystem angeschlossen sind und welcher Prozentsatz (63 Prozent) der insgesamt gemeldeten Hospitalisierungen mit der Untersuchung effektiv erfasst wird. Schliesslich wird die Quelle der zuvor vermittelten Informationen genannt: aeg/sda, also eine Meldung von Keystone-SDA, die redaktionsintern bearbeitet wurde.

B. Am 9. Dezember 2021 reichte X. Beschwerde gegen den Artikel beim Schweizer Presserat ein. Die Beschwerdeführerin macht einen Verstoss gegen die Ziffer 1 (Wahrheitsgebot) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend. Zur Begründung führt sie an, der Titel der Meldung sei falsch, er entspreche nicht den wirklichen Zahlen, die auf der Webseite des Bundesamtes für Gesundheit BAG jederzeit nachzulesen seien. Mit der Veröffentlichung derart falscher Zahlen werde der Graben zwischen Geimpften und Ungeimpften verbreitert.

C. Am 3. Januar 2022 nahm Chefredaktor Maurice Thiriet für «watson.ch» zur Beschwerde Stellung. Er räumt ein, dass die relevanten Zahlen zum Zeitpunkt der Publikation des Artikels anders gelautet haben, es seien dannzumal bereits mehr Verstorbene zu verzeichnen gewesen. Die Meldung beziehe sich jedoch ausdrücklich auf eine vom BAG an jenem Tag veröffentlichte und von der Nachrichtenagentur Keystone-SDA anschliessend verbreitete Statistik, die sich auf den Zeitraum zwischen Dezember 2020 und Ende August 2021 beziehe. Das sei im zweiten Abschnitt des Texts auch ausdrücklich so vermerkt gewesen. Insofern liege keine Verletzung der Ziffer 1 der «Erklärung» vor. Von einer Verbreiterung des Grabens zwischen Geimpften und Ungeimpften könne keine Rede sein, es werde einfach das höhere Sterberisiko von Ungeimpfen thematisiert.

D. Am 25. Januar 2022 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Max Trossmann, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 24. März 2022 verabschiedet.

II. Erwägungen

1. «watson.ch» hat am 6. Dezember 2021 mit dem Titel «Seit Impfbeginn sind in der Schweiz 14 Geimpfte verstorben – und 437 Ungeimpfte» eine Behauptung aufgestellt, die so nicht richtig war. Zu jenem Zeitpunkt waren die Zahlen geimpfter und ungeimpfter in Spitälern an Covid Verstorbener höher. Darin sind sich beide Parteien einig.

2. Der Presserat geht in seiner Praxis zur Formulierung von Schlagzeilen davon aus, dass dort Zuspitzungen zulässig sind, aber nicht Unwahrheiten. Wo im Titel zu stark zugespitzt wurde, wird von einer Rüge nur dann abgesehen, wenn der gleich darunter stehende Lead den Sachverhalt präzisiert, für die Leserschaft also gleich klarstellt. Wo nach einem irreführenden Titel erst im Artikel der wahre Sachverhalt ersichtlich wird, geht der Presserat von einem Verstoss gegen das Wahrheitsgebot aus. Das ist hier der Fall. «watson.ch» hat die Studie des BAG, respektive die Meldung der Agentur zwar korrekt zusammengefasst, die Zahlen, die Erhebungsbasis (Zeitraum der Erhebung, die Anzahl an der Studie angeschlossener Spitäler, Relation der dort erfassten zu den gesamten bekannten landesweit erhobenen Daten) und die Quellen richtig dargestellt. Aber der Titel war zum gegebenen Zeitpunkt falsch.

3. Zudem ist festzustellen, dass «watson» mit dem Text auf eine anerkannte, professionelle Quelle (Keystone-SDA) abgestellt hat und damit den Anforderungen von Ziffer 1 genügt, was den Inhalt des Textes betrifft.

Bezogen auf den Titel, nicht aber auf den Inhalt des Textes hat «watson» die Ziffer 1 der «Erklärung» verletzt.

III. Feststellungen

1. Der Presserat heisst die Beschwerde teilweise gut.

2. «watson.ch» hat mit dem Titel «Seit Impfbeginn sind in der Schweiz 14 Geimpfte verstorben – und 437 Ungeimpfte» die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.