Nr. 8/2021
Schutz der Privatsphäre / Menschenwürde

(X. c. «Prättigauer und Herrschäftler»)

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I. Sachverhalt

A. Am 8. August 2020 veröffentlichte der «Prättigauer und Herrschäftler» einen mit «ms» (Marco Schnell) gezeichneten kurzen Artikel mit dem Titel «Pfarrerin-Zwillinge gesund und munter». Der Text erinnert daran, dass eine Pfarrerin aus Grüsch 2012 im Alter von 66 Jahren Zwillinge geboren habe, nach einer künstlichen Befruchtung im Ausland. In der Schweiz wäre dies in ihrem Alter verboten gewesen. Das habe damals für viel Kritik gesorgt. Die beiden Buben der ältesten Mutter der Schweiz seien mittlerweile 8 Jahre alt und teilweise immer noch im Kinderwagen unterwegs, wie das nebenstehende aktuelle Bild zeige. Die Zwillinge kämen aus der Schule, wenn die Mutter 82 Jahre alt sei. Soweit der Text, daneben ist das Foto einer Frau zu sehen, die sich von der Kamera wegbewegt, einen Kinderwagen stossend, mit einem, möglicherweise zwei Kindern drin, das ist schlecht zu erkennen. Weiter entfernt im Hintergrund ist ein weiteres Kind zu sehen, das vor einer (Bücher-?) Schachtel kniet.

B. Am 21. August 2020 reichte X. Beschwerde gegen den Artikel beim Schweizer Presserat ein. Der Beschwerdeführer (BF) macht einen Verstoss gegen die Menschenwürde geltend (Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten», nachfolgend «Erklärung»). Weiter sieht er von den Richtlinien zur «Erklärung» Richtlinie 4.2 (verdeckte Recherche), 7.1 (Schutz der Privatsphäre) und 7.3 (erhöhter Schutz der Privatsphäre bei Kindern) verletzt.

Zur Begründung eines Verstosses gegen die Ziffer 8 der «Erklärung» führt der BF an, der Text enthalte gegen die Frau gerichtete diskreditierende Formulierungen, welche letztlich «zugunsten der Unterhaltungsoptimierung der Leserschaft» Formulierungen enthalte wie «im Ausland (in der Schweiz in diesem Alter verboten) künstlich befruchten lassen», Buben «mittlerweile acht Jahre alt und teilweise immer noch im Kinderwagen». Mit der Berufsbezeichnung «Pfarrerin» würden die diskriminierenden Anspielungen in den Kontext der Religion gerückt.

Einen Verstoss gegen Richtlinie 4.2 (verdeckte Recherche) sieht er vermutlich (der BF erläutert das nicht) im Bild, das ohne Einwilligung der Betroffenen zustande gekommen sein dürfte. Er weist nur darauf hin, dass keiner der möglichen Rechtfertigungsgründe für eine verdeckte Recherche vorliege, wie Richtlinie 4.2 sie nenne.

Richtlinie 7.1 und 7.2 (Schutz der Privatsphäre) sieht der BF dadurch verletzt, dass Angaben über einen privaten Sachverhalt identifizierbarer Personen publiziert würden, ohne dass dafür ein öffentliches Interesse gegeben sei. Die Mutter sei identifizierbar durch das Bild, die Nennung des Berufs und der Vorgeschichte.

Verletzt sei speziell die Privatsphäre der Kinder, denn Richtlinie 7.3 gebiete einen besonderen Schutz von deren Privatsphäre. Diese sei insbesondere verletzt mit dem Hinweis auf die Umstände der Zeugung der Kinder. Dieser Hinweis riskiere, traumatische Irritationen im Familienleben der Betroffenen auszulösen.

C. Am 29. September 2020 nahm Marco Schnell namens der Redaktion des «Prättigauer und Herrschäftler» Stellung zur Beschwerde. Er geht davon aus, dass der Artikel rechtens und von der Meinungs- und Pressefreiheit gedeckt sei.

Insbesondere weist Schnell darauf hin:
– Die betreffende Frau habe seinerzeit mit ihrem Vorgehen (künstliche Befruchtung im Alter von 66 Jahren) bewusst in Kauf genommen, zur öffentlichen Person zu werden. Es sei denn seinerzeit auch in erheblichem Masse über den Fall berichtet worden.
– Anlässlich ihrer unlängst erfolgten Rückkehr ins Prättigau habe er, Schnell, sich veranlasst gesehen, einen kurzen Hinweis darüber zu verfassen.
– Dass er den Beruf der Pfarrerin nenne, biete inhaltlich nichts Neues und sei in keiner Weise diskriminierend (Ziffer 8 der «Erklärung»).
– Dass eben doch ein «öffentliches Interesse» zur Veröffentlichung bestanden habe, zeige das grosse Interesse an diesem Fall, das über die Grenzen hinausgereicht habe.
– Auf dem Bild seien keine Personen zu erkennen, es visualisiere nur die in der Notiz aufgeführte Sachlage ohne wertende oder inszenierte Darstellung. Der Text enthalte keine Namen oder Ortsnennungen, die gegen den Persönlichkeitsschutz verstossen könnten.
– Im Übrigen seien nur korrekte Fakten genannt: Künstliche Befruchtungen seien in diesem Alter verboten, die achtjährigen Kinder sässen heute noch teilweise im Kinderwagen, das habe er selber mehrfach beobachtet, das werde im Prättigau auch öffentlich diskutiert. Allein dies belege das öffentliche Interesse. Die Mutter werde 82 sein, wenn die Kinder aus der Schule kommen.
– Und der Titel, unter dem das Ganze stehe, sei das einzige vielleicht subjektive Element, aber mit «gesund und munter» sei es eine positive Wertung.

D. Am 13. Oktober 2020 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg sowie den Vizepräsidenten Casper Selg und Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 3. März 2021 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Ziffer 7 der «Erklärung» schützt ganz generell das Privatleben von Bürgern, Bürgerinnen. Bei gegebenem öffentlichem Interesse können sich laut Richtlinie 7.2 (Identifizierung) Ausnahmen rechtfertigen. Dem «Prättigauer und Herrschäftler» ist recht zu geben, wenn er feststellt, dass die damalige Berichterstattung über die 66-jährige werdende Mutter vor acht Jahren ein Thema von öffentlichem Interesse gewesen sei. Damals ging es um eine grundsätzliche gesellschaftliche Fragestellung: Darf eine Frau in diesem Alter einen solchen Eingriff vornehmen lassen? Wie steht das rechtlich, moralisch, was bedeutet das für das oder die zu erwartenden Kinder? Das war ein Thema von öffentlichem Interesse, das es rechtfertigte, einen Teil des Privatlebens dieser Frau offenzulegen, auch ohne ihre Zustimmung.

Hingegen fehlt jedes öffentliche Interesse, wenn es darum geht, dieses gleiche Thema nach acht Jahren wieder aufzugreifen, ohne dass sich an der Ausgangslage etwas Nennenswertes geändert, ohne dass sich eine neue Fragestellung ergeben hat. Dass die Frau mit ihren Kindern ins Prättigau zurückgekehrt ist, erzeugt allenfalls Neugierde. Der Presserat hat aber immer wieder darauf hingewiesen, dass öffentliches Interesse und Neugierde zwei sehr verschiedene Anforderungen sind. Im ersten Fall geht es um Fragen, welche für die Gesellschaft und ihre weitere Entwicklung von Bedeutung sind. Im zweiten geht es um das meist kurzfristige, meist oberflächliche Stillen von «Gwunder». Die Rückkehr der Familie ins Prättigau ist kein Anlass von öffentlichem Interesse. Darüber zu berichten beeinträchtigt die Privatsphäre dieser für viele identifizierbaren Familie, Ziffer 7 der «Erklärung» ist mit dieser Berichterstattung verletzt.

2. Insbesondere verletzt sie die Richtlinie 7.3 (Kinder), welche einen besonderen Schutz der Kinder gebietet. Die Berichterstattung über die zweifellos für viele Menschen identifizierbaren Zwillinge der alten Mutter und deren Erzeugung legt einen sehr intimen Teil von deren Privatsphäre offen und ist geeignet, den beiden Kindern Schaden und Schmerz zuzufügen. Das gilt, auch wenn die Geschichte der beiden Kinder in der Gegend klar sein mag. Aber allein das Risiko, dass sich dieser private Aspekt des Lebens der zwei Kinder weiter herumspricht, verbietet im Sinne von Richtlinie 7.3 eine derartige Berichterstattung. Es besteht kein öffentliches Interesse daran, ohne eine entsprechende Zustimmung über sie zu berichten.

3. Die übrigen Punkte, Ziffer 8 (Diskriminierung, Menschenwürde) und Richtlinie 4.2 (verdeckte Recherche) sind nach Auffassung des Presserates nicht tangiert. Das Bild wurde wohl ohne Zustimmung der Betroffenen aufgenommen, aber es ist niemand darauf identifizierbar.

III. Feststellungen

1. Der Presserat heisst die Beschwerde im Wesentlichen gut.

2. Der «Prättigauer und Herrschäftler» hat mit dem Artikel «Pfarrerin-Zwillinge gesund und munter» vom 8. August 2020 die Ziffer 7 (Schutz der Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.