I. Sachverhalt
A. Am 7. Juni 2018 veröffentlichte die «RhoneZeitung» einen mit «bw» gezeichneten Artikel unter dem Titel «Ich war bei den Zeugen Jehovas». Darin erzählt ein ehemaliges Mitglied der Glaubensgemeinschaft über sein Leben und wie er letztlich der Gemeinschaft den Rücken kehrte. Unter dem Titel «Viele leiden unter grossen Ängsten» ist dem Artikel ein Interview mit Regina Spiess vom Verein Zeugen Jehovas Opferhilfe zur Seite gestellt. Darin wird sie u.a. zum Thema des Umgangs der Zeugen Jehovas mit dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen befragt.
B. Am 6. September 2018 erhob X. gegen den Artikel Beschwerde beim Schweizer Presserat. Dieser verstosse gegen Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»). Im Interview behaupte Spiess, einem Vorwurf in Verbindung mit einem Kindesmissbrauch werde nur nachgegangen, wenn es dafür neben dem Opfer einen zweiten Zeugen gebe. Die Aussage «Das hat unter anderem mit der ‹Zwei-Zeugen-Regel› zu tun: Einem Vorwurf soll nur nachgegangen werden, wenn es dafür neben dem Opfer einen zweiten Zeugen gibt» sei unwahr, denn sie widerspreche der religionsrechtlichen Verfahrensweise der Zeugen Jehovas. Diese sehe vor, dass selbst bei einem blossen Verdacht – egal von wem oder von wie vielen Personen er geäussert werde – die der Seelsorge verpflichteten Ältesten einer Versammlung (örtlichen Gemeinde) zwingend angewiesen seien, der Angelegenheit mit der grössten Sorgfalt nachzugehen und alle erforderlichen Schutzmassnahmen für Kinder umgehend zu veranlassen. Der Beschwerdeführer macht geltend, Regina Spiess habe diese Aussage bereits mehrfach getätigt, u.a. in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» vom 27. Juli 2015, wofür letzterer in Stellungnahme 31/2016 vom Presserat gerügt worden sei.
C. Am 18. Oktober 2019 nahm Walter Bellwald, Chefredaktor der «RhoneZeitung», zu den Vorwürfen Stellung. Er verwies in Bezug auf die Aussage von Regina Spiess auf deren Ausführungen zur Existenz der Zwei-Zeugen-Regel. Sie verweist darin u.a. auf den Report der Australian Royal Commission vom Oktober 2016 (auf diesen wurde sie im Interview angesprochen), auf Aussagen von Geoffrey Jackson, Mitglied der Leitenden Körperschaft im Rahmen der Untersuchung der Royal Commission, auf das Ältestenbuch «Shepherd the Flock of God (2010)», welches der Royal Commission als Beweismittel diente, sowie auf den Bericht der britischen Charity Commission zur untersuchten Versammlung Manchester New Mosten vom 26. Juli 2017. Spiess verweist weiter auf die November-Sendung 2017 des sogenannten Monthly Program im eigenen Sender JW Broadcast, in dem ein Kadermitglied im Namen der Organisation ausdrücklich an der Zwei-Zeugen-Regel festgehalten habe und sie zitiert weitere Expertinnen zu dieser Frage.
D. Am 18. Februar 2020 teilte der Presserat den Parteien mit, der Schriftenwechsel sei abgeschlossen, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.
E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 9. März 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägung
Der zentrale Vorwurf, den der Beschwerdeführer gegenüber der «RhoneZeitung» erhebt, ist ein Verstoss gegen die in Ziffer 1 der «Erklärung» statuierte Wahrheitspflicht. Die Aussage der von der «RhoneZeitung» interviewten Expertin Spiess, wonach einem Vorwurf des Kindesmissbrauchs nur nachgegangen werde, wenn es dafür neben dem Opfer einen zweiten Zeugen gebe, sei unwahr. Er verweist dabei auf eine online abrufbare Stellungnahme der Religionsgemeinschaft sowie auf die Stellungnahme 31/2016 des Presserats, in welcher dieser in Bezug auf diese Aussage eine Rüge gegenüber dem «Tages-Anzeiger» ausgesprochen hatte.
Gemäss Ziffer 1 der «Erklärung» sind Journalistinnen und Journalisten verpflichtet, sich an die Wahrheit zu halten. Dies erfordert auch eine kritische Überprüfung der Quellen, einschliesslich der Aussagen von Interviewten. In seiner Stellungnahme 31/2016 hielt der Presserat damals fest, dass der interviewende Journalist grundsätzlich von der Glaubwürdigkeit der Aussagen von Regina Spiess als ausgewiesener Expertin der Fachstelle Infosekta, welche seit 25 Jahren existiert und von der öffentlichen Hand und den Landeskirchen mitfinanziert wird, ausgehen durfte. Heute ist Regina Spiess für den Verein Zeugen Jehovas Opferhilfe tätig. Diese Aussage des Presserats ist nach wie vor gültig.
In der vom Beschwerdeführer angeführten Stellungnahme 31/2016 hatte sich der Presserat in deren ursprünglicher Fassung auf die Beschwerdeantwort des «Tages-Anzeiger»-Verlags Tamedia gestützt, in welcher Tamedia anerkannte, dass die Zwei-Zeugen-Regel zum Zeitpunkt des Interviews nicht mehr bestand. Nach Veröffentlichung dieser Stellungnahme machte Tamedia ein Missverständnis in der Interpretation, die der Presserat vornahm, geltend und verlangte eine Berichtigung der Stellungnahme.
In der Zwischenzeit war die Sektenexpertin Regina Spiess von den Zeugen Jehovas eingeklagt worden. Mit Urteil vom 9. Juli 2019 sprach das Bezirksgericht Zürich Regina Spiess jedoch vom Vorwurf der üblen Nachrede frei und hielt fest, «dass die sogenannte Zwei-Zeugen-Regel existiert». Laut Gericht hat Regina Spiess den Wahrheitsbeweis erbracht und ihre Aussagen zur Zwei-Zeugen-Regel und den sexuellen Missbrauch von Kindern in der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas entsprechen im «Kernbereich der Wahrheit». Der Presserat hat deshalb die Stellungnahme 31/2016 per 28. Februar 2020 berichtigt; er weist heute die zugrunde liegende Beschwerde der Zeugen Jehovas vollumfänglich ab und stellt fest, der «Tages-Anzeiger» habe die Wahrheitspflicht nicht verletzt. Der Presserat kam zum Schluss, dass die Aussage von Regina Spiess zur «Zwei-Zeugen-Regel» im «Tages-Anzeiger» vom Juli 2015 wahr war.
Dieser Schluss gilt auch im vorliegenden Fall in Bezug auf die Aussage von Regina Spiess zur Zwei-Zeugen-Regel im Interview mit der «RhoneZeitung». Die Wahrheitspflicht ist somit auch hier nicht verletzt.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die «RhoneZeitung» hat mit dem Artikel «Ich war bei den Zeugen Jehovas» bzw. mit dem Interview mit dem Titel «Viele leiden unter grossen Ängsten» vom 7. Juni 2018 die Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.