I. Sachverhalt
A. Am 19. November 2023 veröffentlichte die «NZZ am Sonntag» einen ausführlichen, zweiseitigen Artikel mit dem Titel «Der ‹Mozart der Medizin› und seine Toten», auf den auf der Frontseite prominent hingewiesen wird («Das tödliche Geheimnis der Appenzeller Medizin»). Schon am Abend zuvor ist der Text online auf «nzz.ch» erschienen. Autor Leo Eiholzer berichtet, dass gegen Thomas Rau, den Direktor und Besitzer des Biomed Centers Sonnenberg in Schwellbrunn, wegen fahrlässiger Tötung ermittelt werde. Mehrere Frauen seien gestorben, nachdem sie in der Klinik des «Stars der Appenzeller Alternativmedizin» behandelt worden seien, die Behörden aber untersuchten dennoch nur zögerlich.
Der Journalist schildert im Wesentlichen zwei Fälle. Eine Frau, deren Alter im Bericht nicht genannt wird, sei gesund angereist, aber wenige Tage nach dem Klinikaustritt gestorben, nachdem ihr Alpha-Liponsäure gespritzt worden sei: ein in der Schweiz damals nicht zugelassenes Medikament, das in Deutschland bei langjährigen Diabetikern mit Nervenschäden eingesetzt werde. Gemäss einem rechtsmedizinischen Gutachten, aus dem der Autor zitiert, stehe diese Substanz «letztlich kausal mit dem Todeseintritt in Zusammenhang». Darüber hinaus stützt er sich auf Aussagen einer US-amerikanischen Zeugin, die zur gleichen Zeit wie die verstorbene Frau Patientin der Klinik gewesen sein und dieselbe Infusion erhalten haben soll. Drei Wochen zuvor sei bereits eine 77-jährige Frau verstorben, nachdem Thomas Rau Fehler begangen habe, die gemäss Rechtsmedizinern nicht einmal ein Medizinstudent hätte machen dürfen. In beiden Fällen laufe eine Strafuntersuchung.
Eine ehemalige Klinikangestellte habe der Staatsanwaltschaft zudem von weiteren «haarsträubenden Vorkommnissen» berichtet, schreibt der Journalist. So sei eine junge Frau nach einer Infusion äusserst schwach aus der Klinik getragen worden und wenige Tage darauf verstorben. Zudem habe ihr Raus Ehefrau, die gelernte Krankenschwester sei, erzählt, sie hätten eine sterbenskranke Patientin im Privatauto nach Zürich zu einem Spezialisten gefahren. «Trifft dies zu, wäre Rau mit einer schwerkranken Patientin an mehreren Spitälern vorbeigefahren», so die «NZZ am Sonntag».
Im Artikel heisst es, Raus Anwalt habe auf Anfrage mitgeteilt, dieser «könne innert der angesetzten Frist nicht Stellung zu den Vorwürfen nehmen». Zitiert wird aber ausführlich aus den Einvernahmen der Staatsanwaltschaft, während derer der Klinikdirektor jede Schuld von sich gewiesen habe. Zu Wort kommt der Anwalt der Rau unterstellten Ärztin, welche der später verstorbenen Patientin Alpha-Liponsäure verabreicht habe. Die Substanz sei für den Todesfall nicht verantwortlich, lässt er verlauten. Zudem liege auch keine Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht vor.
B. Am 8. Januar 2024 erhoben Thomas Rau und das Biomed Center Sonnenberg – beide anwaltlich vertreten – gemeinsam Beschwerde beim Schweizer Presserat. Sie machen einen Verstoss gegen das in der Einleitung zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») genannte Fairnessprinzip geltend sowie eine Verletzung von Richtlinie 3.8, wonach Betroffene bei schweren Anschuldigungen vorgängig angehört werden müssen.
Explizit nicht gerügt würden hingegen weitere Bestandteile des Presseratskodex’, auch wenn der Autor und die «NZZ am Sonntag» sowohl die Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») verletzt hätten als auch die Pflicht, keine wichtigen Elemente von Informationen zu unterschlagen (Ziffer 3 der «Erklärung»). Dies, weil diesbezüglich Gerichtsverfahren eingeleitet würden. Im Zusammenhang mit der Anhörungspflicht und dem Fairnessprinzip seien weder gegen den Autor noch gegen die «NZZ am Sonntag» Gerichtsverfahren hängig oder vorgesehen.
Rau und das Biomed Center Sonnenberg argumentieren, die im Artikel gegen sie gerichteten Vorwürfe wögen schwer, weshalb ihnen eine angemessene Zeitdauer hätte eingeräumt werden müssen, um dazu Stellung zu nehmen. Stattdessen habe die Frist «gerade mal 26 Stunden» betragen, beginnend am Freitag, 17. November 2023, um 9.46 Uhr und endend am Samstag, 18. November 2023, um 12.00 Uhr. In dieser Zeit hätte nach Vorstellung der Redaktion ein «ellenlanger», 19 Fragen umfassender Fragekatalog beantwortet werden sollen.
Sobald er via seine Sekretärin von der E-Mail mit dem Fragekatalog erfahren habe, habe Rau dem Autor telefonisch mitgeteilt, dass er seine Fragen unmöglich innert der gesetzten Frist beantworten könne, weil er bis am Samstagabend ein seit langem geplantes Seminar zu leiten habe. Der Journalist aber habe ihm beschieden, er könne die Frist nicht verlängern, weil der Artikel an jenem Wochenende publiziert werden solle. Daraufhin habe Rau seinen Anwalt eingeschaltet, der Eiholzer am Samstagmittag kurz vor Ablauf der gesetzten Frist per E-Mail eine Abmahnung zugeschickt habe, die jedoch folgenlos geblieben sei.
In der Presseratsbeschwerde schreibt der Anwalt, die Verletzung der Anhörungspflicht wiege in diesem Fall umso schwerer, als der Artikel der «NZZ am Sonntag» vor verkürzten und damit verfälscht dargestellten Sachverhaltselementen nur so strotze, ja sogar klare Unwahrheiten enthalte. Das Wort «angemessen» in Richtlinie 3.8 verlange als unbestimmter Rechtsbegriff, dass den Umständen des konkreten Einzelfalls Rechnung getragen werde; also etwa der Tatsache, dass die von den schweren Vorwürfen betroffene Person ein Seminar zu leiten hatte, dass die Frist ins Wochenende fiel und keine Dringlichkeit bestand.
C. Am 19. April 2024 antwortete die «NZZ am Sonntag» auf die Beschwerde und beantragte, sie vollumfänglich abzuweisen, sofern der Presserat überhaupt auf sie eintrete.
Die Beschwerdeführer hätten sich am 8. respektive 11. Dezember 2023 mit identischen Gegendarstellungen an «nzz.ch» und die «NZZ am Sonntag» gewandt und – nachdem man deren Veröffentlichung abgelehnt habe – am 2. Januar 2024 beim Bezirksgericht Zürich geklagt. Sechs Tage später sei die Presseratsbeschwerde erfolgt. Die Behauptung, die Gegendarstellungsklagen sowie weitere angekündigte straf- und zivilrechtliche Verfahren stünden nicht im Zusammenhang mit der Beschwerde, sei irreführend. So sei es etwa für die Gegendarstellungsklagen rechtlich relevant, ob die Beschwerdeführer vor Erscheinen des Artikels ohnehin genügend Zeit zur Stellungnahme gehabt hätten. «Die Absicht […] scheint darin zu liegen, eine Entscheidung des Presserates zu erlangen, die nachfolgend in den laufenden und angekündigten straf- und zivilrechtlichen Verfahren gegen Autor und Medienhaus verwendet werden kann.» Dies aber widerspreche der Intention und dem Reglement des Presserats.
Materiell konzediert die «NZZ am Sonntag», sie habe gegen Rau und das Biomed Center Sonnenberg schwere Vorwürfe erhoben. Die Frage, was genau unter einer «angemessenen Zeit» gemäss Richtlinie 3.8 verstanden werden sollte, bleibe jedoch umstritten. Die in diesem Fall gewählte Frist von mehr als 28 Stunden sei «in journalistischen Kreisen aussergewöhnlich grosszügig». Sie spiegle das Bestreben, allen Parteien gerecht zu werden und die Prinzipien der Fairness und Ausgewogenheit zu wahren.
Von Bedeutung sei zudem, dass die Vorwürfe gegen die Beschwerdeführer keine neuen Entwicklungen darstellten. Wegen der im Artikel beschriebenen Vorfälle würden seit beinahe drei Jahren zwei Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung geführt, mehrfach sei Rau dazu einvernommen worden. «Diese Vorinformiertheit hätte die Erstellung einer Stellungnahme innerhalb der gesetzten Frist erleichtern sollen, da keine umfangreiche Vorabrecherche erforderlich war.» Entsprechend habe Rau Eiholzer am Freitagvormittag am Telefon selbst gesagt, die Fragen seien ja die gleichen wie jene, die der Staatsanwalt gestellt habe. Auch der Anwalt sei bestens im Bilde gewesen, vertrete er ihn doch nicht nur in medien-, sondern auch in strafrechtlichen Belangen. Die Tatsache, dass er eine vierseitige Abmahnung verfasst habe, belege, dass ausreichend Zeit für die Beantwortung der Fragen vorhanden gewesen wäre.
Darüber hinaus wäre die Frist im Rahmen des Möglichen «selbstverständlich» auch erstreckt worden, so die «NZZ am Sonntag». Dies habe Journalist Eiholzer Rau am Freitagvormittag auch telefonisch mitgeteilt. Eine Antwort sei zwar noch am Samstag vonnöten, sie könne aber auch später am Tag erfolgen, «sofern die Zeit noch reichen würde, um den Text seriös zu überarbeiten und seine Ansichten genügend einfliessen zu lassen». Die in der Abmahnung durch den Anwalt der Beschwerdeführer erfolgte Ankündigung, innert 13 Tagen Stellung zu nehmen, sei jedoch «völlig branchenfremd und unzumutbar». Weil bis Redaktionsschluss keine Stellungnahme der Beschwerdeführer eingetroffen sei, habe sich die «NZZ am Sonntag» sodann «vorbildhaft» bemüht, deren Perspektive umfassend und ausführlich auf Basis der Strafakten darzustellen.
Der Vorwurf, der Fragekatalog sei «ellenlang», sei ungerechtfertigt. Vielmehr halte es die «NZZ am Sonntag» für ein zentrales Gebot der journalistischen Fairness, präzise zu konfrontieren, weil sich der Befragte nur so fair äussern könne. Zu berücksichtigen sei hinsichtlich der Frage, wie viel Zeit für eine Stellungnahme angemessen sei, dass sowohl Rau als auch sein Anwalt sehr (medien-)erfahren seien.
D. Der Presserat wies die Beschwerde seiner 3. Kammer zu, der Jan Grüebler (Präsident), Annika Bangerter, Lena Berger, Dennis Bühler, Monika Dommann, Andri Rostetter und Hilary von Arx angehören.
E. Die 3. Kammer des Presserats verabschiedete die vorliegende Stellungnahme an ihrer Sitzung vom 20. November 2024 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Zunächst stellt sich die Frage, ob auf die fristgerecht beim Presserat eingetroffene Beschwerde einzutreten ist, obwohl die Beschwerdeführer beim Bezirksgericht Zürich Gegendarstellungsklagen eingeklagt haben, nachdem die «NZZ am Sonntag» und «nzz.ch» deren Veröffentlichung abgelehnt hatten.
Zu berücksichtigen ist, dass die Beschwerdeführer ausschliesslich geprüft haben wollen, ob die Redaktion respektive Journalist Eiholzer Richtlinie 3.8 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» eingehalten haben, sprich ob sie sie fair mit den von ihnen erhobenen schweren Vorwürfen konfrontierten. Dies im Wissen darum, dass eine breiter gefasste Beschwerde dazu führen könnte, dass der Presserat wegen Vorliegens eines Parallelverfahrens Nichteintreten beschliessen würde. Die «NZZ am Sonntag» beantragt dennoch Nichteintreten und argumentiert zum einen damit, dass die Beschwerdeführer eine allfällige Presseratsrüge vor Gericht zu ihren Gunsten nutzen wollten, zum anderen, dass sich die verschiedenen medienethischen Fragen gar nicht so leicht voneinander trennen liessen; beispielsweise, weil es für die am Bezirksgericht Zürich hängigen Verfahren betreffend Gegendarstellung rechtlich relevant sei, ob die Beschwerdeführer vor dem Erscheinen des Artikels genügend Zeit zur Stellungnahme gehabt hatten.
2. Der Presserat teilt die Analyse der «NZZ am Sonntag». In Art. 11 Abs. 1 seines Geschäftsreglements ist festgeschrieben, dass auf eine Beschwerde nicht eingetreten wird, wenn ein Parallelverfahren bei einem Gericht eingeleitet wurde oder ein solches vorgesehen ist. Der Vorschlag der Beschwerdeführer, parallel gewisse Fragestellungen durch ein Gericht und gewisse Fragestellungen durch den Presserat entscheiden zu lassen, überzeugt das medienethische Gremium nicht. Einerseits, weil die Gefahr einer Instrumentalisierung droht, andererseits, weil sich die Fragestellungen gar nicht so klar voneinander trennen lassen.
Geprüft hat der Presserat allerdings, ob eine der beiden Ausnahmebestimmungen zum Tragen kommen könnte, die in Art. 11 Abs. 2 seines Geschäftsreglements aufgeführt sind. Nach längerer Diskussion kam er zum Schluss, dass die Berichterstattung der «NZZ am Sonntag» weder eine breite öffentliche Diskussion ausgelöst hat noch dass sich durch sie berufsethische Grundsatzfragen stellen, die einer Klärung bedürfen.
Zwar ist die Frage, wie viel Zeit bei einer Konfrontation eingeräumt werden muss, hochrelevant und im Einzelfall oft umstritten. Doch hat sich der Presserat in der Vergangenheit mehrfach zu dieser Frage geäussert und Kriterien erarbeitet, an denen sich Journalistinnen und Journalisten orientieren können (und auf die sich Personen, gegen die schwere Vorwürfe erhoben werden, bei Bedarf beziehen können): Zu berücksichtigen ist erstens, wie komplex der Sachverhalt ist, zu der sich eine mit schweren Vorwürfen belastete Person zu äussern hat. Zweitens sind die Folgen zu beachten, die sich aus der Berichterstattung für sie ergeben können. Drittens ist zu fragen, wie dringlich die Berichterstattung ist. Und viertens ist zu bedenken, wie mediengewandt die zu konfrontierende Person ist (wobei mitberücksichtigt werden sollte, ob sie auf sich allein gestellt ist oder ob sie von einem Unternehmen oder einer Organisation mit gut dotiertem Kommunikationsapparat unterstützt wird). Im Ergebnis liegt somit keine berufsethische Grundsatzfrage vor, die einer Klärung bedürfte.
III. Feststellung
Der Presserat tritt nicht auf die Beschwerde ein.