Nr. 2/2022
Wahrheit / Quellenbearbeitung

(X. c. «NZZ am Sonntag»)

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Zusammenfassung

Der Presserat rügt den Titel «Kubanische Ärzte versklavt», der im Februar 2021 in der «NZZ am Sonntag» (NZZaS) erschienen ist. Im Artikel ging es unter anderem um die Arbeitsbedingungen der Ärztebrigaden, die ausserhalb Kubas zum Einsatz kommen. Thematisiert werden Wochenarbeitszeiten von 64 Stunden, eingeschränkte Bewegungsfreiheit im Einsatzland oder auch der Zwang, Kollegen zu bespitzeln. Die UNO-Sonderberichterstatterin für heutige Formen der Sklaverei kritisiere diese Bedingungen und schliesse nicht aus, dass sklavereiähnliche Zustände vorliegen könnten. Die NZZ-Korrespondentin stellt dies im Artikel nicht als Tatsache dar, weshalb der Presserat den Lauftext in diesem Punkt explizit nicht rügt. Anders jedoch im Titel: Da steht aktiv die unbelegte Behauptung der Sklaverei, womit der Titel die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

Bei der Berechnung der Arbeitsstunden, Tagesansätze und Einnahmen, die Kuba betreffend die Einsätze der Ärztebrigaden verzeichnet, weist die NZZaS wohl darauf hin, dass Kuba diese Zahlen nicht offenlege. Die trotzdem angeführten Zahlen sind aber gemäss dem Presserat in einem Mass widersprüchlich, dass eine klärende Bemerkung nötig gewesen wäre. Nach eingehender kontroverser Diskussion stellt der Presserat in diesem Punkt ein Versäumnis der Redaktion, aber keinen Verstoss gegen die Berufsregeln fest.

Résumé

Le Conseil de la presse reproche à la «NZZ am Sonntag» (NZZaS) d’avoir intitulé «Kubanische Ärzte versklavt» (des médecins cubains esclavagisés) un article publié en février 2021. Il y était notamment question des conditions de travail des brigades médicales intervenant hors de Cuba. L’article évoquait des semaines de travail de 64 heures, une liberté de mouvement limitée dans le pays d’intervention ou encore la contrainte d’espionner des collègues. La rapporteuse spéciale de l’ONU sur les formes contemporaines d’esclavage critiquait ces conditions et n’excluait pas qu’elles soient assimilables à de l’esclavage. La correspondante de la NZZ n’a pas présenté cette position comme un fait, raison pour laquelle le Conseil de la presse ne fait aucun reproche explicite au contenu de l’article. Il en va autrement du titre, qui affirme que les médecins sont esclavagisés, portant atteinte à la «Déclaration des devoirs et des droits du/de la journaliste».

En ce qui concerne le calcul des horaires de travail, les indemnités journalières et les recettes que Cuba affiche au sujet des interventions des brigades médicales, la NZZaS précise bien que Cuba ne publie pas ces chiffres. Les chiffres indiqués sont cependant tellement contradictoires, de l’avis du Conseil de la presse, qu’une remarque explicative aurait été nécessaire. Au terme d’une discussion animée, le Conseil de la presse constate une omission de la rédaction sur ce point, mais pas une atteinte aux règles déontologiques de la profession.

Riassunto

«Medici cubani schiavizzati» si intitolava un articolo pubblicato dalla «NZZ am Sonntag» nel febbraio 2021. Oggetto del servizio le condizioni di lavoro delle «brigate mediche» che Cuba invia all’estero. Vi si parlava di settimana di lavoro di 64 ore, di limitazioni della libertà di movimento, di obbligo di spiare i compagni di lavoro. Sulle forme che la schiavitù assume nel nostro tempo si era espressa criticamente la relatrice speciale delle Nazioni Unite, non escludendo l’analogia di tali modalità d’impiego con certe forme di schiavismo. L’autrice dell’articolo non le presenta tuttavia come un fatto assodato e il Consiglio della stampa su questo punto non constata una violazione del codice professionale. Il titolo invece quella critica la assume pari pari, e questo costituisce una violazione del codice professionale. L’articolista descrive le tariffe giornaliere e le entrate che Cuba registra, precisando che il governo cubano non le fa sapere. Ma le cifre che cita sono contraddittorie al punto che lo si sarebbe dovuto farlo notare nell’articolo. Il Consiglio della stampa, tuttavia, questa omissione non la ritiene un’esplicita violazione del codice professionale. È il titolo che fa problema!

I. Sachverhalt

A. Am 7. Februar 2021 veröffentlichte die «NZZ am Sonntag» (nachfolgend NZZaS) den Artikel «Kubanische Ärzte versklavt», untertitelt mit «Havanna schickt Mediziner-Brigaden in alle Welt und kassiert dabei ab». Gezeichnet ist der Artikel von der NZZaS-Korrespondentin Sandra Weiss in Mexiko-Stadt. Der Artikel erwähnt die Nominierung der kubanischen «Henry-Reeve»-Brigade für den Friedensnobelpreis. Seit Jahrzehnten reise diese Gruppe von Ärzten um die Welt, um Länder mit schwachen Gesundheitssystemen zu unterstützen. So sei die Brigade im April 2020 auch in Italien im Kampf gegen die Corona-Pandemie im Einsatz gewesen. Diese Nomination gefalle jedoch nicht allen, schreibt die Korrespondentin und lässt die kubanische Dissidentin Yoani Sánchez zu Wort kommen. Es handle sich für die kubanische Regierung vor allem um ein Geschäft. Von dem, was die ausländischen Regierungen für die Einsätze bezahlten, erhielten die entsandten Ärzte und Ärztinnen selber nur 10 bis 25 Prozent. Genaue Zahlen gebe es jedoch nicht, da diese geheim und Verhandlungssache seien. Die Löhne der entsandten Ärzte seien jedoch immer noch um ein Vielfaches höher als der Durchschnittslohn eines Arztes auf Kuba.

Zu den Arbeitsbedingungen zitiert die Korrespondentin die NGO «Prisoners Defenders» und führt Wochenarbeitszeiten von 64 Stunden, eingeschränkte Bewegungsfreiheit, Einziehung des Passes am Einsatzort und Zwang zur Bespitzelung der Kollegen an. Der Uno-Sonderberichterstatter für Sklaverei bezeichne dies als ausbeuterische Bedingungen. Zitiert werden auch gerichtliche Klagen, darunter eine gegen den kubanischen Staat wegen Sklaverei, die am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag hängig sei.

Die Korrespondentin zitiert einen Tweet des kubanischen Staatschefs, wonach es sich um eine imperialistische Lüge handle, um Kubas Gesundheitsmissionen zu diskreditieren. Die Autorin resümiert: «Kuba rechtfertigt die Einbehaltung der Gehälter als Kompensation, weil der Staat die Ausbildung der Ärzte finanziert habe.»

B. Mit Schreiben vom 9. April 2021 reichte X. Beschwerde gegen diesen Artikel ein. Dieser stelle die Lage einseitig dar, beinhalte Falschaussagen und vermittle ein verzerrtes Bild der Realität in Kuba, insbesondere des Gesundheitssystems und der Einsätze der Ärzte im Ausland. Der Titel «Kubanische Ärzte versklavt» sei verleumderisch, beziehe eine Extremposition und suggeriere vermeintliche Fakten. Konkret beanstandet der Beschwerdeführer (nachfolgend BF) Verletzungen der Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») und der Richtlinie 3.1 zur Quellenbearbeitung.

Zu Ziffer 1 der «Erklärung» bemängelt der BF vor allem die Begriffe «Sklave» und «abkassieren». «Sklave» lasse sich überhaupt nicht belegen: Die betroffenen Ärzte würden mehr als der Durchschnitt verdienen, auch sei niemand zu dieser Ausbildung gezwungen worden. «Abkassieren» suggeriere, dass der kubanische Staat sich auf Kosten der Ärztebrigaden bereichere, was falsch sei. Das Gesundheitssystem sei wie überall teuer, jedoch für jeden und jede frei zugänglich. Die medizinische Ausbildung sei in Kuba kostenlos respektive staatlich finanziert.

Grundsätzlich vermisst der BF ein «objektives Narrativ». Der Artikel sei einseitig. Es werde zum Beispiel nicht erwähnt, dass die Uno die Brigaden 2017 mit dem «Lee-Jong-Wook-Preis» ausgezeichnet habe. Auch würden die schwierigen ökonomischen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel verschiedene Wirtschafts-, Finanz- und Handelsblockaden, nicht erwähnt. Und es werde auch nicht gewürdigt, unter welchen Umständen Kuba sein Gesundheitssystem aufrechterhalten müsse.

Zu Ziffer 3 der «Erklärung» bemängelt der BF einen Verstoss gegen Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung): Zur erwähnten Klage vor dem Internationalen Gerichtshof werde keine Quelle genannt und es fehlten Informationen zum Stand des Prozesses. Eine Quellenangabe fehle auch für die Behauptung, der Uno-Sonderberichterstatter über Sklaverei hätte einige Vorwürfe in seinen Bericht aufgenommen. Einen solchen Bericht gebe es gar nicht. Insgesamt sei die Quellenwahl einseitig und es gebe im ganzen Artikel keine andere, unabhängige Bewertung oder Aussage über die Einsätze der kubanischen Ärzte-Brigaden. Im Gegenteil werde über Stereotype versucht, Kubas Einsätze negativ darzustellen.

C. Mit Schreiben vom 18. Juni 2021 nahmen der Rechtsdienst und die Leiterin des Ressorts «International» der NZZaS Stellung und beantragten, die Beschwerde abzuweisen. Die Beschwerde beziehe sich weniger auf den Journalistenkodex als vielmehr auf die Verteidigung des kubanischen Staates. Betreffend die Wortwahl «Sklave» argumentiert die Beschwerdegegnerin (nachfolgend BG), es sei offensichtlich, dass die vom kubanischen Staat entsandten Ärzte nicht als Sklaven im engeren Sinne bezeichnet würden, sondern dass damit vielmehr sklavenähnliche Abhängigkeiten beschrieben würden. Die Redaktion räumt ein, dass der Titel wohl pointiert sei. Im Zusammenhang mit dem Ärzteexport weise «das kubanische Gesundheitssystem jedoch Arten von Zwangsarbeit und Ausbeutung» auf, weswegen die Wortwahl im Rahmen einer journalistischen Einordnung durchaus zulässig sei.

Betreffend den Vorwurf der einseitigen Berichterstattung weist die BG darauf hin, dass private Medien nicht zu einer ausgewogenen und politisch neutralen Berichterstattung verpflichtet seien. Die NZZaS berichte «als deutschsprachiges Qualitätsmedium aus liberaler und westlicher Perspektive, analysiert Fakten und ordnet diese nach eigenem Ermessen ein».

Betreffend der Quellenbearbeitung gibt die Redaktion an, die Korrespondentin sei auf Informationen aus zweiter Hand beziehungsweise auf Agenturmeldungen angewiesen, da die kubanische Aussenhandelsstatistik nicht veröffentlicht werde. Daher rühre auch die Quellenbezeichnung, «Ökonomen» hätten die Einnahmen geschätzt. Zudem weist die BG darauf hin, dass aus Platzgründen und zwecks Lesbarkeit in einem journalistischen Artikel nicht jede Quelle erwähnt werden könne.

D. Mit Schreiben vom 12. Oktober 2021 teilte der Presserat den Parteien mit, dass die Beschwerde von der 1. Kammer des Presserats behandelt wird, bestehend aus Susan Boos (Präsidentin), Luca Allidi, Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka, Francesca Luvini und Casper Selg.

E. Die 1. Kammer hat die Beschwerde in ihrer Sitzung vom 30. November 2021 und auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

Der Presserat ist für die Beachtung der berufsethischen Normen in journalistischen Beiträgen zuständig. Auf allfällige Beanstandungen, die politische Einschätzungen betreffen, geht er nicht ein.

1. Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung» verpflichtet Journalisten und Journalistinnen, sich an die Wahrheit zu halten und sich vom Recht der Öffentlichkeit, die Wahrheit zu erfahren, leiten zu lassen.

Der Beschwerdeführer macht geltend, es handle sich um einen einseitigen Bericht, der sich nicht um Ausgewogenheit respektive eine objektive Perspektive bemühe. Das mag sein – spielt aber insofern keine Rolle, als private Medien, wie die NZZaS zu Recht anmerkt, nicht zur Ausgewogenheit verpflichtet sind; auch einseitige, parteiergreifende Berichterstattung ist grundsätzlich zulässig. Bei Kontroversen genügt es, die verschiedenen Auffassungen zu Wort kommen zu lassen (vgl. Stellungnahme 7/2006), wobei den unterschiedlichen Positionen nicht zwingend gleich viel Platz eingeräumt werden muss. Demzufolge liegt kein Verstoss gegen Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung» vor.

Des Weiteren bemängelt der BF unter Ziffer 1 (Wahrheit) die Verwendung des Wortes «Sklave» im Lauftext und vor allem im Titel sowie den pejorativen Begriff «abkassieren». Der BF argumentiert, «Sklaverei» sei nicht zutreffend, da es sich um freiwillige Einsätze handle. Die Regierung begründe die Einbehaltung eines Teils des Lohnes damit, dass mit den Geldern ein Teil der Kosten für das staatlich finanzierte Studium kompensiert würde. Dies wird im Artikel auch erwähnt. Die BG rechtfertigt ihrerseits den Begriff «Sklaverei» unter anderem mit dem Bericht der UNO-Sonderberichterstatterin (November 2019) und auch mit einem Entschliessungsantrag im Europäischen Parlament (B9-0341/2021). In keiner dieser Quellen wird allerdings Sklaverei oder ein sklavereiähnlicher Zustand klar attestiert, sondern es wird vielmehr nicht ausgeschlossen, dass es sich darum handeln «könnte». Damit lässt sich der Quelle nur eine Vermutung, aber keine Tatsache entnehmen. Im Artikel selber wird denn auch nur über Anzeichen für «sklavereiähnliche Zustände» berichtet. Deshalb sieht der Presserat im Text keinen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht.

Anders verhält es sich mit dem Titel, der aktiv behauptet: «Kubanische Ärzte versklavt». Gemäss langjähriger Praxis erachtet es der Presserat als zulässig, einen Sachverhalt im Titel stark zuzuspitzen, wenn er dadurch auf den Punkt gebracht wird. Dies aber nur, wenn in unmittelbarer Umgebung, zum Beispiel im Untertitel, eine Präzisierung stattfindet. Das ist hier nicht der Fall. Der Untertitel «Havanna schickt Mediziner-Brigaden in alle Welt und kassiert dabei ab» relativiert die Schlagzeile nicht, womit eine unbelegte Tatsachenbehauptung stehen bleibt. Damit verletzt die NZZaS mit dem Titel die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung».

Beim Wort «abkassieren» sieht der Presserat hingegen keinen Verstoss gegen den Journalistenkodex. Die pejorative Konnotation dieses Begriffs erachtet er – im Rahmen einer journalistischen Einordnung – als zulässig, da der kubanische Staat unbestritten den grösseren Teil des Lohnes einbehält.

2. Die Richtlinie 3.1 (Quellenbearbeitung) zur «Erklärung» verlangt die Überprüfung der Quelle und ihrer Glaubwürdigkeit sowie deren Bezeichnung.

Betreffend die Erwähnung einer Klage vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag bemängelt der BF, dass keine Quelle angegeben sei. Die BG führt pauschal an, dass für journalistische Artikel bezüglich Quellen nicht dieselben Regeln gelten würden wie für wissenschaftliche Beiträge. Das trifft grundsätzlich zu. Weil sich Informationen zur fraglichen Klage aber nicht ohne Weiteres finden lassen, wäre eine Quellenangabe allenfalls wünschbar gewesen. Da diese einzelne Feststellung die Aussage des Artikels jedoch nicht signifikant ändert, sieht der Presserat darin keinen Verstoss gegen Richtlinie 3.1.

Im Artikel wird erwähnt, der kubanische Staat nehme mit dem Ärzteexport jährlich zwischen sechs und elf Milliarden Dollar ein. Die Quellen, die die NZZaS dazu aufführt, plausibilisieren höchstens die Zahl von sechs Milliarden Dollar im Jahr 2018. Die Begründung für die Einschätzung «bis elf Milliarden» bleibt die BG der Leserschaft allerdings schuldig, der angeführte Nachweis für den Zeitraum von 2011 bis 2015 geht sogar nur von 11,5 Millionen Dollar jährlich aus (Jornada, 18-4-2017). Die erwähnten Zahlen sind in einem Masse widersprüchlich und unplausibel, dass mindestens eine klärende Bemerkung vonnöten gewesen wäre. Der Hinweis darauf, dass Kuba die Zahlen nicht veröffentliche, reicht dabei nicht aus. Nach eingehender, kontroverser Diskussion stellt der Presserat zwar einen unsorgfältigen Umgang mit Zahlen fest, sieht aber angesichts der widersprüchlichen Quellenlage von einer Rüge ab.

III. Feststellungen

1. Der Presserat heisst die Beschwerde teilweise gut.

2. Die «NZZ am Sonntag» hat mit dem Titel «Kubanische Ärzte versklavt» gegen Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.